Neuroforschung

Gelähmte können wieder gehen

15.11.2016 - Lars Jaeger

In Mk 2, 1-12 (Mt. 9, 1-8, Lu 5, 17-26) lesen wir die biblische Geschichte von der Heilung eines Gelähmten durch Jesus von Nazareth: „Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach Hause! Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg.“

Was den Christen aller Welt seit zwei Jahrtausenden als biblisches Wunder dargestellt wird, bewegt sich heute immer mehr in den Bereich des wissenschaftlich-technischen Machbaren. Denn mit dem wachsenden Verständnis der Funktionsweise unseres zentralen Nervensystems stellt sich die Frage, ob sich die Steuerung von Körperbewegungen durch unser Gehirn nicht auch technisch verändern oder gar nachbauen lässt. So steht die Interaktion unseres Gehirns mit Maschinen (mittels so genannter „Brain Computer Interfaces“) längst auf der Agenda der Hirnforscher und Hirntechnologen. So vielfältig diese neuen Technologien sind dabei auch ihre Ziele: von therapeutischer Behandlung von Hirnerkrankungen, Körperlähmung oder Gemütsverfinsterungen, über Veränderungen unserer Emotionen, bis zur Steigerung unserer körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit.

Erste Schnittstellen, die elektrische Spannungen über Elektroden in das Gehirn abgeben, wurden tauben Patienten bereits vor 25 Jahren eingesetzt. Doch unterdessen ist auch die Übertragung von konkreten Informationen aus dem Gehirn auf eine Maschine zumindest teilweise gelungen. So ist es seit ein paar Jahren möglich, Twitter-Nachrichten durch Aufzeichnen der entsprechenden Gedanken in einem EEG zu versenden. Und auch die Signale dutzender Neuronen der (für die Koordinierung von Körperbewegungen verantwortlichen) motorischen Hirnrinde lassen sich heute ‚lesen‘, was es Querschnittsgelähmten ermöglichen soll, Prothesen per ‚Gedankenkraft’ zu steuern. Mit dieser Methode konnte am 12. Juni 2014 vor den Augen der (Fußball-)Welt während der Eröffnungsfeier der WM in Brasilen ein querschnittsgelähmter Jugendlicher aus seinem Rollstuhl aufstehen und gegen einen Fußball treten. Die Möglichkeit, einen nahezu vollständig gelähmten Menschen wieder gehen und sogar einen Fußball kicken zu lassen, beruht auf der Erkenntnis, dass alleine geistigste Vorstellungen von Bewegungen ausreichen, um die Hirnaktivität messbar zu verändern, was wiederum Nerven und Muskeln im Körper anzuregen vermag. So führt die Vorstellung, den linken Fuß zu bewegen, zu einem anderen Aktivierungsmuster, als die Vorstellung, die rechte Hand zu bewegen. Eine solche Steuerung von Aktionen alleine mit der Kraft der Gedanken ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Fans von Videospielen dies direkt erleben können, beispielsweise mittels des Sensor-Headsets Mindflex, bei dem die Spielerin durch reine geistige Konzentration eine Kugel durch einen Parcours von flexiblen Hindernissen steuern muss.

Nun ist den Hirntechnologen ein neuer spektakulärer Coup gelungen: Ein Querschnittsgelähmter, der seine Hände wieder bewegen kann - allein durch die Kraft seiner Gedanken. Die Forscher brachten es fertig, mit Elektroden Signale aus dem Gehirn des gelähmten Patienten zu holen und sie in einem Computer (genauer einem Chip) mittels eines Algorithmus in entsprechend andere Signale zu verwandeln, die dann mit einer Art „neuronalem Bypass“ um das zerstörte Rückenmark herum direkt zu einer mit Elektroden versehenen Arm-Manschette geleitet wurden. Diese Elektroden senden dann die Impulse, die die Arm- und Hand-Muskeln stimulieren, um die gewünschte Bewegung auszuführen. So konnte der querschnittsgelähmte Patient erstmals wieder seine Hand öffnen und schließen, wie das Forscherteam nun im Magazin Nature berichtet (Bouton, Rezai et al., Restoring cortical control of functional movement in a human with quadriplegia, Nature, 13. April 2016).

