Rezension

Citizen Science – Das unterschätzte Wissen der Laien

15.05.2014 - Dr. Burkhard Luber

„Ich bin zwar nur Laie, aber ich möchte mal Folgendes sagen.“ Dieser Satz kommt uns bekannt vor. Gehört haben wir ihn sicher schon öfter, vielleicht auch selber benutzt. Peter Finke dreht in seinem Buch das Argument um: Der Laie ist kein sog. „Nur Laie“, sondern hat ein großes Potenzial, sich selber Wissen zu erarbeiten, was mit dem traditionellen Wissenschaftsbetrieb durchaus angemessen konkurrieren kann. Ja, das Laien-Wissen („Citizen Science“) kann sogar die etablierten, verkrusteten Machtstrukturen in der Gesellschaft überwinden.

„Im Elfenbeintum“, „l´art pour l´art“, „weltfremd“ – die kritischen Argumente gegen den herrschenden Wissenschaftsbetrieb sind zahlreich und allgemein bekannt. In seinem Buch setzt sich Peter Finke nicht punktuell, sondern grundsätzlich mit der universitären Wissenschaft auseinander. „Citizen Science“ soll die Wissenschaftsgrenze für Nichtprofis auch in der Forschung durchlässiger machen und dadurch die Rückkehr der Wissenschaft in die Mitte der Gesellschaft bewirken. Klassische, traditionelle Wissenschaft (bei Finke „Professional Science“ genannt) ist schon seit längerem in Schieflage geraten: Durch rigide Institutionalisierung, einen bestimmten Typus von Wissenschaftlern (in einigen Ländern mit Beamtenstatus), Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik. Diese Verfasstheit verwässert zunehmend die eigentlich notwendigen Lehr- und Forschungsaufgaben. Demgegenüber will Citizen Science das Laienwissen aufwerten. So, wie eine aufwändige Bergbesteigung nicht nur aus den Gipfelstürmern besteht, sondern viele Sherpas benötigt, die wichtige Ausrüstungsgegenstände in die Basislager tragen, so trägt Citizen Science mit ihrer Beschränkung auf grundlegende und einfache Forschung auf vielen lebenspraktisch relevanten Gebieten dazu bei, dass Wissenschaft auch in der Gesellschaft ankommt.

 

Die häufigsten Wissensfelder von Citizen Science liegen im Bereich von Natur und Umwelt, aber auch die Auseinandersetzung mit aktuellen interkulturellen und sozialen Problemen, mit den Krisen der Wirtschaft und ein Sich-Wehren gegen die Fetische unserer Zeit (Geld, Markt, Fortschritt) und das Bemühen um die Weiterentwicklung unserer Demokratie gehören zu den Themenbereichen von Citizen Science. Wie das Wort „Citizen“ andeutet, ist solche Bürgerwissenschaft meist lokal/regional verankert: In Netzwerken, die Veränderungen der Umwelt beobachten und dokumentieren, vergessene kulturelle und sprachliche Traditionen wiederentdecken, sich um das Wissen fremder Kulturen und die Integration von Migranten kümmern oder Fragen der sozialen Armut und der Gesundheit bearbeiten. Aber auch musikalische und künstlerische Initiativen sind in der Citizen Science zu finden.

 

Nach Finke ist Citizen Science keinesfalls etwas völlig Neues, sie hat ihren Ursprung in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und nimmt mit dem Internet in unserem Jahrhundert einen neuen Aufschwung (besonders eindrucksvoll im Wikipedia-Projekt). Der Autor nennt zwei Philosophen als Wegebereiter: Immanuel Kant mit seinem Aufruf, dass der Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und sich in Eigenverantwortlichkeit seiner Vernunft bedienen soll. Zum anderen Paul Feyerabend mit seinem Engagement für eine freie („anarchistische“) Wissenschaftsmethodologie.

 

Was sind die Kennzeichen von Citizen Science? Ihre Akteure sind nicht die in engen Spezialthemen denkenden Professional Scientists, sondern die Laien. Da wir außer im Bereich unserer beruflichen Qualifikation fast überall Laien sind, ist es naheliegend, dass wir in vielen Gebieten unsere Rationalität einsetzen. Nur mit einer solchen Laienrationalität können wir das Leben überhaupt bewältigen. Spätestens hier leuchtet ein, warum Finke den Begriff der Wissenschaft nicht auf den klassischen universitären Bereich beschränkt. Je nach Blickwinkel sind wir alle sowohl Laien als auch Wissenschaftler.

