Journalist und Autor im Interview

Lucas Vogelsang: "In der Begegnung lösen sich die Vorurteile auf"

15.09.2017 - Astrid Knauth

Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einer Wohnung in Berlin-Wedding, gehen aus dem Haus, sprechen mit ihren Nachbarn und lassen sich ganz unvoreingenommen ihre Geschichte erzählen. Genau das hat der Journalist Lucas Vogelsang, der unter anderem als Autor für „Die Welt“ und „Welt am Sonntag“ arbeitet, gemacht. Entstanden ist das Buch „Heimaterde – Eine Weltreise durch Deutschland“. DAS MILIEU sprach mit ihm über den Begriff Heimat, die Facetten des Deutschseins, darüber, dass im Grau ganz viel Farbe liegt, warum wir Begegnungen nicht scheuen sollten und warum Toleranz ein Wort der Trennung ist.

DAS MILIEU: Viele Menschen zieht es weg aus Deutschland. Das wird besonders zu Urlaubszeiten deutlich. Gerade exotische Reiseziele wie Australien, Indien oder Südamerika sind unter jungen Leuten sehr beliebt. Sie dagegen berichten in Ihrem Buch „Heimaterde – Eine Weltreise durch Deutschland“ über Geschichten vor unserer Haustür. Warum verschließen so viele Menschen die Augen vor diesen kleinen Geschichten, über die Sie erzählen?

Lucas Vogelsang: Ich weiß nicht, ob man den Leuten ihr Fernweh im Urlaub zum Vorwurf machen kann. Was wir aber in der Journalistenschule gelernt haben, ist, dass es zwei Ansätze gibt: die Flucht in die Exotik, also Geschichten in der Ferne, etwa in einem philippinischen Drogenknast, die den Vorteil haben, dass man seinen Protagonisten nicht unbedingt gleich am nächsten Tag oder an der nächsten Ecke wiederbegegnet. Und die Recherche vor der Haustür, in der Nachbarschaft. Ich selbst finde diese Geschichten spannender. Man muss dafür genauer hinschauen, sie gehen mir näher. Dadurch, dass man dem Alltag das Spannende und das Neue abzuringen versucht, sind sie zudem, so finde ich, eine größere Herausforderung. Ich sage immer: „Wenn man will, kann man aus dem Haus fallen und hat schon eine Geschichte.“ Aber dafür muss man mit sehr wachem Blick durch die Nachbarschaft und die Straßen gehen. Das kann sehr anstrengend sein.

MILIEU: Sie widmen ein ganzes Buch Ihrem Heimatland Deutschland. Was macht dieses Land so besonders für Sie?

Vogelsang: Wir haben es in Deutschland geschafft, uns nach dem 2. Weltkrieg als eine Gesellschaft zu definieren, die für Demokratie kämpft, für Gleichheit und für die Menschenrechte. Für die Leute, die jetzt hierherkommen, stellt Deutschland nicht umsonst ein Sehnsuchtsland dar. Hier wurde in den vergangen 70 Jahren etwas aufgebaut.

Darauf, denke ich, kann man stolz sein. Die Ironie aber ist, dass sich ein gesunder deutscher Nationalstolz, der aufgrund unserer Geschichte immer einen Beigeschmack hat, gerade in den Menschen offenbart, über die ich in meinem Buch schreibe.

Zuwanderer, die hiergeblieben sind, sich hier ein Leben aufgebaut haben und ihr Deutschsein mitunter ganz offensiv definieren. Da hängt dann auch mal die Deutschlandfahne vom Balkon. Da wird die Hymne gesungen. Deshalb habe ich das Buch auch geschrieben. Ich wollte zeigen, auf wie vielen verschiedenen Ebenen Deutschsein und Heimat funktionieren.

MILIEU: Beim Lesen fällt auf, wie positiv die Personen Deutschland zumeist sehen. Viele Deutsche selbst haben eher die Eigenschaft alles negativ zu sehen…


Vogelsang: Genau – in diesem positiven Blick auf Deutschland haben wir uns auch getroffen. Ich habe keine Lust, mit einem vorgefertigten Negativbild loszufahren. Zuerst schaue ich, wo es gute Ansätze gibt. Findet man keine, kann man immer noch mit der Kritik beginnen.

MILIEU: Sie berichten von ganz unterschiedlichen Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Deutschland gekommen sind, und hier eine neue Heimat gefunden haben. Schon Hubert Joost sagte: „Die Vielfalt der Außenwelt formt die Struktur des Innenlebens.“ Warum stehen so viele Menschen in Deutschland dieser Vielfalt skeptisch gegenüber?

Vogelsang: Ich weiß nicht, ob die Leute wirklich der Vielfalt kritisch gegenüberstehen, sie werden einfach mit dem Fremden, das kommt, alleine gelassen. Diese Leute nicht mitzunehmen, das ist das Versagen der Politik. Man sagt: „Wir schaffen das!“ und dann heißt es: „Jetzt macht mal.“  Persönlich finde ich die Vielfalt, die wir in Deutschland haben, großartig. Für mich als geborenen Berliner macht sie dieses Land aus. Ich könnte mir ein Berlin ohne die verschiedenen Kulturen gar nicht vorstellen. Ohne Polen, Türken, Vietnamesen, das ginge schon allein kulinarisch nicht. Aber ich kann auch nachvollziehen, wenn jemand, der in einem kleinen Dorf in Bayern aufgewachsen ist, von tausend Flüchtlingen erst einmal eingeschüchtert ist. Weil er das nicht kennt.

Aber, und auch das habe ich während meiner Recherche noch einmal gelernt, Rassismus ist keine deutsche Erfindung. Ich beschreibe in meinem Bauch auch den Argwohn zwischen den Minderheiten – wenn zum Beispiel der Türke über den Kurden schimpft und der Kurde über den Araber. Da gibt es dann Türken bei uns am Block, die wollen keine Syrer in der Nachbarschaft haben. Für mich als Reporter besteht die Aufgabe dann darin, erst einmal den Reflex darzustellen und nachzuvollziehen. So versuche ich sowohl die Leute zu verstehen, die als Fremde hierher gekommen sind und sich noch immer fremd fühlen, als auch die Deutschen, die mit der Zuwanderung fremdeln. Ich werte das aber nicht. So gebe ich allen Protagonisten, egal welcher Ansicht sie sind, die gleichen Startmöglichkeiten. Dann setze ich mich mit diesen Leuten zusammen und frage sie, wie sie zu dieser Einstellung gelangt sind. Mich interessiert das Warum.

MILIEU: Elf Reportagen über Personen, die vieles trennt, aber unerwarteterweise auch vieles eint. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Menschen so schnell Vorurteile haben, weil sie sehen, was einander trennt und so nie herausfinden, was sie nicht alles eint?


Vogelsang: Es heißt doch: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Misstrauen ist ein ganz natürlicher Reflex. Wenn man auf etwas trifft, das man nicht kennt, dann versteckt man sich erst einmal, wartet ab, was passiert. Aber eines habe ich gelernt: Klischees haben ihre Wurzeln oft genug in der Wahrheit. Und sie vereinfachen die Dinge. Vorurteile ebenso. Sie sind bequem. Deshalb braucht es viel Zeit, um sie zu beseitigen. Diese Zeit hat der Mensch im Alltag aber kaum. Er wird nach einem Acht-Stunden-Tag nicht noch nach Berlin fahren, um sich mit einem Vietnamesen über dessen Leben zu unterhalten. Ich habe das große Glück, durch meinen Beruf die Zeit für diese Begegnungen zu haben. Ich durfte all diese Menschen treffen und davon berichten.  Mit „Heimaterde“ gebe ich den Menschen diese Begegnung an die Hand. Man kann damit zu Hause auf der Couch sitzen, aber trotzdem etwas über diese Menschen erfahren. Vielleicht hilft es dabei, Klischees und Vorurteile zu beseitigen. Denn in der Begegnung lösen sich die Vorurteile auf. Man kann über Menschen denken, was man will, aber man sollte sie erst einmal erzählen lassen.

MILIEU: Gewissermaßen versucht das Buch den Blick für Personen zu öffnen, an denen wir tagtäglich einfach vorbeigehen. Mark Twain sagte einmal: „Du kannst dich nicht auf deine Augen verlassen, wenn deine Vorstellungen unscharf sind.“ Glauben Sie, dass der Mensch heutzutage zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als dass ihn die Geschichten anderer überhaupt noch interessieren würden?

Vogelsang: Nein – das glaube ich nicht. Für uns alle trifft zu, dass wir eine gewisse kürzere Aufmerksamkeitsspanne haben. Aber ich glaube nicht, dass der Mensch weniger umsichtig geworden ist. Es ist einfach so, dass die Fülle an Informationen das Individuum verschluckt.

Es gibt ja diese Theorie, dass ein Mensch nicht mit mehr als 150 Personen sozial verbunden sein kann, alles darüber hinaus übersteigt seine Kapazitäten. Aber ich glaube, dass man die Leute noch immer durch gute Geschichten packen kann. Mein Buch ist der Versuch, genau das zu tun. Mit langen Geschichten über Menschen, die einem sonst fremd bleiben würden.

MILIEU: Können Sie bitte folgenden Satz vervollständigen: „Für mich bedeutet Heimat…“


Vogelsang: …Berlin. Heimat ist Berlin, der Ort, an dem du Verantwortung übernehmen kannst. Heimat ist auch, wie der kurdische Protagonist aus Spandau in einem Kapitel sagt, der Ort, der dir nicht egal ist – da schließe ich mich an. Und ich habe gelernt, dass Heimat vor allen Dingen ein Gefühl ist.

MILIEU: Immer wieder kehren Sie in dem Buch zu Ihrer Heimat Berlin-Wedding zurück. Mit einem Ausländeranteil von 64% wird sie in den Medien häufig als Problemviertel dargestellt. Der Schriftsteller Paul Mommertz äußerte sich einmal folgendermaßen: „Lieber fordern wir Integration von anderen als Toleranz von uns.“ Wie sehen Sie das?

Vogelsang: Toleranz ist für mich das vollkommen falsche Wort. Tolerieren heißt auf Abstand halten, wenn man es bildlich übersetzt. Der einfachste Weg, den wir im Umgang mit Fremden gehen, ist Toleranz – das ist eine sehr deutsche Idee.

Mir geht es eher um Anerkennung, ein Miteinander. Um das schöne deutsche Wort: Solidarität. Darum, mich mit meinen Nachbarn im Wedding an einen Tisch zu setzen und türkischen Tee zu trinken. Oder mit meinem irakischen Nachbarn über seine Kinder zu sprechen. Wenn ich ihn nur toleriere, gehe ich ihm am Ende aus dem Weg, damit schaffe ich Distanz. In der Nachbarschaft ist es dann auch irgendwann völlig egal, welche Nationalität einer hat.

MILIEU: Sie als Journalist treffen tagtäglich auf viele unterschiedliche Personen. Gibt es eine Geschichte oder eine Erfahrung, die Sie besonders berührt hat?


Vogelsang: Das war die letzte größere Geschichte, die ich für die „Welt“ gemacht habe. Darin ging es um einen marokkanischen Französischlehrer aus Charlottenburg, der mit seiner Schule im vergangenen Jahr in Nizza war, als sich der Anschlag mit dem LKW ereignete. Dabei starben eine Kollegin und zwei Schülerinnen. Auf den ersten Blick ist die die Schlagzeile klar: Tunesischer Terrorist in Nizza tötet Mädchen aus Berlin. Die Geschichte dahinter ist jedoch, dass alle drei Mädchen – eine halbseitig gelähmt, die anderen beiden tot – aus muslimischen Familien kamen. Des Weiteren ist der Lehrer, der überlebt hat, Marokkaner mit muslimischem Glauben. Hinter der Schlagzeile verbirgt sich also das ganze Elend, die Tragik und Perversion der Gegenwart. Womit wir auch wieder bei der Frage sind, wer eigentlich auf welcher Seite steht. Wir machen es uns da manchmal zu einfach. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß – Gut und Böse. Auch der Wedding und das Buch bewegen sich da in der Grauzone. Aber das Schöne ist, dass in diesem Grau ganz viel Farbe liegt.

