Eine Frage des MILIEUs

"Warum ist Selbstmord verboten?"

01.12.2016 - Prof. Manfred Wolfersdorf

Als Erstes: Wir reden heute schon lange nicht mehr von „Selbstmord“, denn Menschen mit Suizidideen, suizidalen Handlungen (Suizidversuch, Suizid das heißt verstorben) sind in den meisten Fällen Menschen in schwierigen und hoffnungslosen psychosozialen Situationen, die unseres Verständnisses, unserer Hilfe und Unterstützung bedürfen; es sind keine „Mörder“.

Suizidalität gibt es, seit es Menschen gibt, in allen Gesellschaften und Kulturen. Die Bewertungen sind bis heute unterschiedlich: Ausdruck größter Freiheit, Ausdruck größter Einengung in Krankheit, gesellschaftliche Pflicht oder Verstoß gegen religiöse Überzeugungen, Selbsttötung als Waffe in kriegerischen Auseinandersetzungen oder als Opfer für andere Menschen, für politische oder religiöse Überzeugungen. Der Suizid müsse alle Zeitlang neu bewertet werden, hatte Roger Willemsen (2001) gemeint. Die Position der christlichen Kirche war in den ersten Jahrhunderten nach Christus eher neutral und dem Suizidenten verständnisvoll zugeneigt. Erst der Kirchenvater Augustinus (413 – 427 n. Christus) bezog das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ ausdrücklich auch auf suizidale Handlungen und Jahrhunderte später bestätigte Thomas von Aquin dieses dann so genannte „religiöse Paradigma von Suizidalität“. In den letzten Jahrhunderten wurde Suizidalität zunehmend im Zusammenhang mit Melancholie/ Depression und damit von Krankheit gesehen. Für die Psychiatrie und Psychotherapie heute ist Suizidalität ein „psychiatrischer Notfall“ und gilt als Ausdruck psychischer und psychosozialer Not und Hilfsbedürftigkeit, was als „medizinisch-psychosoziales Paradigma“ bezeichnet wird. Suizidalität ist eine menschliche Eigenschaft, die immer dann näher rückt, wenn andere Lösungsmöglichkeiten von Problemen, Bewältigungen von Lebenssituationen, Krankheiten oder sonstigen Belastungen gering werden oder gar verschwinden, oder aufgrund psychischer Erkrankung nicht wahrgenommen werden. Dabei sind sich Medizinethiker, Psychiater und Psychotherapeuten einig, dass die Frage einer wohlerwogenen Selbsttötung bei vollkommener psychischer Gesundheit bzw. bei völligem Fehlen einer psychosozialen Notsituation zwar zu diskutieren ist, vielfach zumindest aus klinischem Blick der psychiatrisch-psychosozialen Versorgung von Menschen in Notsituationen als nahezu rein akademische Frage imponiert. Im psychiatrischen Alltag der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und in psychosozialen Notsituationen und Krisen ist es eine marginale Diskussion.


Suizidale Handlungen, also Suizid und Suizidversuch, sind in Deutschland straffrei; die Tötung auf Verlangen ist strafbewehrt. Für sogenannte Garanten, also Menschen, die in besonderer Fürsorgepflicht für andere stehen – Eltern für Kinder, Angehörige für Partner, Ärzte für Patienten – gilt die Pflicht zur Verhütung suizidalen Verhaltens. Des Weiteren gilt die Pflicht zur Bürgerhilfe, wenn jemand zu einem hilflos gewordenen Menschen mit Suizidversuch kommt und der Handelnde die Tatherrschaft über seine suizidale Handlung z. B. durch Bewusstlosigkeit bei Intoxikation verloren hat; die hinzu kommende Person kann nicht unterscheiden, ob es sich um einen selbstbestimmten Suizid handelt und ist zur Hilfe verpflichtet.

In Deutschland versterben jährlich um 10.000 Personen durch Selbsttötung, etwa 2 – 3 mal mehr Männer als Frauen. Die Suizidrate (Zahl der Suizide auf 100.000 Personen der Bezugsgruppe z. B. Allgemeinbevölkerung pro Jahr) steigt mit dem Alter und ist bei den älteren und alten Männern deutlich höher als bei den Frauen gleichen Alters. Alte Menschen sind also eine Hochrisikogruppe für Suizidalität. Nach heutigem Wissensstand litten bis zu 90 % der durch Suizid Verstorbenen an einer psychischen Erkrankung, zu zwei Drittel an Depressionen, dann an Suchtkrankheiten und an schizophrenen Psychosen. Die wichtigsten Risikogruppen für Suizid sind also psychisch kranke Menschen (Depression, Sucht, Schizophrenie), dann Menschen, die schon einmal näher an Selbsttötung und Selbsttötungshandlungen gerückt waren, wobei sich hier diese Schiene sehr rasch dann einstellt, und Menschen in besonderen Lebens- und Belastungssituationen, die unerträglich, nicht bewältigbar, nicht ertragbar erscheinen. Suizidprävention umfasst heute zwei große Ansätze, einen Mental Health-Ansatz: Erkennen von Risikogruppen, behandeln, verhüten, und einen Public Health-Auftrag: Zugang zu Methoden einschränken, Berichte in Medien entspannen, Modelle verhindern.

Suizidprävention heute ist ein klarer Auftrag an Psychiatrie und Psychotherapie sowie alle im psychosozialen Feld Tätigen unter der Frage „Wer braucht, wer will Hilfe?“ und auch ein gesellschaftlicher Auftrag, eine suizidale und depressiv-hoffnungslose Gestimmtheit zu verhüten und den Zugriff auf Methoden zu vermindern. Denn: „Keiner bringt sich gerne um!“.

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