Atomzeitalter

Die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion vor 75 Jahren

15.12.2017 - Lars Jaeger

Im Hitler-Deutschland wurde sie zum ersten Mal nachgewiesen, die Möglichkeit Atomkerne zu spalten. Bei Beschuss mit Neutronen geeigneter Energie platzen die Kerne des Uranatoms wie Wassertropfen und zerfallen in zwei Teile. Mit 200 Millionen Elektronenvolt ist die Energie dieser Bruchstücke wesentlich größer als jede Energie, die in bis dahin bekannten atomaren Prozessen entstanden war.

Die Entdeckung der Kernspaltung liest sich wie ein Krimi. Hier der bekannte Chemiker Otto Hahn, der zwar viel von Chemie, aber weniger von Physik verstand. Dort die brillante Physikerin Lise Meitner, die unmittelbar nach dem erfolgreichen Experiment Berlin verlassen muss, weil die protestantische Christin jüdisch-stämmig ist und im nationalsozialistischen Deutschland um ihr Leben fürchten muss. Im Exil kommt ihr der entscheidende Einfall: Die Erklärung für diese enormen Energien liegt in Einsteins berühmter Formel E=mc2. Denn die beiden Kerne, die aus der Spaltung hervorgehen, sind in ihrer Summe geringfügig leichter als der ursprüngliche Atomkern des Urans. Die Differenz der Masse entspricht genau der Energie von 200 Millionen Elektronenvolt. Zum ersten Mal war ein Prozess bekannt geworden, in welchem sich die von Einstein formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbart. Damit war klar: Der Atomkern des Urans lässt sich spalten (Otto Hahn, nicht aber Lise Meitner, erhielt für diese Erkenntnis den Chemie-Nobelpreis 1944).

Aber noch etwas anderes war deutlich geworden: Im Inneren des Atoms schlummern unvorstellbare Energien. Die Physiker nannten sie „Kernenergie“. Der Zufall wollte es, dass bei der durch ein Neutron hervorgerufenen Spaltung eines Urankerns drei weitere Neutronen freigesetzt werden, die ihrerseits Urankerne spalten konnten. Die Physiker erkannten, dass sich über eine Kettenreaktion in sehr kurzer Zeit eine enorme Energiemenge freisetzen ließ. Schnell kam damit auch die Möglichkeit einer militärischen Anwendung ins Spiel. Die nun einsetzende Entwicklung liest sich wie ein weiterer Thriller.

Bereits 1939, weniger als ein Jahr nach Hahns und Leitners Entdeckung, verfasste Otto Frisch, der Neffe von Lise Meitner und ebenfalls Physiker, zusammen mit seinem britischen Kollegen Rudolf Peierls ein Memorandum, das die technische Konstruktion einer auf Kernenergie beruhenden Bombe beschrieb. Dies ließ nun auch Nicht-Physiker aufhorchen.

Als weltweit führende Nation in Forschung und Technik war das nationalsozialistische Deutschland dazu prädestiniert, als Erster die Kernenergie militärisch zu nutzen. Eine Bombe mit solch gewaltiger Sprengkraft in den Händen Hitlers hätte für die Welt katastrophale Auswirkungen gehabt. Auch dem ungarischen Physiker Leó Szilárd, der wie Leitner stark unter dem nationalsozialistischen Deutschland gelitten hatte, drängte sich das Schreckensbild eines atomar bewaffneten Hitlerdeutschlands auf. Er bewog den bis dahin strikten Pazifisten Albert Einstein dazu, einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu schreiben und ihm darin die Anregung zu geben, den Bau einer amerikanischen Atombombe voranzutreiben.

Roosevelt nahm diesen Anstoß auf. Unter höchster Geheimhaltung stellte die amerikanische Regierung ein Team von hochrangigen Wissenschaftlern und Technikern zusammen. Die meisten von ihnen waren aus Europa gekommen und getrieben von der Motivation, Hitler nicht den alleinigen Zugang zu Atomwaffen zu überlassen. Das einzige Ziel des „Manhattan Projekt“ getauften und bis dahin komplexesten, teuersten und schwierigsten Technikprojekts der Geschichte war der Bau einer Atombombe.

Der erste Schritt war nachzuweisen, dass sich tatsächlich eine Kettenreaktion von Neutronenfreisetzungen auslösen und aufrechterhalten ließ. Dies gelang unter strenger Geheimhaltung und weitab von jeglicher Öffentlichkeit Enrico Fermi, der einige Jahre zuvor aus seinem mit Hitler verbündeten Heimatland Italien ausgewandert war, da dort ebenfalls gegen Juden gerichtete Rassengesetze verabschiedet worden waren (Fermis Frau war jüdischer Herkunft). Unterhalb eines Sportplatzes an der Universität in Chicago konstruierte Fermi, einer der wenigen sowohl auf theoretischem als auch auf experimentellem Gebiet brillierender Physiker, den ersten Kernreaktor der Geschichte. Vor genau 75 Jahren, am 2. Dezember 1942, lief darin die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion von Kernspaltungen ab, die den Zustand der Kritikalität erreichte (so beschreiben die Physiker den Zustand, wenn ebenso viele freie Neutronen erzeugt werden, wie durch Absorption und Verlust nach außen verschwinden). Das Experiment war derart riskant, dass Fermi nicht einmal den Universitätspräsident vorher darüber informierte. Wäre das Experiment schiefgegangen, wäre wohl ein großer Teil Chicagos verstrahlt worden. Als Sicherheitsvorkehrung standen nur ein paar Wissenschaftler mit einer Axt und Eimern voller Kadmiumsulfat bereit, der die Kettenreaktion unterbrechen sollte.

Von diesem Tag an war die Welt eine andere. Das Atomzeitalter hatte begonnen. Das wussten auch die Augenzeugen des historischen Experimentes: „Alle von uns wussten, dass mit dem Anbruch der Kettenreaktion die Welt nie wieder dieselbe sein würde“, schrieb der Physiker Samuel Allison später. Der Rest der Menschheit sollte erst am 6. August 1945 erfahren, dass ein neues Zeitalter begonnen hatte.

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