Rezension

Grundformen der Angst

15.05.2015 - Jelena Wippermann

Hast du Angst? Auch wenn du diese Frage mit einem „Nein“ beantwortest, wirst du spätestens nach dem Lesen des Buches „Grundformen der Angst“ von dem 1979 verstorbenen Psychoanalytiker Fritz Riemann, dein „Ich“ hinterfragen und deinen Ängsten, von denen du dachtest, sie würden nicht existieren, einen Namen geben.

Hast du Angst, vor deinem Verstand? Dass er dir irgendwann mal sagt: "Ich glaube, du bist krank"? (Marsimoto - deutscher Rapper)

 

Sein berühmtestes Buch „Grundformen der Angst“ setzt sich auf 244 Seiten mit dem Aspekt der Angst in dem Prozess der Ich-Werdung auseinander.
Um auch den Laien der Psychoanalyse den Einstieg in das Innere des Menschen zu erleichtern, stellt Riemann zunächst ein Gleichnis auf, das die vier bedeutendsten naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Erde auf vier Grundimpulse der Menschheit überträgt, die als Grundlage aller Angst  dienen.


So muss zunächst die Erde als System betrachtet werden, die so nicht funktionieren könne, wäre sie nicht nach folgenden vier kosmischen Grundgesetzen geregelt.


Zunächst dreht sich die Erde um sich selbst. Dieses „Bedürfnis“ der Erde - die Rotation - vergleicht Riemann mit dem Impuls der Eigendrehung eines jeden Individuums - zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung. Menschen, die diesen Impuls stark ausgeprägt leben, haben Angst vor der Hingabe. Sich anderen Menschen hinzugeben, gestaltet sich häufig besonders schwer für Persönlichkeiten, die im Buch als schizoide Persönlichkeiten bezeichnet werden. Riemann charakterisiert in seinem Werk die vier verschiedenen Persönlichkeiten und skizziert ihr Bild durch Beschreibungen von Lebensweisen und Umständen, sowie Einflüsse auf Angstbildung in der Kindheit und Verhaltensweisen in Aggression und Liebe.


So steht bei den schizoiden Menschen die eigene Autonomie des Individuums im Vordergrund, die die Zugänglichkeit zu anderen Menschen oder Gruppen erschwert, sodass schizoide Persönlichkeiten oft als kühle und unnahbare Menschen wahrgenommen werden.


Betrachtet wird als nächstes das Gesetz der Revolution - die Bewegung der Erde um die Sonne. Für die „Ich-Position“ bedeutet dies die Einordnung ins große ganze System. Diese Grundform der Angst wird  durch die Angst vor der Selbstwerdung definiert.


Die Angst vor der Abgrenzung führt  für die in diesem Kapitel beschriebenen depressiven Persönlichkeiten zur Problematik,  sich als „sich -selbst“ zu definieren. Diese Persönlichkeiten haben große Schwierigkeiten sich selbst zu individualisieren.


So „quält sie die trennende Kluft zwischen ich und du“ (S.69). Gerade in der Liebe ist es für diese Menschen schwierig den richtigen Partner zu finden, ohne dass sie sich, von dem Wunsch nach vertrautem Nahkontakt und der Sehnsucht depressiver Menschen geliebt zu werden, überrannt fühlen. Depressive Menschen sind geprägt von der Angst Verlust zu erleiden.


Die Angst vor der Veränderung ist die vorherrschende Angst der zwanghaften Persönlichkeiten. Im Gleichnis der Naturgesetze nimmt diese Angst die Position der Schwerkraft ein. Die Schwerkraft als Streben nach Dauer und Beständigkeit. So steht im Zentrum dieser Persönlichkeiten der Versuch, stets nur mit dem bereits Bekannten und Vertrautem zu leben. Sie neigen zum Perfektionismus, der ihr Leben erschwert und sind wenig tauglich fürs Zusammenleben mit anderen Menschen macht. Für ihre Mitmenschen fallen die zwanghaften Persönlichkeiten durch Tugenden wie Ausdauer, Pflichtgefühl und Strebsamkeit auf.


Als vierte und letzte Grundform nennt Riemann die Angst vor der Notwendigkeit an. Er spricht in diesem Zusammenhang von den hysterischen Persönlichkeiten, die vom Drang zu Veränderung und stetiger Wandlung geprägt sind. Ihre Angst ist die „Angst vor dem Endgültigen, dem Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit und der Begrenztheit unseres Freiheitsdranges.“ (S.179)
So liegt es nahe, dass Menschen, die von dieser Grundform der Angst geprägt sind, sich oft dazu verleiten lassen, die Realität aus ihren Köpfen zu verbannen und sich ihre eigene, stetig wandelnde Realität schaffen, die oft durch illusionäre Vorstellungen geprägt ist. Um zu verdeutlichen was Riemann an dieser Stelle meint, führt er ein Zitat Nietzsches an:


„Das habe ich getan“ sagt mein Gedächtnis, „das kann ich nicht getan haben“ sagt mein Stolz und unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach. (S. 184)


Die den hysterischen Persönlichkeiten oftmals zugeschriebenen Eigenschaften wie Kreativität und farbige Lebendigkeit, lassen sie wandlungsfähig, neugierig und risikofreudig erscheinen.


