Identitätskrise

Der Wandel von Wissenschaft und Gesellschaft

01.10.2016 - Lars Jaeger

„Es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass ihre Entdeckungen außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind. Eine theoretische Wissenschaft, die sich nicht dessen bewusst ist (…) wird zwangsläufig von der übrigen Kulturgemeinschaft abgeschnitten sein“

So schrieb im Jahr 1952 einer der Väter der Quantenphysik, Erwin Schrödinger. Und tatsächlich geraten die Naturwissenschaften heute immer stärker in das Scheinwerferlicht des öffentlichen kulturellen und politischen Diskurses, vor allem aufgrund ihrer enormen Bedeutung als Triebkräfte des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Denn mit Atomenergie, Nanotechnologien, Genetik, Hirnforschung und zahlreichen weiteren technischen Disziplinen dringt sie immer weiter in Bereiche vor, die uns vor fundamentale ethische Fragen stellen. Nicht wenige Wissenschaftler sind überrascht, dass sich die diskursiven Regeln, denen sie sich in diesem Prozess ausgesetzt sehen so ganz anders darstellen als auf ihrem eigenen Feld. Doch standen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen nicht schon immer in enger Beziehung zur Gesellschaft, in der sie stattfinden, beeinflussen diese und werden von ihr beeinflusst, wie Schrödinger schreibt?

Zugleich stehen die Naturwissenschaften heute selbst inmitten von bedeutenden methodischen Umbrüchen. Naturphänomene immer größerer Komplexität, die sich den klassischen Labor- und Experimentalwissenschaften längst entziehen, werden mit zunehmender Genauigkeit auf Computern mathematisch modelliert und in ihrem Verhalten somit berechnet anstatt vermessen. So ist neben dem Experiment und der Theorie die numerische Simulation längst zur dritten Säule der wissenschaftlichen Forschung geworden. Bereits bestimmen auf Computern abgebildete Klimamodelle die gesellschaftliche und politische Diskussion zur Klima- und Umweltpolitik. Und mit immer komplexeren Experimenten wie dem LHC am CERN, dem Plasma-Fusionsreaktor ITER oder dem „Human Brain Project“ entsteht eine gewaltige Menge an Daten und Simulationsergebnissen, die nur mit Hilfe geeigneter Computertechnologie aufge- und verarbeitet werden kann.


Und noch zwei weitere bedeutende Entwicklungen lassen sich innerhalb der wissenschaftlichen Welt beobachten: Erstens, ein enormer Anstieg in der schieren Anzahl von Wissenschaftlern. Heute gibt es 10- bis 20-mal so viele Naturforscher als noch vor 50 Jahren. Ein solches Wachstum führt unweigerlich zu einer Wesensveränderung wissenschaftlichen Schaffens. Zweitens, Wissenschaft wird immer mehr in Großprojekten betrieben, in denen viele Forscher vernetzt zusammenarbeiten. Große Forschungseinrichtungen beeinflussen die Forschungslandschaft und laufen der traditionellen, durch individuelle Wissenschaftler betriebenen Wissenschaft zunehmend den Rang ab. Das romantische Bild eines einzelnen Genies, das ungestört in Abgeschiedenheit eines Labors oder Schreibtischs nach ebenso leidenschaftlichem und wie zähem Ringen und plötzlichen Geistesblitzen zu bahnbrechend neuen Erkenntnissen gelangt und diese dann einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert, stellt im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb des 21. Jahrhunderts nur noch eine seltene Ausnahme dar.

