Rezension

Wer wir waren - Zukunftsrede

01.03.2018 - Martin Renghart

Roger Willemsen war ein Denker der Extreme. Er ging nicht nur buchstäblich bis an die Grenzen unserer Welt. Er ging ein Jahr als Zuschauer in den Bundestag, als viele die parlamentarische Demokratie für klinisch tot erklärten. Vor gut zwei Jahren, am 4. Februar 2016, ist dieser Intellektuelle viel zu früh, mit nur 60 Jahren gestorben. Am Ende dieses Jahres erschien sein letztes Werk: ein kleines Büchlein von gut 50 Seiten Umfang, mit dem Titel „Wer wir waren“, basierend auf Vorträgen des Verfassers und herausgegeben von Insa Wilke. Willemsen hatte eine größere Publikation geplant, aber den Stift aus der Hand gelegt, als er im Juli 2015 von seiner Krebsdiagnose erfuhr.

Willemsen macht von Anfang an Ernst mit seiner den ganzen Text durchziehenden These: Der Mensch befindet sich im Modus der Krise, seit die ersten Affen vor einigen Millionen Jahren von den Bäumen herabgestiegen sind und den aufrechten Gang gelernt haben (S.8). Mit jedem zivilisatorischen Fortschritt habe ein neues Stadium dieser Krise begonnen, und es ist auch kein Ende in Sicht. Eine wesentliche Ursache dieser Krise ist für ihn die Beobachtung, das menschliche Bewusstsein halte mit der Veränderung der Technik nicht Schritt. Auf unser gegenwärtiges Zeitalter bezogen heißt das, wir würden durch die „Parallelwelten“ der Medien und die Rasanz ihrer Abfolge verwirrt und empfänden uns „als das für diese Welt falsch ausgestattete Individuum“ (S.37).

Auch wenn Willemsen es bestreitet (S.17), sind das nicht klassisch kulturpessimistische Positionen, wie sie im letzten Jahrhundert von Oswald Spengler oder Samuel Huntington vertreten wurden? Benutzt er nicht Begriffe wie „Verflachung“ oder „Atomisierung“, wie man sie bei konservativen Kulturkritikern finden kann? Was Willemsens Gedankenskizze wohltuend von Entwürfen à la Spengler oder Huntington unterscheidet, ist sein universalgeschichtlicher Ansatz: Es geht ihm, zumindest auf den ersten Blick, nicht um die Zukunft des Westens, sondern um die Zukunft der Menschheit. Dennoch entpuppt sich sein Szenario als das eines westlichen Intellektuellen, denn andere Kulturen nimmt er kaum in den Blick. Der Westen erscheint als die in der Evolution am weitesten fortgeschrittene Kultur, freilich im negativen Sinn. Leider gerät so aber auch das Nach- und Neben- und Miteinander von verschiedenen Kulturen aus dem Blick, wie sie von Spengler und Huntington thematisiert wurden. Und dabei hätte gerade Willemsen den entsprechenden interkulturellen Hintergrund gehabt!

Stattdessen sieht er, ganz in der Tradition westlicher Kulturkritik, Atomisierung, Verfall, nur keine Zukunft. Mit Zukunftsprognosen hält er sich, trotz des Titels des Buches zurück, denn die großen Zukunftsträume der Vergangenheit seien entweder ausgeträumt oder wahr geworden (S.52) und Voraussagen über unser zukünftiges Bewusstsein seien nicht möglich. Stattdessen flüchtet er sich gleich ins – fiktionale - Futur II, um unsere Gegenwart zur Vergangenheit zu machen. Wohl dem, der ihm bei diesem kühnen Ritt folgen kann. Für mich jedenfalls verbirgt sich hier doch ein kleiner Widerspruch: Denn wenn er unsere Gegenwart aus einer zukünftigen Position in schwärzesten Farben malt, setzt er indirekt eine bessere Zukunft voraus, die sich aus seinem Verfallsszenario aber nicht nahelegt. Aber es gibt auch mehrere Interessante Aspekte in seiner  Analyse der Gegenwart, bei der er durchaus an Marx anschließt: Das Sein prägt das Bewusstsein, aber wir können nicht wissen, wie der Mensch in Zukunft fühlen und denken wird, während wir noch dabei sind, unser Bewusstsein an die technische Entwicklung von heute anzupassen.  Und diese Anpassung wird, wie er an Beispielen aus der Vergangenheit zeigt, einen hohen Preis haben: Der Mensch wird sich noch mehr seiner eigenen Natur entfremden, mit allen problematischen Konsequenzen für  Nachkommen und Umwelt.

Leicht zu lesen ist Willemsens „Zukunftsrede“ nicht, selbst wenn man frühere seiner Schriften kennt. Einerseits liegt das am intellektuellen Niveau des Autors, andererseits an der Skizzen- und Sprunghaftigkeit des Textes, der in seiner endgültigen Form sicher etwas konkreter und stringenter ausgefallen wäre. Vor allem wäre es interessant gewesen, ob das Buch dann tatsächlich eine reine Negativbilanz geblieben oder nicht doch um ein paar Lichtblicke bereichert worden wäre. Vielleicht sollte man sich vor der Lektüre zunächst ein anderes Werk des Meisters gönnen, etwa sein Buch „Momentum“ von 2012, das, etwas hoffnungsvoller und einfacher zu lesen, auch von der Gegenwart und der Zukunft handelt. Aber auch wenn sein letztes Wort zu diesem Thema etwas unbefriedigend ausfällt: Vielleicht könnte der Leser etwas weiterdenken und doch die Prognose wagen, der Willemsen mit guten Argumenten ausgewichen ist? Schade auch, dass Willemsen nach seiner Krebsdiagnose nichts mehr geschrieben hat. Es wäre jedenfalls etwas ganz Anderes geworden als  „Wer wir waren“.




Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016; 64 S.; 12,- €, als E-Book 9,99 €.

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