 

Wie geht Citizen Science vor? Sie ist besonders gut in der lebensnahen Beschreibung von Fakten, im Liefern einfacher und situationsabhängiger Erklärungen und hat oft auch ein Motiv oder eine Perspektive für eine praktische Nutzanwendung. Finke nennt vier Themenfelder der Citizen Science, die ihr Erkenntnisinteresse markieren:

„Nähe“: Während Professional Science meist unabhängig von persönlichen Lebenssituationen „drauflos forscht“, ist der Ausgangspunkt für Citizen Science die Erfahrungsnähe und lokale oder regionale Aspekte.

 

„Keine rigide Grenzziehung“: Citizen Science entzieht sich der einseitigen Wahr-Falsch-Logik und dem Schwarz-Weiß-Denken. Citizen Science favorisiert die Logik des Übergangs, wo die Grenze zwischen dem Einen und dem Anderen nicht klar definiert werden kann. Citizen Science schärft unseren Blick für Zonen und Übergänge, anstatt die Welt nach scharfen Linien und Grenzen zu strukturieren.

 

„Zusammenhänge erkennen“: Die Klage über die Fraktionierung der modernen professionellen Wissenschaft ist ein Gemeinplatz geworden und zwar nicht nur zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch innerhalb der Disziplinen. Citizen Science strukturiert sich anders. Sie denkt nicht in Disziplinen sondern in Wissensfeldern. Sie hat größere Zusammenhänge im Blick und ist offen für Komplexität. Sogar die Intuition, ein in der Professional Science eher belächelter Begriff, bekommt hier ihren Stellenwert.

 

„Kreativität“: Professional Science hat sich dem Genauigkeitsfetischismus verschrieben. Wer aber seine Kraft darauf verwendet, auch noch die soundsovielte Stelle hinter dem Komma zu berechnen, muss sich nicht wundern, dass ihm der Blick für Zusammenhänge verloren geht. Übertriebene Genauigkeit und Detailbesessenheit mündet dann in mangelnde Relevanzorientierung. Damit geht Kreativität verloren. Citizen Science leugnet nicht die Wichtigkeit von Exaktheit, aber sie fragt immer auch nach den Grenzen von Rationalität und sie versucht das rechte Maß zwischen Wissensrelevanz und Wissensgenauigkeit zu finden.

Natürlich überlappen sich Professional Science und Citizen Science in vielen Bereichen, so z.B. beim grundlegenden Vorgehen jeder Wissenschaft: Beobachtung, Problemwahrnehmung, Systematisierung, Hypothese, Versuch der Objektivierung. Citizen Science zeichnet sich darüber hinaus aber auch durch folgende zusätzliche Funktionen aus:

 

Ergänzungsfunktion: Citizen Science kann sich auf Gebieten um Wissensgewinnung bemühen, die von der professionellen Wissenschaft vernachlässigt werden.

 

Übersetzungsfunktion: Citizen Science kann Ergebnisse professioneller Wissenschaft, die in der Regel fachsprachlich formuliert und somit für Außenstehende schwer zu verstehen sind, auf allgemeinverständliche Weise wiedergeben.

 

Orientierungsfunktion: Wenn Spezialisten nur an Details interessiert sind, kann Citizen Science Verbindungen, übergreifende Gesichtspunkte und Querbezüge herstellen.

 

Kontrollfunktion: Citizen Science kann einseitige Expertisen relativieren. Die wachsende Macht der Experten und die Zersplitterung ihres Expertenwissens ist zu einer der größten Gefahren unserer Zeit geworden. Nur das Laienwissen kann sich nach Meinung Finkes dagegen behaupten und unsere Zukunftsfähigkeit durch Zivilcourage sichern.

 

Die Stärken der Citizen Science sieht Finke besonders in ihrer institutionellen Ungebundenheit und dass ihre Akteure nicht auf den Beifall einer „scientific community“ angewiesen sind, sondern sich auf lebensnahe Themen konzentrieren, die ohne allzu viele Voraussetzungen zugänglich sind. Trotzdem ist der Autor auch nicht blind für die Grenzen der Citizen Science: Überall da, wo Wissenschaft ein hohes Abstraktionsniveau erreicht hat oder sehr stark Geräte- oder Laborabhängig ist, kann Citizen Science nicht mithalten. Und es fehlt die in der klassischen Wissenschaft vorhandene Kontrollebene als Korrektiv möglicher Fehler. Weitere Schwächen sind eine unterentwickelte Theoriebildung und durchweg regionale Begrenztheit der Projekte von Citizen Science.
Ungeachtet solcher Grenzen sind die Stärken von Citizen Science überzeugend: Während in der Professional Science vor allem die innerakademische Diskussion, sehr oft aber auch das Geld der Auftraggeber die Forschungsthemen bestimmen, sind die hauptsächliche Motivation für Citizen Science Fragen, die die Menschen direkt und persönlich interessieren oder was ihnen in ihrem Lebensumfeld besonders auffällt. Professional Science ist, zugespitzt formuliert, wirklichkeitsfern, Citizen Science wirklichkeitsnah. In der Professional Science überwiegen abstrakte Dinge (der Wissensstand der Disziplin). Citizen Science wird von Menschen gemacht, bei ihr überwiegt das Konkrete. In der Professional Science bleibt das Wissen oft sehr weit entfernt vom Handeln. In der Citizen Science sind die Forscher oft in einer Person Aktivisten; das Handeln motiviert zum Forschen.  

