12 + 1 Lektionen von Corona (Teil II)
01.04.2020 -5. Alleinsein ist gut, Gemeinschaft ist besser
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Menschen in Deutschland aufgefordert, soziale Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Nur so könne eine exponentielle Ausbreitung des Coronavirus gestoppt werden. Was sie genau damit meinte, sei dahingestellt. Nicht gemeint haben sollte sie jedenfalls, dass wir nun alle gut daran täten, uns in eine splendid isolation zu flüchten und alle Brücken zu unseren Mitmenschen abzubrechen. Aber sie dürfte doch wohl eher an leiblich-physische Kontakte gedacht haben und nicht an geistig-emotionale Verbindungen. Denn gerade diese letzten sind es, die in Krisenzeiten doppelt, dreifach wichtig werden. Wenn da draußen das Coronavirus Unheil bringend durch die Städte schweift, ist es umso wichtiger für uns Menschen, nicht allein zu sein. Ja, selbst wenn Alleinsein der vielleicht sicherste Virenschutz ist, so ist doch Einsamkeit die wahrscheinlich schlechteste Gemütslage, um all dem zu begegnen, was nun mitten unter uns geschieht.
»Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei«, steht schon im Buche Genesis der Bibel. Und »zwei sind besser als einer allein« ergänzt das Buch des Predigers. Wie wahr dies ist, wird dieser Tage deutlich: Es ist gut, Menschen um sich zu wissen, die einem Mut zu sprechen oder einen trösten; Menschen, auf die man sich verlassen kann, wenn einen selbst das Virus trifft und niemand sonst da ist, der nach einem schaut, die Einkäufe erledigt oder, wenn es hart auf hart kommt, einen ins Krankenhaus fahren kann. In Zeiten einer Pandemie ganz allein auf sich gestellt zu sein, ist keine gute Perspektive – ein viel zu hoher Preis, für die vermeintliche Freiheit, die ein ungebundenes Leben trügerisch in Aussicht stellt. Klingt es auch noch so altmodisch: Zeiten wie diese geben zu erkennen, wie wertvoll die Familie ist – oder die Partnerschaft; selbst wenn sie uns zuweilen dazu zwingen, unliebsame Kompromisse zu schließen. Covid-19 legt uns nahe, dass es besser ist, hier und da die eigene »Potenzialentfaltung« einzuschränken und sich auf die Eigenheiten eines anderen Menschen einzulassen als in Krisenzeiten ganz allein auf sich gestellt zu sein; gerade im Alter.
Wir können von Corona lernen, dass es gut ist, sich nach Lebensformen umzusehen, die Gemeinschaft und Solidarität mit anderen zuzulassen: In kleinen sozialen Verbänden lässt sich Quarantäne besser überstehen als allein; vielleicht in künftigen kleinen Senioren-WGs, deren Mitglieder nach einander schauen und sich wechselseitig unterstützen, sich im Krisenfall jedoch mit ihren Viren auch in einen eigenen Bereich zurückziehen können. Der große Vorteil dabei wäre, dass sich niemand einsam und verlassen fühlen muss. Nicht die schlechteste Aussicht in einer Gesellschaft, in der Alterseinsamkeit zunehmend zum Problem geworden ist.
6. Digital ist großartig, ersetzt aber nicht analog
Wenn es einen echten Krisengewinner in Corona-Zeiten geben wird, dann dürften dies neben der Desinfektionsmittel- und Schutzkleidungsindustrie diejenigen Unternehmen sein, die im Internet digitale Lernplattformen, Konferenzräume, Virtual-Reality-Spaces oder andere soziale Begegnungsorte anbieten. Und das zu Recht, denn diesen Firmen dürfen wir dankbar sein, dass sie uns im virtuellen Raum mit einem digitalen und vor allem keimfreien Substitut für die physische menschliche Begegnung ausstatten. So kann das soziale Leben weitergehen, ja zuweilen sogar intensiviert werden. Viele Menschen werden infolge dessen in diesen Wochen die Erfahrung machen, dass Videokonferenzen kein Teufelswerk sind und dass man auch mit Webinaren Kenntnisse und Wissen transportieren kann – um nur zwei Beispiele zu nennen.
