Politikwissenschaftler im Interview

Prof. Ulrich Menzel: "Die USA haben ihren Zenit überschritten"

15.03.2017 - Lisa Haller

Warum sind die USA eine Weltmacht und warum lassen das andere Staaten zu? DAS MILIEU sprach mit dem emeritierten Professor für internationale Beziehungen aus Braunschweig, Prof. Ulrich Menzel über sein Buch „Die Ordnung der Welt“, die Beziehungen der Staaten untereinander, warum die USA Weltpolizei spielen und dennoch immer weniger Einfluss ausüben werden.

DAS MILIEU: Ihr Buch „Die Ordnung der Welt“ ist das Ergebnis langjähriger wissenschaftlicher Forschung und mit über 1200 Seiten hat es einen stolzen Umfang. Wie kamen Sie auf die Idee, die Ergebnisse Ihrer Forschung in einem Buch zu veröffentlichen?

 

Prof. Ulrich Menzel: „Die Ordnung der Welt“ ist nicht das erste Buch, das ich veröffentlicht habe. Ich habe mittlerweile fast 30 Bücher und viele Aufsätze entweder selber verfasst oder mit herausgegeben. Es ist normal, dass man als Wissenschaftler seine Forschungsergebnisse unter die Leute bringen will, sei es in Form von Lehrveranstaltungen und Vorlesungen, Vorträgen, Aufsätzen oder Büchern. Das ist das eigentliche Interesse, warum man überhaupt Forschung betreibt. In meiner Generation ist es üblich, dass dies in Buchform geschieht bei einem möglichst renommierten Verlag.


DAS MILIEU: Mit welchen Fragen haben sie sich in ihrer Forschung beschäftigt, worüber Sie dann in dem Buch „Die Ordnung der Welt“ schreiben?

 

Prof. Menzel: Mein eigentliches Spezialgebiet ist die Theorie und Geschichte des internationalen Systems. Seit es dieses Fach als akademische Disziplin gibt, stellt sich angesichts des Umstandes, dass es kein überstaatliches Gewaltmonopol gibt, die zentrale Frage, wie Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt entstehen kann.

Die einzelnen Staaten des internationalen Systems haben unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Wertvorstellungen. Das kann in ihrem Außenverhalten zu Konflikten führen. Das können Handelskonflikte sein, das können im äußersten Fall aber auch militärische Konflikte sein. Die zentrale Frage, die sich das Fach der Internationalen Beziehungen stellt, lautet: Wie kann man diese Konflikte vermeiden? Wie kann man in die Anarchie der Staatenwelt eine Ordnung etablieren, die das gedeihliche Zusammenleben der Staaten ermöglicht, so dass alle Staaten möglichst zufrieden sind, dass ihre Interessen wahrgenommen werden, aber auf der anderen Seite auch die globalen Interessen als Ganze nicht zu kurz kommen?

Auf diese Frage gibt es im Fach der Internationalen Beziehungen klassischerweise zwei Antworten - die idealistische und die realistische. Die idealistische Antwort setzt auf die Kooperation der Staaten. Das heißt, die Staaten schließen Verträge, unterwerfen sich den Regeln des Völkerrechts, werden Mitglied in internationalen Organisationen, nehmen diplomatische Beziehungen auf. Die realistische Antwort setzt auf die Karte der Selbsthilfe. Jeder Staat versucht, so gut er kann, aus eigener Kraft seine Interessen nach außen zu vertreten. Dafür braucht er Macht. Das ist in erster Linie militärische Macht, das ist aber auch wirtschaftliche Macht. Dieser Ansatz ist natürlich für große Staaten sehr viel einfacher möglich als für kleine Staaten. Kooperation oder Selbsthilfe sind die beiden klassischen Antworten, um mit der Problematik der Anarchie der Staatenwelt umzugehen.

Ich bin von einer anderen Perspektive ausgegangen. Grundsätzlich ist diese nicht völlig neu, sehr wohl aber wie ich sie im Detail ausgearbeitet habe. Meiner Ansicht nach ist nicht die Anarchie der Staatenwelt das vorherrschende Merkmal des internationalen Systems, sondern die Hierarchie. Die Staaten sind zwar in einem völkerrechtlichen Sinne gleich, alle können für sich das Souveränitätsprinzip in Anspruch nehmen und es gibt keine überstaatliche Instanz. Allerdings bilden die Staaten im internationalen System eine Pyramide, egal, ob man das Territorium, die Bevölkerung, das Bruttosozialprodukt, die wissenschaftliche und technische Leistungsfähigkeit, die Geschichte, die Wettbewerbsfähigkeit, die Ausstattung mit Bodenschätzen betrachtet. Im Grunde kann jedes beliebige Kriterium genannt werden und man wird immer feststellen können, dass es eine Hierarchie der Staaten gibt. Allerdings ist es nicht so, dass die Staaten, die, aus welchen Gründen auch immer, an der Spitze stehen, für immer in dieser Position verbleiben. Im Laufe der Geschichte kann man vielmehr sehen, dass es Aufwärts- und Abwärtsmobilität innerhalb der Hierarchie der Staatenwelt gibt.