Beide Trends führen dazu, dass Wissenschaftler und ihre Institute heute offen um viele Milliarden Euro buhlen, die jährlich vom Staat an Hochschulen und Forschungseinrichtungen verteilt werden. Dies hat so manchen gestandenen Wissenschaftler zu einem hauptberuflichen Finanz- und Projektmanager werden lassen. Dabei geht es nicht zuletzt um Macht, Einfluss, Politik und Prestige. Wer meint, das Geschäft des wissenschaftlichen Arbeitens und Publizierens laufe immer nach rein sachlichen, ‚wissenschaftlichen‘ und objektiven Kriterien ab, versteht den modernen Wissenschaftsbetrieb kaum. Denn wundert sich die Welt zuweilen um die Selbstdarstellungssucht von Schauspielern oder Wirtschaftsführern, so stehen selbst gestandene Wissenschaftler diesen allzu oft um wenig nach, wenn es um diese niederen Regungen des menschlichen Gemüts geht. Zuletzt sind es menschliche Charakterzüge, die auch Wissenschaftler ausmachen. Sie gehen einher mit Neigungen und Abneigungen, Egos und Allüren, Ehrgeizen und Karrieresehnsüchten, Neid und Eifersüchteleien. Wo es derart menschelt, können wir nicht erwarten, dass die Auswahl bei der Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten oder die Annahme oder Ablehnung eingereichter wissenschaftlicher Arbeiten immer objektiven Qualitätskriterien entspricht. So entsetzt viele Wissenschaftler zuweilen gar die Feindseligkeit, mit der viele Gutachter die zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripte ihrer Kollegen zerreißen. Sie tun dies zuweilen in einer Manier, die dem Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki zur Ehre gereicht hätte. Und wer schon einmal eine Bewerbung für eine wissenschaftliche Projektförderung ausgefüllt (oder zwischen Bewerbungen ausgewählt) hat, wird eine deutsche oder US-amerikanische Steuererklärung im Vergleich dazu als geradezu übersichtlich und zugänglich empfinden.

Steigende Komplexität der wissenschaftlichen Probleme, mangelnde Sorgfalt aufgrund des Karriere- und Konkurrenzdrucks, ein gnadenloser und unbarmherziger Publikationszwang, der zu immer mehr Quantität auf Kosten der Qualität führt, finanzielle und nicht zuletzt kommerzielle Interessen bis hin zu offenen Interessenskonflikten, in Netzwerken implizit (und explizit) geförderter Konformismus, nicht zu schweigen von handfesten militärischen und sicherheitstechnischen Verwicklungen… die Liste ernüchternder Begleiterscheinungen des modernen Wissenschaftsbetriebs ließe sich fortführen.

Eine noch nähere und grundlegendere Betrachtung der naturwissenschaftlichen Methodik und ihrem Wandel verrät aber noch mehr. Denn in ihr lässt sich zuletzt die Entwicklung eines radikalen Wandels im Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften der letzten 100 Jahre erkennen. Und dieser besitzt eine tiefe Bedeutung für die gesellschaftliche Diskussion um ihre Erkenntnisse und ihr Wirken. Die historischen Anfänge der Naturwissenschaften liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern, den antiken Naturphilosophen vor Sokrates, entstanden die Grundlagen einer Metaphysik, die nach den letzten Gründen und Zusammenhängen suchte, die hinter den Phänomenen der Natur liegen. Ungeachtet der philosophischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Gedanken eines absoluten und letzten Wissens von der Natur ergaben, hielt sich dieser intellektuelle Antrieb bis in die Neuzeit. Er motivierte Kepler in seiner Planetenlehre, galt Newton als Grundlage für sein mathematisches System der Mechanik und ließ die Physiker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Einheit der Naturwissenschaften träumen. Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – die ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur im Transzendenten jenseits des sinnlich Erfahrbaren finden kann. Erst mit der Entstehung der modernen Physik beschleunigte sich ein Prozess, in welchem die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung mit Bayesianisch geprägtem Methodenrahmen zurückgedrängt wird. Bekannte Beispiele sind die Ersetzung von Newtons Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit in der Relativitätstheorie oder der neue Objektbegriff in der Quantenphysik, sowie die heute zentrale Bedeutung des Begriffs der Information in Evolutionstheorie und Genetik, den beiden Pfeilern der modernen Biologie.

