Rezension

Die Anfänge von allem

01.11.2017 - Dr. Burkhard Luber

“Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, wir sind merkwürdig. Und weil es inzwischen nur noch eine Zivilisation gibt, haben wir gute Gründe darüber nachzudenken, vor allem aber: zu erforschen, wie merkwürdig genau wir sind.” (Seite 22).

Sechzehn mal geht Jürgen Kaube in dem hier angezeigten Buch den Dingen auf den Grund: Warum der Mensch aufrecht geht - wie er zur Kochkunst und zur Monogamie kam - wie die Menschheit zu sprechen begann - wie Staat, Stadt, das Geld und die Zahlen begannen (um hier die Hälfte der von Kaube analysierten Phänomene zu erwähnen). Jedes Mal ist das Fazit: Dass es hierzu oder auch dazu kam, ist unwahrscheinlich, in Kaubes Diktion: merkwürdig.

Das Buch zeichnet sich durch immensen Fleiß aus und - was noch mehr zu erwähnen ist - eine große Begabung des Autors, unterschiedliche Wissenschaftsgebiete elegant, fast mühelos, miteinander zu verbinden: zum Beispiel Geschichtswissenschaft, Biologie, Philosophie, Ethnologie.

Defizitär, wenn überhaupt, ist das Buch allenfalls für LeserInnen, die vielleicht noch mehr ins Detail gehen wollen und das hieße in diesem Fall, die gerne das analytische Vorgehen Kaubes, sein methodisches Instrumentarium und seine Befunde mit anderen Denkern vergleichen würden. Die Skepsis Kaubes gegenüber dem, was man landläufig über die Entstehung von zB Stadt, Sprache, Staat oder Geld denkt und tradiert, ist unübersehbar. Hier hätte man sich aber gewünscht, dass Kaube kontroverser vorgegangen wäre und die durch ihn angezweifelten Ansichten genauer markiert. Zum Beispiel werden zwar verschiedene Werke von Niklas Luhmann im Literaturverzeichnis erwähnt, aber unbegreiflicherweise gerade nicht sein Hauptwerk “Die Gesellschaft der Gesellschaft” wo der Soziologe genau solche Phänomene wie Kaube behandelt: Sprache, Schrift, Geld (z.B.). Oder - anderes Beispiel - man hätte doch gerne genauer eine Gegenüberstellung dessen, wie Kaube über die Entstehung des Geldes schreibt mit der Thorie David Graebers “Debt - The first five 5,000 Years”, die genauso energisch wie Kaube mit Plattitüden über die Wirtschaftsgeschichte aufräumt.

Kaubes besonderes Verdienst ist es, in mehrfacher Weise mit der landläufigen - und wie der Autor nachweist - irrigen Annahme aufzuräumen, dass “Anfänge” zivilisatorische Einschnitte darstellen, die auf Nachahmungen beruhen. Musik entstand nicht durch Nachahmung des Vogelgesangs, für Sprache, Monogamie und den aufrechten Gang gibt es kein Vorbild in der Natur; Städte waren keine Übertragungen tierischer Kolonien und die Schrift kein Transfer aus der sprachlichen Sphäre. Im Gegenteil: Alle diese Anfänge waren hochkomplexe, hochspezialisierte kulturelle Errungenschaften. Aus Kaubes Ausführungen wird ein Dreifaches deutlich: Erstens waren Neuanfänge, auf die wir heute im Rückblick geneigt sind, sie als punktuell wahrzunehmen in Wirklichkeit Entwicklungen über immens lange Zeiträume. Sie waren zweitens nie eindimensionale Ereignisse mit nur jeweils einer einzigen Ursache, einem einzigen Mechanismus. Schließlich sollen wir drittens einsehen, dass sie bei näherer Betrachtung nicht aus sich selber heraus eine Botschaft des Übergangs darstellen. Eher ist überraschend, wie zum Beispiel Tempel mit Geldwirtschaft zusammenhängen oder dass das Schreien eines Säuglings einen Melodiebogen enthält.

Es ist der Vorzug des Buches von Kaube, dass es den Leser auf solche Pfade der analytischen Entdeckung lockt, ihn von platten (will sagen: falschen) Allgemeinheiten emanzipiert und ihm dadurch zu einer erfrischend neuen Sichtweise “der Anfänge” verhilft.

 


Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt Verlag. 2017. 448 Seiten. 24,95 Euro

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