Meine These, das versuche ich auf den 1200 Seiten des Buches darzulegen, ist, dass die Staaten, die jeweils an der Spitze der Hierarchie stehen, stellvertretend für den nicht vorhandenen Weltstaat eine internationale Ordnungsfunktion wahrnehmen. Das Instrument mit dem sie das tun, ist die Bereitstellung von sogenannten Internationalen Öffentlichen Gütern. Im nationalen Rahmen ist der Staat zuständig für die Bereitstellung der Öffentlichen Güter. Zum Beispiel, indem er Straßen baut und die Regeln zu deren Nutzung, im Falle des Beispiels in Form der Straßenverkehrsordnung, festlegt. Gleichzeitig ist er auch in der Lage Regelverletzungen zu sanktionieren, indem er Strafmandate verteilt.

Die Frage lautet nun, wer den Bedarf nach Internationalen Öffentlichen Gütern deckt - beispielsweise den Schutz des Eigentums außerhalb der Landesgrenzen. Wer sorgt dafür, dass die internationalen Infrastrukturen wie etwa die Fahrpläne der nationalen Eisenbahnunternehmen koordiniert werden? Wer spielt die Rolle des Weltpolizisten?

Derjenige, der an der Spitze der Staatenhierarchie steht und die größte Leistungsfähigkeit besitzt, sorgt für die Bereitstellung dieser Güter. Er steht vor dem Freiwilligendilemma. Entweder ist tue es und trage auch die Kosten oder es tut keiner. Allerdings hat er selber auch den größten Nutzen davon. Alle anderen Staaten sind mehr oder weniger „Freerider“ und deshalb auch bereit, die Führungsrolle von dem, der an der Spitze steht, zu akzeptieren.


DAS MILIEU: Was sind Beispiele für Internationale Öffentliche Güter?

 

Prof. Menzel: Ein Beispiel ist der amerikanische Nuklearschirm, unter dem auch die Bundesrepublik steht. Wenn es eine Krise am Persischen Golf gibt, dann wird ein amerikanischer Flugzeugträger in die Region geschickt, um die Ölversorgung für alle Länder zu garantieren. Weitere Beispiele sind Kampf gegen den Terror mit Hilfe von Drohnen, der Kampf gegen die neue Piraterie, Orientierungs- und Informationssysteme wie GPS und Internet.

Alles das sind Internationale Öffentliche Güter, die wir im Grunde genommen zum Nulltarif nutzen. Die Bereitstellung solcher Güter ist das Instrument, mit dem Weltordnung geschaffen wird. Es gibt in vielen Bereichen einen Bedarf nach internationaler Ordnung und es es muss jemanden geben, der diesen Bedarf deckt.

Wenn man nach dem Selbsthilfeprinzip verfahren würde, wäre die Alternative, dass jedes Land Nuklearmacht werden müsste, jedes Land Flugzeugträger in Dienst stellen müsste, den Drohnenkrieg führen, sein eigenes GPS und sein eigenes Internet aufbauen müsste und so weiter. Die kleinen Staaten könnten das gar nicht leisten und viele nur zu sehr hohen Kosten mit einem schlechten Ergebnis.


DAS MILIEU: „Die Ordnung der Welt“ beginnt mit dem ambitionierten Satz „Mit diesem Buch will ich die Welt erklären…“ – ein Anliegen an dem schon Goethes Faust gescheitert ist („wissen was die Welt im Innersten zusammenhält“). Inwiefern kann Ihr Buch die Welt erklären und ist es Ihnen gelungen diesem Anspruch gerecht zu werden?

 

Prof. Menzel: Ich meine den Satz nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinne, so wie Goethes Faust, der ja bekannter Weise Naturwissenschaftler war. Ich meine den Satz in einem institutionellen Sinne. Wer sorgt für die Ordnung der Welt, wer ist in der Lage, die Anarchieproblematik einzuhegen? Wenn das niemand macht, gibt es, salopp ausgedrückt, permanent Mord und Totschlag, jeder gegen jeden.

Wir erleben derzeit eine Phase, in der „die Unordnung in der Welt“ in einem dramatischen Ausmaß wieder zunimmt. Ich habe den Eindruck, dass mein Buch auf große Resonanz stößt, wenn ich mir die Absatzzahlen anschaue, die guten Rezensionen, die ich bekommen habe, die vielen Anfragen für Vorträge, aber auch Interviews oder Kurzfassungen, die ich für alle möglichen Zeitschriften verfassen soll. Das bestätigt mich darin, dass ich offensichtlich auf eine Frage eine Antwort anbieten kann, die derzeit viele Leute beschäftigt, so dass das Buch auf großes Interesse stößt. Ich glaube, dass ich dem Anspruch, den ich mir gestellt habe, gerecht geworden bin.


DAS MILIEU: Die Herangehensweise in Ihrem Buch ist historisch, kann man von der Geschichte auf die Gegenwart oder gar die Zukunft schließen?

 

Prof. Menzel: Das ist eine methodische Frage. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man eine Fragestellung beantworten kann. Eine dieser Methoden ist die historisch-komparative. Ich halte sie für die Beste überhaupt, sozusagen den Königsweg zur Erkenntnis.

Der Name meiner Professur lautete vollständig „Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre“. Das Komparative war bereits im Namen meiner Professur enthalten. Ich habe mehrere Bücher aus dieser komparativen Sicht geschrieben. Ich glaube, dass man nur mit Hilfe des Vergleichs von vielen Fällen die Besonderheiten des einzelnen Falls erkennen kann. Da es bezüglich der Frage, wer für Ordnung in der Weltsorgt, nicht so viele Fälle gab oder gibt, bin ich 1000 Jahre zurückgegangen und habe fast eine Totalerhebung gemacht. Ich habe sämtliche Fälle der letzten 1000 Jahre untersucht, in denen eine einzelne große Macht die Ordnungsfunktion in der Welt wahrgenommen hat. Man muss eine gewisse Fallzahl haben, um daraus verallgemeinernde Aussagen machen zu können.

Das andere Argument ist, dass man nur wirklich verstehen kann, warum eine jeweilige Konstellation vorliegt, warum die Welt so ist wie sie jetzt ist, wenn man die Entstehungsgeschichte zurückverfolgt. Nur aus der Analyse der Geschichte ist die Gegenwart verstehbar und damit eine Politikempfehlung für künftiges Handeln möglich. Ich verstehe das als eine Trias: Nur, wenn man sich mit der Geschichte befasst hat, kann man die Gegenwart verstehen und nur auf der Basis dieses Verständnisses kann man Aussagen für die Zukunft treffen. Darum geht es mir. Mein Buch soll ja nicht nur eine Erzählung sein, wie es gewesen ist, sondern im allerweitesten Sinne den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik oder im internationalen Raum beeinflussen.

Mein Buch setzt vor 1000 Jahren ein, weil das, was wir heute Globalisierung nennen, nämlich intensive Kontakte zwischen den einzelnen Teilen der Welt, vor etwa 1000 Jahren begonnen hat - zunächst auf dem Landweg, der sogenannten Seidenstraße zwischen Europa und Asien. Erst in dem Moment, in dem die einzelnen Teile der Welt in Kontakt treten, gibt es überhaupt einen Bedarf nach internationaler Ordnung. Vorher nicht. Der Bedarf entsteht durch Wanderungen, durch Handel, durch Informationsaustausch. Diese Kontakte oder Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Welt sind im Laufe der Zeit immer dichter und immer schneller geworden. Das führt dazu, dass im Laufe der Zeit auch der Bedarf nach einer internationalen Ordnung immer größer geworden ist.

 

DAS MILIEU: Welche Art der Weltordnung kann ein ideales Zusammenspiel der Staaten gewährleisten im Sinne von maximaler globaler Sicherheit, einer gerechten Ressourcenverteilung, von effektivem Umweltschutz?

 

Prof. Menzel: Die Frage stellt sich auf der normativen Ebene, die man streng von der analytischen Ebene trennen muss. Die analytische Ebene beschäftigt sich mit dem, was ist, die normative Ebene dagegen mit dem, was sein soll. Ein ideales Zusammenspiel der Staaten ist die Kooperation der Staaten. Die ideale Vorstellung lautet, dass sich den Normen des Völkerrechts unterwerfen, dass ausschließlich das Recht und nicht die Macht ihre Beziehungen regelt.