 

Private Wissensmotive und Liebhabereien spielen in der Citizen Science eine große Rolle. Finke nennt fünf Hauptmotive, aus denen heraus Projekte der Citizen Science entstehen können:


Entdecken und Erhalten: Klassisch ist hier die Vogelbeobachtung, aber auch die Kultivierung von Pflanzen und die Haltung von Tieren und die Lust am Entdecken verborgener Schätze in (lokaler) Geschichte, Kunst, Musik oder Sprache. Schließlich auch das Bestreben zum Erhalten der eigenen Gesundheit (Beispiel: Selbsthilfegruppen).

 

Sammeln und Spielen: Die Sammel-Gebiete sind unerschöpflich: Gesteine, Pilze, Fotos, Dokumente der Kultur und Geschichte. Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat das Projekt „Zooniverse“ erlangt, wo über 80.000 Hobbyastronomen online versammelt sind.

 

Und zu diesen vier Motiven tritt noch ein besonders gesellschaftsrelevantes: Das bürgerschaftliche Engagement von Citizen Science. Hier präsentiert Finke eine große Palette von Aktivitäten unter den Etiketten Naturschutz, Technik, Geschichte, Sprache, Literatur, öffentliche Wohlfahrt, Wirtschaft und Geld, Nachhaltigkeit, Zusammenleben von Jung und Alt. Es  würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, näher auf die präsentierten konkreten Beispiele einzugehen. Hier nur soweit: Das Spektrum umfasst gleichermaßen BUND und NABU, Regionalwährungen, die AKW-Bewegung, Vereine für Lokalgeschichte, Greenpeace, „Bewegungen“ wie Transition Town, Urban Gardening, Repair Movement, Seniorengenossenschaften, Medico-International, Amnesty International. Bei diesen Aktivitätsfeldern von Citizen Science fällt auf, dass gerade Protestbewegungen von sog. „Wutbürgern“ meist ihren Anfang als Gemeinschaften von Wissensbürgern genommen haben, eben genau im Umfeld von Citizen Science. Das, was Citizen Scientists durch eigene „Laien“-Recherchen herausgefunden haben, wollen sie dann auch aktiv in den politischen Entscheidungsprozess einbringen. Der Protest gegen Stuttgart 21 ist dafür ein gutes Beispiel.

 

Bei dem großen Stellenwert, den Finke der Laienforschung beimisst, ist es nicht verwunderlich, dass er auch deren finanzielle Förderung anspricht. Und es erstaunt den Leser nicht, dass Finke für eine Förderung von Citizen Science plädiert, die konträr zur Geldvergabe in der Professional Science ist: Also keine monumentalen Projekte, die von Ministerien oder Firmen von oben an die Wissenschaft heruntergereicht werden, sondern eine „bottom-up-Förderung“, die direkt bei den Akteuren von Citizen Science ansetzt. Dies ist allerdings ein komplizierter Weg, da Citizen Science nicht klar organisiert ist und keine festen Verwaltungsstrukturen aufweist. Unmöglich ist es aber nicht, meint Finke. Wobei seine Schätzung des geplanten Mittelbedarfs, Citizen Science als ernst zunehmenden Faktor unserer Gesellschaft ins allgemeine Bewusstsein zu heben, vielleicht doch etwas utopisch ist. Finke beziffert ihn mit rund 60 Millionen Euro und den Bedarf für eine wirklich flächendeckende Förderung auf das Zehnfache.

 

Für Finke ist Citizen Science die große Chance, sich dem überhandgenommenen Machtdenken in der traditionellen  Wissenschaft entgegenzustellen, denn Laien sind nicht machtorientiert. Und Citizen Science kann auch dominante Mythen wie Markt, Jugend und Geld überwinden.

 

Peter Finke ist ein kühner Denker. Sein Buch ist ein großer Wurf, denn es geht über die bloße Kritik an der Professional Science hinaus. Finke versteht das Wissen der Laien als demokratisches Potential, das nicht nur akademische Arroganz infrage stellen, sondern auch die Machtstrukturen in der Gesellschaft überwinden kann. Und das ganz in der Tradition Kants: Benutze deinen eigenen Verstand!

 

 

 

Peter Finke: "Citizen Science – Das unterschätzte Wissen der Laien"

Oekom Verlag, 239 Seiten, 2014, Hardcover, 19.95 Euro

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen