Kurzgeschichten

Meine Heimat

01.12.2016 - Dr. Sarfraz M. Baloch

Mit Bernd*, Volker und seinen vier weiteren Geschwistern saß ich im VW-Kombi, verteilt auf Hintersitzen und im Kofferraum. In jedem Dorf winkten wir aus dem Kofferraum heraus den vorbeifahrenden Polizisten zu, die zurückwinkten ohne uns anzuhalten. Als einziger anders Aussehender bin ich im Auto bestimmt aufgefallen dennoch lächelte der Polizist. Dieses Lächeln habe ich bis heute nicht vergessen. Bis auf zwei Halunken hat mich in der Schule niemand abgelehnt. Jeder hieß mich willkommen, ja, ich war immer willkommen.

Meine Lehrerinnen, Frau Speckmann und Frau Heinz haben mir die Feinheiten der deutschen Sprache nähergebracht und applaudiert, als ich ein Gedicht von Goethe vortrug, ohne die tiefe Bedeutung der Worte zu begreifen. Sie vertrauten mir. Sie hießen mich willkommen. 

Meine Lebensreise ging über die Realschule und das Gymnasium bis zur Universität. Meine Mitschüler waren nicht rassistisch, sie hatten nichts gegen mich. Und falls doch, dann so diskret, dass ich es komplett vergessen habe. Geblieben sind aber die schönen Erinnerungen: an die immer lächelnde Nathalie, das spontane Lachen von Frank über inhaltsleere Witze und viele andere, mir ans Herz gewachsene Mitschüler und Kommilitonen mit ihren Besonderheiten. Die Aufmerksamkeit meiner Lehrer, das Helfen meiner Mitschüler. Sie waren stets für mich da. 

Und obwohl ich in meiner Identitätskrise manchmal eine Herausforderung für meine Mitschüler war, ließen sie mir das nicht anmerken. Sie halfen mir in meiner schweren Zeit. Auch in meiner selbstzerstörerischen Phase hielt mich ein Lehrer, bei dem ich keinen Unterricht hatte, auf dem Schulparkplatz auf und versuchte, mich umzustimmen, mein Talent, welches das auch gewesen sein mag oder welches er auch entdeckt haben mag, nicht zu vergeuden. Seine besorgten Blicke sind geblieben, obwohl ich nicht verstand, was er von mir wollte. 

Geblieben sind aber auch die Momente, als ich mich im Stillen fragte, warum diese vollkommen „anderen“ Menschen sich um mich so viele Sorgen machten. Welche Aufgabe sahen sie für ihr Leben? Was sahen sie in mir? Warum unterstützte mich Frau Heinz dabei, schnellstmöglich von der Hauptschule wegzugehen und am Gymnasium meine Ausbildung fortzusetzen? Warum hielt Herr Zahn monatlich seine eindrücklichen Reden, um mich in meiner Phase der unglücklichen Verliebtheit zu motivieren, damit ich meine Noten im Abitur verbesserte? Warum wurde mir die Bücherei in der Abtei für meine Gebete angeboten? Und, eigentlich unfassbar, warum bot mir der Sozi-Lehrer Kirchenasyl an? 

Ich kann all die Fragen beantworten. Sie halfen mir, weil sie das mussten. Sie retteten mich, weil sie das mussten. Sie taten es aus einer inneren Überzeugung heraus, die einem keine andere Wahl lässt. Sie taten es aus ihrem inneren „Zwang“ heraus, einem Hilflosen, Orientierungslosen den rechten Weg zu zeigen. Das waren die Deutschen und sie hatten mich angesteckt. Sie hatten mir klar gezeigt, dass sie in der Menschlichkeit mir überlegen waren. Sie zeigten mir die unentgeltliche Güte, zu der sie fähig waren, obwohl ich keineswegs all das verdient hatte. Und ich bin dankbar dafür. Hier war ich ein Mensch, hier wollte ich sein. Hier gehörte ich hin. 

Deutschland ist meine Heimat, ist mein Land. Ich gehöre hierhin mit Leib und Seele, mit all meiner Liebe und mit all meinen Lieben. Die Verteidigung jener Werte, die mir durch Taten dieser Menschen vermittelt wurde, ist mir eine Verpflichtung. Ob im kleinen oder großen Kreis, ich lebe diese Berufung aus.  Mein Deutschland besteht nicht aus Deppen, die meinen, sie müssten das Wertvollste dieses Landes damit verteidigen, in dem sie gerade das Wertvollste kaputt machen. Deutschland ist nicht das Land dieser Rassisten. Nie und nimmer werden diese gestörten Menschen die Herzen jener gewinnen, die diesem Land mit Demut dienen. 

Das ist nicht nur meine Geschichte. Solche Geschichten gibt es überall in ganz Deutschland. Vielleicht ist der Anteil auf dem „flachen Land“ geringer, aber auch dort gibt es Leute, die diesen angeblich „echten Deutschen“ lehren, was Deutschsein heißt. Deutschland und die Deutschen sind nicht so hässlich wie diese „kargen“ Menschen es meinen. Deutschland ist durch die Vielfalt noch schöner geworden. In diesem Garten sind viele neue farbenprächtige Blumen aufgetaucht. Es ist keine geistige Monokultur mehr. 

Egal, wie sehr die Populisten sich aufregen, der Chai-Trinker-Neurochirurg gehört hier genauso hin wie der Couscous-Liebhaber-Geschäftsmann. Der Döner-Macher gehört zu Deutschland, wie der Nudel-Hersteller. Der Kirchenturm neben dem Moscheeminarett wird das Stadtbild prägen. Der Muslim wird hier neben dem Juden und Christen in Frieden leben und umgekehrt. So wird es sein und nicht anders. Diesem Deutschland gilt meine Liebe, keinem anderen. 

 

*Die Namen sind fiktiv, aber die Personen nicht!

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