Man muss leider sagen, dass es viele Beispiele gibt, in denen das nicht funktioniert. Das System der UNO, das nach dieser normativen Vorstellung 1945 gegründet worden ist, funktioniert nicht oder nur schlecht, weil es immer die Freerider Problematik gibt. Viele denken, dass der eigene Beitrag so gering ist, dass es gar nicht ins Gewicht fällt, wenn man sich zurückhält. Zum Beispiel ist die Schweiz, weder Mitglied der EU noch Mitglied der NATO, Trittbrettfahrer bei beiden Organisationen. An den Kosten der NATO beteiligt sie sich gar nicht, an den Kosten der EU nur unzureichend, obwohl sie überall Nutznießer ist. Da gibt es viele weitere Beispiele.

Die idealistische Vorstellung lautet, dass der Umweltschutz, die Menschenrechte, der Wohlstand und der Frieden auf kooperative Weise zustande kommen. Ich bin insofern Realist, als ich die vielen Schwachpunkte dieser Sichtweise erkenne. Letztendlich können wir ja auch momentan beobachten, dass viele dieser Internationalen Organisationen zur Disposition gestellt werden, beispielsweise die EU, die aus diesem idealistischen Denken heraus gegründet worden sind.


DAS MILIEU: Sie unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Herrschaftsformen, den Hegemonialmächten und den Imperialmächten. Was bedeutet das?

 

Prof. Menzel: Hegemonialmächte und Imperialmächte – das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Im ersten Begriff steckt das griechische Wort „hegemonia“ im Sinne von Führerschaft und im zweiten das lateinische Wort „imperium“ im Sinne von Herrschaft.

Das heißt, der Hegemon ist der Anführer. Aber der Begriff enthält ein Element der Freiwilligkeit von Seiten derer, die die Führungsrolle akzeptieren. Beispielsweise die Führung USA innerhalb der NATO. Dagegen beruht das Imperium auf Herrschaft, auf Zwang, auf Eroberung, also auf Knechtschaft statt auf Freiwilligkeit. In dem Sinne war die Sowjetunion bis 1990 ein Imperium, weil sie die zu ihrem Einflussbereich gehörenden Staaten militärisch besetzt hat. Die Versuche des Ausbruchs aus dem Imperium – in Polen, in Ungarn, in der CSSR - wurden mit militärischem Einsatz unterdrückt. Auch im Römischen Reichwar in jeder Provinz eine Legion stationiert, um gegebenenfalls den Aufstand unterdrücken zu können. Die Hegemonialmacht stellt ihre Internationalen Öffentlichen Güter für die ganze Welt zur Verfügung, für alle, die daran partizipieren möchten. Das Imperium hingegen stellt nur sogenannte Clubgüter zur Verfügung für diejenigen, die zum Club des Imperiums gehören. Insofern war der Ost-West-Konflikt auch ein Konflikt zwischen hegemonialer und imperialer Weltordnung.


DAS MILIEU: Die Welt ist momentan in einem seltsamen Zustand; die Wahl Trumps als Präsidenten der Vereinigten Staaten und der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU. Europaweit finden nationalistische Parteien Anklang, der Ton der öffentlichen Debatte ist zunehmend populistischer geworden. Ist all das Ausdruck eines internationalen Umbruchs? Kann man Angesichts dieser Entwicklungen noch von einer Ordnung der Welt sprechen oder ist die Welt nicht unlängst in Unordnung ausgebrochen?

 

Prof. Menzel: Ich vertrete die Position, dass die USA den Zenit ihrer überragenden Bedeutung und überragenden Leistungsfähigkeit in jeder Hinsicht erreicht beziehungsweise überschritten haben. Trumps Wahlslogan „Make America Great Again“ sagt ja indirekt: „Wir waren mal größer als wir jetzt sind“. Der relative Gipfel der amerikanischen Führung war wahrscheinlich 1945 erreicht. Seitdem haben alle möglichen anderen Länder aufgeholt. Vor allem China ist jetzt der große Herausforderer. Das bedeutet, dass die USA die internationale Ordnungsfunktion nicht mehr so wahrnehmen können, wie das früher der Fall war, weil ihre relative Leistungsfähigkeit im Vergleich zu den aufholenden Staaten geringer geworden ist.

 

Die USA sind Opfer ihrer früheren Führungsposition geworden. Man sagt, dass eine große Macht, die ihren Gipfel überschritten hat und sich wieder in einem relativen Abstiegsprozess befindet, vor einem Dilemma steht - dem Dilemma von Positions- und Statusverlust. Mit Position ist ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit gemeint, letztlich die Basis für die internationale Rolle, die sie spielen, und mit Status ist der Status als Führungsmacht gemeint.