MILIEU: Gerade die negativen Ereignisse auf der Welt wie Kriege, Terroranschläge, Dürren oder andere Katastrophen bleiben im Gedächtnis der Menschen. Warum lassen sich die Menschen so stark von den Medien beeinflussen und vergessen das Positive, was bestimmte Länder aber auch beispielsweise den Wedding und ihre Bewohner ausmacht?

Vogelsang: Das ist eine Simplifizierung der Zustände. Das ist, wie wir schon gesagt haben, die Vereinfachung der Welt im Klischee und im Vorurteil. Geschuldet ist das der Bequemlichkeit, aber auch der begrenzten Möglichkeiten des Menschen im Alltag. Die Wenigsten verbringen doch ihren Jahresurlaub im Krisengebiet. Und ich kenne niemanden, der eine Städtereise in den Wedding macht. Die Bilder von diesen Orten, die Ideen dazu, erhält der Großteil der Menschen, mich eingeschlossen, also aus den sogenannten Medien.

Und wir leben nun mal in einer Zeit, in der die Journalisten zunehmend unter einem Schlagzeilendruck stehen, sie müssen für Klicks sorgen, für Quote. 

Das macht niemand mit dem Alltäglichen. Stellen Sie sich nur mal folgende Schlagzeile in der BILD-Zeitung vor: „Heute wieder alles ruhig im Wedding.“ Oder: „Heute keine Toten im Irak“ – das würde doch niemand machen. Also wird mit Ausnahmeereignissen ein Bild verfestigt, der alltägliche Horror, aber das ist nur ein Ausschnitt, das ist nicht der Normalzustand... Eine Sache, die meine Nachbarn immer sagen, ist mir wichtig: „Wenn alle Muslime Terroristen wären, dann würde der Wedding längst in Schutt und Asche liegen.“

Und sie haben ja Recht, wenn hier alle Verbrecher oder Gotteskrieger wären, könnte ich nicht jeden Tag entspannt durch ein Haus gehen, in dem mir die Kinder meiner irakischen Nachbarn während des Zuckerfestes Süßigkeiten vorbeibringen.

Das Gleiche gilt aber umgekehrt auch: Trotz Exzessen wie in Freital sind nicht alle Menschen in Sachsen Nazis, im Gegenteil. Ich hatte dort im Frühling wunderbare Lesungen.

Man darf also genauso wenig von ein paar Terroristen auf alle Flüchtlinge schließen, wie man von 14.000 Pegida-Mitläufern auf ein ganzes Bundesland schließen sollte. Mit dieser Betrachtungsweise machen wir es uns zu einfach. Darin lauert die Gefahr. Und deshalb, ich habe es ja bereits gesagt, gibt uns die Begegnung die Chance zur Aufschlüsselung des Ganzen.

MILIEU: Und zum Schluss die Frage - haben Sie einen Wunsch für die Zukunft Ihrer Heimat Deutschland?


Vogelsang: Ja – dass wir das wirklich schaffen! So leer ich diese Phrase finde. Es ist ja ein politischer Werbeslogan, eine Durchhalteparole, die aus dem Moment entstanden ist, unter dem Druck der Krise. Und ich weiß, dass es schwer wurde, aber ich hoffe, dass wir in zehn Jahren stolz darauf sein können, aus den Kämpfen, Krisen und Zerwürfnissen dieser Jahre gestärkt hervor gegangen zu sein.

MILIEU: Vielen Dank für das Interview, Herr Vogelsang! 

 

 

 

 

Foto: Philipp Wente

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