Die Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie die Quantenphysik betrieb, lässt sich ohne weiteres als eine der größten philosophischen Einsichten des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Wir erkennen, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums vom universell Wahren gewinnt. Dazu kommt die Einsicht, dass unsere Betrachtung der Natur nicht ein von uns selbst losgelöster, subjektunabhängiger Prozess ist. Zusammenfassend können wir sagen: Die Naturwissenschaft hat sich „ent-absolutiert“. Sie sucht nicht mehr nach dem Absoluten.

In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und Machtlegitimation erkennen, worauf Karl Popper bereits von 75 Jahren hinwies. Noch jedes Mal, wenn die Menschen glaubten, sie hätten die perfekte Gesellschaftsform gefunden, endeten sie in der Erstarrung eines despotischen Absoluten. Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren. Entsprechend befinden sich auch politische Entscheidungsprozesse (wie wissenschaftliche Erkenntnisse) in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich ihre Träger immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. Eine Regierungsform, in der Macht ihr Wirken korrigieren und sich demokratisch rechtfertigen oder gar abwählen lässt, ermöglicht eine ganz andere gesellschaftliche Dynamik als autoritäre Regierungsformen. Der Weg echten Fortschritts verläuft somit über die andauernde Korrektur falscher Entscheidungen. Dies löste in den offenen, anti-autokratischen und demokratischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts letzthin eine unübertroffene gesellschaftliche Wachstums- und Wohlstandsentwicklung aus. Wie die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigierbar und erweiterbar ansieht, ermöglichtem die „offenen Gesellschaften“ (Popper) eine letzthin historisch beispiellose moderne Fortschrittsdynamik. Die Parallelität beider Entwicklungen ist kaum zufällig.


Ein neuer wissenschaftlicher Pragmatismus zeigt sich besonders deutlich im Wesen der heutigen theoretischen Physik. Noch in den 1920er und 1930er Jahren erwuchsen die Einsichten der Physiker einem langen und intensiven Nachdenken über Grundbegriffe wie Raum, Zeit, Materie, Kraft und Bewegung. Erst als sie diese Fragen für sich geklärt hatten, benutzten sie die Mathematik, um ihre Theorie in die geeigneten Formen zu bringen. Einstein und seine Kollegen verstanden ihre Tätigkeit als Teil einer umfassenderen philosophischen Tradition, in der sie zuletzt auch ihre geistige Heimat sahen. Die heutige theoretische Physik dagegen ist dominiert von einem eher pragmatisch-nüchternen, bis hin zu einem instrumentalistischen Stil, der sich in den 1940er- und 1950er-Jahren aus der angelsächsisch-amerikanischen Wissenschaftstradition herausgebildet hat und eher auf mathematische Virtuosität setzt als auf die Fähigkeit, schwierige begriffliche Probleme tief zu durchdenken. „Shut up and calculate“, heißt es in einer pointierten Beschreibung dieses Stils durch den Physiker David Mermin. Erwin Schrödinger, aber auch sein Freund und Weggefährte Albert Einstein, wird sich angesichts dieser Aussage vielleicht im Grab umdrehen.

Epistemologische und ethische Dilemmata, gesellschaftliche Kritik an ihrem Schaffen, Selbstzweifel, aber auch die zunehmende Unübersichtlichkeit wissenschaftlicher Großprojekte („big science“) und als gefährlich wahrgenommene Technologien (mit der Atombombe als ‚Mutter aller Technologie-Gefahren‘) ließen die Wissenschaften in der Wahrnehmung vieler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine wahre Wesens- und Identitätskrise geraten. Doch müssen wir immer daran erinnert werden: Die wissenschaftliche Methode per se ist alles andere als perfekt. Immer wieder hat sie uns grobe Fehler machen lassen und uns auf die ein oder andere Weise in Schwierigkeiten gebracht – und wird dies auch weiterhin tun. Aber sie ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. Zugleich erinnert sie uns immer wieder an unser limitiertes Wissen. Sie nicht in ihrer ganzen Kapazität zu verwenden, wäre nicht nur töricht, sondern fahrlässig.



Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau.  Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine Bücher Die Naturwissenschaften. Eine Biographie (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität. Universum, Leben, Geist – Zwei Wege zu den großen Geheimnissen“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen.

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