Wenn ich meinen Status als Führungsmacht behaupten will und eine liberale Welthandelsordnung garantiere, verliere ich meine Position im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit. Wenn ich aber diese liberale Ordnung selber in Frage stelle und protektionistisch werde - und das will Trump ja - dann versuche ich, meine Position zu behaupten oder wieder zu verbessern. Ob das gelingt, ist eine andere Frage. Aber ich verliere so meinen Status als Führungsmacht. Entweder das eine oder das andere. Trump hat sich offensichtlich für die Bewahrung der Position und gegebenenfalls für die Aufgabe des Status entschieden. Widersprüchlich ist seine Ankündigung, aufrüsten zu wollen, was gar nicht nötig ist. Mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben fallen allein auf die USA.

Mittlerweile hat die USA einen neuen Konkurrenten, China, in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Das ist einer der Gründe für die Rückkehr der American Decline -Debatte. Die marode amerikanische Infrastruktur beispielsweise rührt auch daher, dass Amerika so viel Geld für das Militär ausgegeben hat. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit auf dem zivilen Sektor geschwächt. Trump ist überwiegend von den Verlierern der Globalisierung gewählt worden, von der weißen Bevölkerung aus den Industriestaaten im Nordosten der USA um das Gebiet der großen Seen herum. Da sind der industrielle Niedergang und die Verwahrlosung der Städte besonders ausgeprägt. Da sitzen die Verlierer der Globalisierung. Sie haben Trump gewählt in der naiven Erwartung, dass er die Zeit im Schnellverfahren wieder zurückdrehen kann. So kann man die Wahl von Trump erklären und seine Politik, die Ausdruck eines relativen Niedergangs ist.

Die Konsequenz ist, dass die Anarchie zwischen den Staaten zurückkehrt. In dem Moment, in dem die Hierarchie abflacht, kehrt die Anarchie der Staatenwelt zurück. Wir erleben gerade, wie die internationale Ordnung, die wir schätzen gelernt haben und in der wir aufgewachsen sind, in Frage gestellt wird. Insofern ist das, was sich momentan abzeichnet, viel fundamentaler als das, was wir 1989/90 erlebt haben. Damals hat sich der Westen nur auf den Osten ausgedehnt. Was wir jetzt erleben, ist ein regelrechter Umbruch, weil die westliche oder amerikanische Ordnung in Frage gestellt wird. Das heißt wiederum, dass die Anarchie für eine bestimmte Übergangsphase zurückkehrt, bis eine neue große Macht die Ordnungsfunktion übernimmt.

Der Staat, der einem am ehesten dafür einfällt, ist China, Darauf muss man allerdings noch eine Weile warten. So ungefähr um 2030/35 wird das chinesische Sozialprodukt das amerikanische übertroffen haben und irgendwann auch der chinesische Militärhaushalt den amerikanischen erreicht haben. Oder es gelingt, wovon ich nicht überzeugt bin, ein relativer Wiederaufstieg der USA. Auch diese Variante ist in der Geschichte schon vorgekommen.

 

DAS MILIEU: Europakritische Parteien haben in vielen Mitgliedsländern der EU stetig an Zuwachs gewonnen und Europa durchläuft eine schwierige Zeit. Denken Sie, dass Europa gescheitert ist?

 

Prof. Menzel: Europa als gescheitert anzusehen, finde ich zu krass. Aber Europa befindet sich in einer ganz fundamentalen Krise. Es gibt in allen Mitgliedsstaaten starke populistische, antieuropäische Bewegungen. Wenn Marine Le Pen, die mit ziemlicher Sicherheit in die Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahl kommen wird, Frankreichs Präsidentin werden sollte und den angekündigten Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union wahrmacht, dann ist Europa am Ende. Solange es nur Großbritannien ist, ist das noch verkraftbar, zumal es in gewisser Weise immer Bremser war.


DAS MILIEU: Haben sie eine Vorstellung, wie sich die Weltordnung entwickeln könnte im nächsten Jahrhundert - wie wird sich das Mächtegewicht verschieben?

 

Prof. Menzel: Ich sehe, dass wir momentan in einer Übergangsphase sind, in der die Anarchie oder „Unordnung“, wenn man so will, der Welt zurückkehrt. An vielen Beispielen kann man das erkennen. Vieles wird in Frage gestellt. Ich gehe davon aus, dass die Ordnung selbst, die wir kennen und schätzen, zur Disposition steht, dass die Anarchie auf unabsehbare Zeit wieder zurückkehrt, bis sich eine neue große Macht herausgebildet hat oder die alte große Macht zurückgekehrt ist.

 

DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Menzel!



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