Sport

Schicksalsspiel: Am Fußball entscheidet sich die Zukunft Europas

15.06.2016 - Dr. Christoph Quarch

Es ist wieder so weit: Europameisterschaft. König Fußball bittet zum Tanz, und alle machen mit: Ukrainer und Russen sind dabei, Polen und Briten. Wenn’s um Fußball geht, kann von Brexit keine Rede sein. Und das, obwohl der „Club“, der diese Meisterschaft veranstaltet – die UEFA –, skandalumwittert ist wie kaum ein anderer; und das, obwohl die Angst vor Terror um sich greift.

Nein, all das kann die große Begeisterung nicht trüben. Millionen sitzen vor den Bildschirmen, treffen sich zum Public Viewing, fiebern mit: Männer und Frauen, Reiche und Arme, Religiöse und Atheisten – alle.

Wirtschaft gegen Kultur

Wie stellt der Fußball dieses Kunststück an? Was ist sein Geheimnis, dass er ganz Europa fasziniert – und dass er trotz Skandalen seine Attraktivität nicht einbüßt. Wir kommen dem Geheimnis näher, wenn wir uns vor Augen führen, dass sich im Fußball zwei einander entgegengesetzte Mächte treffen: Ökonomie und Spiel. Man könnte auch sagen: Homo Oeconomicus (der wirtschaftende Mensch) und Homo Ludens (der spielende Mensch). Oder: Wirtschaft und Kultur. So oder so: die beiden großen geistigen Konfigurationen, die wie zwei Pole das Spannungsfeld öffnen, in dem sich Europa bewegt – und in dem sich das Schicksal Europas entscheiden wird: Marktplatz oder Kulturraum?
Die Zeichen stehen auf Marktplatz. Das liegt im Naturell des Homo Oeconomicus. Mit tyrannischer Kraft neigt er dazu, sich auszubreiten und die Lebenswelt der Menschen zu kolonialisieren. Die Politik hat er längst erobert, das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, das Sozialwesen; auch die Kultur und erst recht den Sport. Allein, das Fußballspiel hält noch dagegen. Sein Umfeld ist schon längst zum Business mutiert, jedoch das Spiel als solches ist immer noch ein Spiel. Es leistet seiner Ökonomisierung unerbittlichen Widerstand.

Der Zauberkreis des Spielgeschehens

Das liegt im Naturell des Spiels. Es hat eine Spielzeit und ein Spielfeld. Das sind die Grenzen, die es vor dem Zugriff des Homo Oeconomicus schützen. Mag der auch noch so geschickt das Spiel zur konsumierbaren Ware für Zuschauer konvertieren, mag er noch so sehr im Merchandising schwelgen und mit Lizenzen handeln, mag er das Spiel noch sehr seiner Profitgier unterwerfen – den Zauberkreis des Spielgeschehens kann er doch nicht brechen. Das Spiel, solange es seine Unschuld wahrt, entzieht sich seinen Krallen.
Deshalb trotzt der Fußball noch dem Business. Wird auch das Spiel als Ware hoch gehandelt, als Spiel hält es sich von Logik und Denkweise des Wirtschaftens frei. Zwischen Anpfiff und Abpfiff geht es den Spielern nur noch um das Spiel. Gewiss, auch sie wollen gewinnen, das liegt in der Logik dieses Spiels. Doch Gewinnen-Wollen ist etwas anderes als Nach-dem-Gewinn-Schielen. Dem Spieler (wenn er denn ein Spieler ist) geht es ums schöne Spiel. Schön ist es immer dann, wenn es unberechenbar bleibt, wenn es sich dem strategischen Kalkül und der Kontrolle entzieht – wenn es all das nicht hat, was der Homo Oeconomicus so sehr liebt.

