Kurzgeschichte

Der Lügner - Prolog

15.03.2014 - Cihan Köse

Und die Hand fällt einfach nur noch auf den Wecker. (Gäähhhhhhn) „Oooooohh….! Unnötig!‘“ Ich muss hier raus! Zu wenig Schlaf, zu viel Nacht – zu viel Dinge zum Vergessen, zu wenig Zeit um zu vergessen. Jetzt auch noch zu spät wach, Kaffee, Tee oder Saft - alle! Brot - trocken, Geschirr - ungespült, Lärm von der Straße, Getrampel im Flur, Katzengejaule, Hundegebelle, die Tür klingelt, zu viel fürs Gehirn!

Tür geht auf, Mitbewohner rein, nimmt deine Jacke, Tür zu, Mitbewohner weg, Jacke weg.  Aufstehen, in den Flur, weitergehen, in die Küche, Aschenbecher, Zigarettenreste, keine Kippen, kein Geld, „Ufffff!“ Schnorren müssen, Leute nerven, ich sie, sie mich. Frühstück – Ausfall, Mittagsbrot – Ausfall.


Ab ins Bad, Wasserhahn, kaltes Wasser ins Gesicht - dumm gelaufen, heißes Wasser im Gesicht, Volltrottel! Aufschreien, Betreuer kommt:  „Verpiss dich!“.  
Anziehen, Hose zerknittert, Socken grau, waren mal weiß, T-Shirt, Kurt Cobain? Nein! Che? Nein! “Fu*! The World!“ ? Ja! Jacke rüber, *Reisverschlussgeräusch*, Schuhe, Größe  42,  seit 3 Wintern getragen, trotzdem reinquetschen, Kapuze rüber, Tür auf, Ziese an, Treppenhaus, Tür zu.

Zum Bus! Im Bus: ‚Gesocks, nur Gesocks um mich.‘  Platzsuche: Suchen….finden….fokussieren…und los! Letzte Reihe! Perfekt! Alles im Überblick. MP3-Player, 256 MB, 70 Songs, Eminem? Nein! Toten Hosen? No! House?! Unter einer Bedingung: Volume= Max! Sound dröhnt! Equalizer auf Bass! ‚Ja man!‘
Kurze Abstände: Boom, boom, boom, boom…. ‚Alles klar!‘ Mutter mit Kind guckt genervt! ‚Pech! Dies ist ein freies Land und ich kenne meine Rechte! ‘ Iiiii…Pappmaul. Ekliger Geschmack auf der Zunge. Alles im Mund Sammeln……. und gaaaaanz langsaaaaaaaaaam raus damit zwischen meine Beine auf den Boden tropfen lassen.


Noch 8 Station. Faustgroße Regentropfen knallen mit nur 1km/h gegen die Busscheibe. Meine Augen nehmen grade alles in absoluter Zeitlupe wahr. Die zerspringenden Tropfen auf der Scheibe, den Mund der Mutter, die irgendwie ihren Sohn belehrt, die Spuckefütze auf dem Boden, die langsam und klebrig weiterläuft. Die Zeit zum Nachdenken.


Seitdem ich dort war habe ich das Gefühl, dass ich jetzt erst so merke, was gestern überhaupt geschehen ist. Ich höre immer noch die alte, brüchige Männerstimme die nichtsahnend mich hereinbat. Noch immer nehme ich das Pumpen meines Herzen von gestern war…. Jede Bewegung die von mir vor, beim und nach dem Öffnen der Tür kam, jede davon war hochkonzentriert. Das Gewicht der Tür beim Öffnen lag bei gefühlten 900 Kilo. Millimeter für Millimeter öffnet sie sich, klischeehaftes Horrorfilmgeräusch als Begleitung, Tunnelblick, angucken, er weiß, warum ich hier bin. Sein Versuch, unwissend zu wirken und Zeit zu gewinnen, schlägt fehl. Unsere Gesichtsausdrücke müssen uns verraten haben. Mein Hand verlässt extrem schnell und dennoch absolut langsam die Tasche meiner Jacke – sie zittert, aber unterzuckert bin ich nicht, sie schwitzt, aber Sibirien herrscht in mir drinnen. Die Pupillen müssen absolut abwesend aussehen, zwei minimalkleine schwarze Punkte auf pechbraunen Flecken, vielleicht habe ich sogar kurzzeitig geschielt; keine Ahnung mehr. Auf jeden Fall war alles kurzzeitig verschwommen. Nachdem meine Hand binnen einer unendlichen langen Sekunde immer mehr aus meiner Jackentasche kam *puff*.
Erst mal ganz tief durchatmen. Was war das gestern? Ich falte die Hände vorm Gesicht, beide Daumen unters Kinn, die Nase schiebe ich zwischen die gefalteten Hände. Blinzele drei Mal kurz hintereinander, dann ein starrer Blick, leer und geradeaus. Ich atme tief und langsam ein, Augen sind zu, Bilder von gestern, alles kommt hoch, ganz schnell, ich fühle alles, sehe alles. Die Angst! Ich bin in ihm drin: Dieser Blick, der Verrät, dass es das jetzt war. Das ganze Weglaufen und Verstecken war umsonst… Wie sagt man so schön: ‚Der Schleier fällt‘ oder so. Augen auf, zurück im Bus, Herz rast, Bewusstsein, Angst, Panik, alle beobachten mich, alle wissen es, alle sind gegen mich. Drücke wie wild, damit der Bus hält, springe auf, atme laut, Brustkorb hoch und runter, durchquetschen, fange an zu schreien. Wahrnehmung der Bepöbelungen gleich null, Mutter zieht ihr Kind zu sich, Augen zuhalten, wie wild auf Halteknopf weiter drücken, weiter quetschen, Atmung immer schneller, Puls immer härter, Erinnerung immer mehr vorhanden, Enttäuschung, Angst, Stolz, Panik, Rauschzustand. Bustür auf: Hände an die Knie, Oberkörper vorgebeugt und alles auskotzen.


Ich habe mal in einem Artikel gelesen, dass Menschen aus Selbstschutz Verdrängungsmechanismen haben sollen. Böse Erinnerungen sind weg, zwar nicht ganz, aber dennoch oberflächlich weg. Vielleicht auch Schizophrenie? Ich muss wohl auch jemanden in mir haben, der mir in bestimmten Situationen zur Seite steht oder mich vertritt.

 

 

 

 

Foto: © Spencer Blackwood

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