Allerdings war der Aufwand dazu nicht gering. Zuerst musste dem Patienten ein Silikonplättchen ins Gehirn implantiert werden, das in die Hirnregion hineinragt, die für die Motorik des rechten Armes zuständig ist. Ein dünner Draht leitete dann die Impulse von dort zur Kopfhaut weiter, wo sich die Kabel zum Arm anschliessen lassen. Nun musste der Algorithmus im Chip „trainiert“ werden, damit er lernt, die entsprechenden Signale zu registrieren, sie geeignet zu interpretieren und zu transformieren (man spricht in der Fachsprache der künstlichen Intelligenz-Forschung auch von „maschinellem Lernen“), um dann die richtigen Signale an die Elektroden an der Arm-Manschette zu senden, welche zuletzt die gewünschte Armbewegung auslösen. Der Patient musste dafür eine Art „Geistestraining“ absolvieren, indem er sich immer wieder auf die gewünschte Bewegung des Arms konzentrierte. Es dauerte viele Monate, bis die Signale aus dem Gehirn vom Chip geeignet gedeutet und verarbeitet wurden und sich der Patient zuletzt ein Getränk eingießen und es mit einem Löffel umrühren konnte.

In Anbetracht dieser Entwicklungen ist es vielleicht nicht mehr so verwunderlich, dass manche Neuroforscher unterdessen gar von der Möglichkeit eines künstlichen Hippocampus sprechen (ein für das Gedächtnis wichtiges Hirnareal), der die gleichen Signale generiert und verarbeitet wie sein biologisches Pendant. Doch dafür müssten die Forscher den Code knacken, mit dem das Gehirn komplexe Informationen wie Worte und Sätze repräsentiert. Ob solche Verbindungen in naher Zukunft hergestellt werden können, ist unklar. Denn je komplexer die neuronalen Darstellungen der im Gehirn abgebildeten und verarbeiteten Information sind, desto ferner liegt das Ziel ihrer künstlichen Verarbeitung und Beeinflussung von außen. Aber es ist bei Weitem nicht unwahrscheinlich, dass Menschen eines Tages technische Komponenten in ihrem Körper und Gehirn tragen, welche ihre geistige Leistungsfähigkeit verbessern. Umgekehrt könnten Maschinen neben ihrer ‚Hardware‘ auch biologische Bestandteile (sogenannte „Wetware“) besitzen.

Werden zunächst vor allem Patienten wie Taube, Blinde, Gelähmte, Querschnittsgelähmte und Menschen mit Gedächtnisproblemen von den neuesten Entwicklungen des Zusammenspiels von Neurobiologie und Computern profitieren, so steht die Interaktion von Gehirnen mit Maschinen auch für gesunde Menschen zum Zwecke der Verbesserung ihrer intellektuellen Fähigkeiten wie Gedächtnis und Denkgeschwindigkeit längst auf der Agenda der Hirnforscher. Und auch unsere Emotionen sind zunehmend Ziel ihrer Forschungsbemühungen. Waren auch hier Ausgangspunkt medizinisch-therapeutische Aspekte (Psychopharmaka gibt es schließlich bereits seit Jahren), so besitzen nach Meinung zahlreicher Hirnforscher „Neurochips“, welche die Gemütsverfassung verbessern, das Wohlempfinden anheben, die Intelligenz steigern oder gar dauerhafte Glückseligkeit versprechen ein besonders großes Entwicklungspotenzial bei der Anwendung für gesunde Menschen. Unter dem schlagenden Begriff „Hirndoping“ haben die Medien das Thema stimulierender Medikamente und elektrischer Manipulation unseres Gehirns bereits aufgenommen. Noch sind solche „Chips im Gehirn“ oder Medikamente, die auf Knopfdruck intelligenter, aufmerksamer oder glücklicher machen, Utopie. Doch weitere Schritte in Richtung Technisierung unseres Körpers und Geistes sind nicht nur realistisch, sondern werden bereits eingeleitet. Sie könnten unseren Alltag sowie unser Welt- und Menschenbild bedeutend stärker verändern als alle philosophische Lehren, psychologische Theorien oder spirituelle Praktiken.

 


Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen.

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