Kaum verzeihen kann der hysterische Mensch allerdings, wenn er als nicht liebenswert empfunden wird, was mit seinem labilen Selbstwertgefühl und Mangel an Identität zusammenhängt.


Diese vier Grundformen der Ängste und ihre skizzierten Persönlichkeiten, werden aufschlussreich anhand vieler Beispiele veranschaulicht. Wichtig ist, diese Ängste nicht als unantastbar einzuordnen. Das heisst, Menschen sind nicht einem Persönlichkeitstypus allein zuzuordnen, sondern tragen alle Grundformen der Angst in sich. Zur Krankheit des Geistes kommt es erst dann, wenn eine dieser Ängste das Individuum übermässig beeinträchtigt, sodass es  eine Angst überwertig lebt.


Aus diesen Grundängsten heraus entwickeln sich Unterformen, in denen wir unsere Grundangst auf bestimmte Umstände projizieren, wie zum Beispiel die Angst vor engen Räumen.


Riemanns Erläuterungen über die verschiedenen Persönlichkeiten werden  in Zusammenhang mit Kindheitserfahrungen gebracht, um verständlich zu machen, wieso es zur Überempfindlichkeit durch eine der Ängste kommen kann. Durch Patientenbeispiele wird dem Leser eine Brücke von der Theorie zur anschaulichen Praxis geschlagen.


Dieser Vergleich der wichtigsten kosmischen Grundgesetze mit den vier Grundängsten der Menschheit wirkt zunächst weit hergeholt und schwer nachvollziehbar. Allerdings schafft es Riemann mit seiner anschaulichen Erläuterung eine Analogie aufzustellen, die - wenn man erst anfängt ehrlich zu sich selbst zu sein - äußert plausibel erscheint. Eine komplizierte Theorie um das genauso komplizierte menschliche „Innere- Ich“ besser zu verstehen.
Hast du Angst? Hast du dir diese Frage wirklich schon einmal selber gestellt und versucht ehrlich zu beantworten?


Antworten auf Fragen wie diese, enthält das Buch von Riemann nicht, aber dennoch zeigt es Möglichkeiten, sich selbst und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.


Der Versuch, sich um die eigenen Ängste zu kümmern und an diesen zu arbeiten, nimmt in Zeiten der Globalisierung stetig zu. Ist es die eigene Zukunft, die mir Angst macht oder meine Verortung in der Gesellschaft ?
Das Buch ist eine Einführung in die Entstehung von Ängsten, die wir jeden Tag unseres Lebens bei Emotionen, familiären Strukturen, Kindheitserfahrungen und erwarteten Positionen  erleben.


Die Konfrontation mit sich selbst und seinen Ängsten, aber auch mit seinen Mitmenschen helfen dabei, sich selbst in der Gesellschaft zu verorten.
Die Erkenntnis, andere Menschen mit ihren persönlichen Ängsten und den daraus resultierenden Charakterzügen und Verhaltensweisen besser verstehen zu können, kann auch die eigene Welt ein bisschen besser machen.
Das Lesen des Buches verlangt dem Leser eine große Portion Selbstbewusstsein ab, denn es ist unmöglich, es zu lesen ohne sich dabei selbst, seinen Partner, seine Familienmitglieder oder Freunde in den Persönlichkeiten wieder zu erkennen. So kann die Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus ein Schock für den Alltag bedeuten und verunsichern.
Plötzlich sitzt du nicht mehr unbefangen dem neuen Date gegenüber, der nicht wie du selbst, offen und ehrlich drauflos redet und am liebsten die ganze Welt umarmen will, sondern du fragst dich, ob du nicht schon allein durch dein angelesenes Wissen Züge einer schizoiden Art aufgrund der Kühle und Gelassenheit des Gegenübers erkennst.


Bist du wirklich von deiner Mutter überbehütet worden und hattest kaum Zeit dein eigenes Selbstbewusstsein aufzubauen und hast Angst vor der eigenen Identitätsbildung? Hat deine beste Freundin aufgrund ihrer Krankheit in der Kindheit zwanghafte Züge entwickelt, weil sie schon immer mit Verboten und Gesetzen konfrontiert wurde?


Die Erklärungen, die Riemann über die Angst bringt, sind erschreckend ehrlich und direkt. Mit einer großen Portion Selbstironie und dem Mut in den Spiegel der Selbstreflexion zu schauen, kann das Buch auch den Laien mit einem Lächeln im Gesicht über sich selbst auf diesem Gebiet voran bringen.


„Keine Angst, du bist mit deiner Angst nicht allein.“


(Marsimoto-Angst)

 

 


Fritz Riemann: Grundformen der Angst, Ernst Reinhardt Verlag, 1961, 41. Auflage 2013, Broschiert 16,90€, eBook 16,90€, 244 Seiten

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