Der Stoff, aus dem Tragödien sind

Weil das so ist, können im Spiel Dinge geschehen, die sich in der von Zweckrationalität und instrumenteller Vernunft (Max Horkheimer) beherrschten Welt des Homo Oeconomicus nie zutragen dürfen, wohl aber dort zu Hause sind, wo das Spiel ursprünglich herkommt: in der griechischen Tragödie. Die Macht des Schicksals tritt grausam hervor: Ein Pfostenschuss von Schweinsteiger zerstört den Traum vom „Finale daheim“. Ungerechtigkeit wird nicht geahndet: Maradonas „Hand Gottes“ erzwingt den Sieg gegen England. Ein Mann mutiert zum Bock: Zidane rammt Materazzi die Hörner in den Leib. Das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind. Das ist der Stoff, der aus dem Fußballspiel ein Drama macht. So lange so etwas beim Fußball vorkommt, ist das Spiel noch nicht zum Business entseelt, sondern bleibt ein kulturelles Geschehen höchster Güte. Das heißt: In ihm bekundet sich das wahre Menschsein: es leuchtet auf in seiner Größe – der Größe einer Niederlage und der Größe des Triumphes.
Doch, wie gesagt, der Fußball ist bedroht. Die gierige Klaue des Homo Oeconomicus greift nach ihm. Er hypt das Spiel, was das Zeug hält. Jeden Flaschendeckel ziert demnächst das Konterfei der Spieler. So wird der Fußball vom Homo Oeconomicus populär gemacht, obwohl sein Geist sich nicht mit dem des Spiels verträgt. Er führt den Fußball vor, wie einen strahlenden, kraftvollen König in einem unsichtbaren Käfig. Er stellt ihn auf dem Marktplatz aus. Ihn feilzubieten, ist des Homo Oeconomicus größter Triumph – und seine größte Gefahr. Denn der König ist nicht tot, das Spiel birgt immer noch ein subversives Potenzial. Sollte der Homo Ludens ausbrechen, wäre die Herrschaft des Homo Oeconomicus gebrochen.

Verhängnis und Rettung

Das also ist das Geheimnis des Fußballs. Er trägt in sich die Spannung zweier Mächte aus: die Macht der Wirtschaft, die Europa heute an den Abgrund treibt; und ebenso die Macht des Spiels, die immer wieder – erst in Griechenland, später in Renaissance und Barock – Europas kulturelle Blüte beflügelt hat; und die neu zu entfesseln, einen Weg aus jener zivilisatorischen Krise weisen könnte, die Europa derzeit heimsucht. So gesehen war das Ziel der Islamisten gut gewählt, als sie in Paris das Stade de France angriffen. Wer den Fußball trifft, trifft in eins die verhängnisvoll herrschende Macht Europas (den Geschäftsgeist) und die Macht, die Europa retten könnte (seine Spielkultur).
Zumal das Fußballspiel nicht nur eine schöne, spielerische Gegenwelt zum globalen Marktplatz inszeniert, sondern auch alle jene Werte und Tugenden feiert, die den europäischen Geist auszeichnen: Teamgeist und Fairness, Disziplin und Kreativität, Respekt und Willenskraft, Größe in Sieg und Niederlage. Vor allem jenes Ineinander intensiver Verbundenheit in der Mannschaft und virtuoser Entfaltung individueller Potenziale der Spieler. Das alles macht die Schönheit jenes Spiels aus, die völlig unabhängig davon ist, wer zuletzt gewinnt. Wenn diese Tugenden und Werte bei der jetzigen EM bekundet werden, gewinnt auf jeden Fall Europa – ganz egal, wer schließlich im Finale steht. So lange Europa spielt, wird sie nicht untergehen.

Dabei sein ist noch immer alles

Ob sich in Frankreich der Homo Ludens durchsetzt oder der Homo Oeconomicus ihn zur Strecke bringt, entscheidet sich an uns, den Zuschauern und Fans. Von uns geht die größte Bedrohung aus. Das lässt sich am Spielfeldrand eines beliebigen Jugendspiels beobachten. Da brüllt und schreit der Homo Oeconomicus in Gestalt echauffierter Mütter und Väter, da zählt beim Publikum allein der Sieg. Da wird Erfolg zum Zwang. Wenn wir den Spielenden mit dieser Haltung begegnen, zerstören wir ihr Spiel. Spielen braucht Bildung, nicht Gier. Wir sollten jenen schönen Geist des „Dabei sein ist alles“ nicht voreilig auf dem Altar des Erfolgs opfern.

Und ebenso wenig sollten wir dem Ungeist des Kontrollwahns frönen. Torkamera, Videobeweis – all das mag den kontrollhungrigen Homo Oeconomicus freuen, dem Spieler ist es ein Greul. Warum? Weil durch Kontrolle jene magischen Momente zunichte gemacht werden, die über Jahrzehnte das Spielerherz entzücken. Man denke nur ans „Wembley-Tor“. Wieviel schöner ist doch eine ungerechte Niederlage als ein verdienter Sieg?

Bei dieser EM geht es nicht um Sieg und Niederlage einer Mannschaft, sondern um Sieg und Niederlage jenes Geistes, der Europas Kultur hervorgebracht hat und groß hat werden lassen. Es geht darum, ob das Fußballspiel endgültig zur bloßen Ware konvertiert wird oder uns als Kulturereignis erhalten bleibt. Um Europas willen sagen wir: Das Spiel möge gewinnen.

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