Angesichts der zu erwartenden Dauer der Corona-Krise ist damit zu rechnen, dass die Menschen sich zunehmend an solche digitalen Räume und Plattformen gewöhnen werden. Aus diesem Grund werden nicht alle in der Nach-Corona-Zeit den Weg zurück in den analogen Raum wählen – was angesichts der ökologischen Vorteile virtueller Begegnungen nicht die schlechteste Nachricht ist. Gleichzeitig aber ist damit zu rechnen, dass die physische, leibhaftige Begegnung von Mensch zu Mensch an Wertigkeit und an Gewicht gewinnen wird. Denn so sehr wir in den kommenden Monaten die Praktikabilität, Keimfreiheit und Kostengünstigkeit digitaler Meetings schätzen lernen werden, so steht nicht minder zu erwarten, dass umgekehrt proportional dazu das Bewusstsein für die unvergleichliche Intensität, Magie und Begeisterungskraft analoger Begegnungen zunimmt. Denn es ist ein altes Grundprinzip des Menschseins: Der unschätzbare Wert des allzu Selbstverständlichen leuchtet uns meistens dann erst ein, wenn seine Selbstverständlichkeit geschwunden ist.
Das also könnte eine unerwartete und eigentümliche Lektion Coronas sein: dass das, was uns in dieser Zeit gefährdet und was gemieden werden soll – das leibliche und physische Beisammensein von Menschen –, mit das Kostbarste und Beste ist, was uns das Leben zu bieten hat; und dass wir deshalb die Wertigkeit des analogen Seins neu würdigen zu lernen sollten. Die Berührung einer Hand, das Schulterklopfen eines Freundes, die Umarmung einer Freundin – all das sind am Ende des Tages doch die kleinen Gesten, die für den Zauber des Lebens unverzichtbar sind. Auch wenn Leiblichkeit gefährlich ist, kann es ohne sie für uns doch keine wirkliche Erfüllung geben.
7. Der Markt versagt in Krisenzeiten
Wenn es einen Gott gibt, der durch Covid-19 vom Podest gestoßen wird, dann ist es der Markt – wodurch dann auch erwiesen wäre, dass er in Wahrheit kein Gott war, sondern allenfalls ein Götze: ein mächtiger, gewiss, denn ungeachtet seines Scheiterns huldigt ihm die weltbeherrschende geistige Formation des Liberalismus. Und es steht zu befürchten, dass dessen Anhänger ihm auch künftig huldigen werden. Doch gibt es keinen Anlass mehr dazu. Der Markt hat sich in der Corona-Krise als unfähig erwiesen, die Rolle zu übernehmen, die ihm Liberalisten zuweisen: die Rolle des gesellschaftlichen Regulativs. Hätte man dem Markt allein das Feld des Handelns überlassen, die Ausmaße der Pandemie wären noch gewaltiger als jetzt.
Erinnern wir uns nur an ein paar scheinbar nebensächliche Episoden: den groß angelegten Export medizinischer Schutzkleidung von Deutschland nach China im Januar – ökonomisch schlau, politisch töricht; die Preisexplosion von Atemschutzmasken bei Amazon und Ebay – wirtschaftlich gewitzt, moralisch niederträchtig; die US-amerikanischen Avancen an deutsche Forschungsinstitute, mit teurem Geld Patente für künftige Impfstoffe zu erwerben – dem Marktgesetz konform, der transatlantischen Freundschaft ein Schlag ins Gesicht. Drei Beispiele, die eines deutlich machen: Ein freier und unregulierter Markt, der konsequent der spieltheoretischen Logik und liberalistischen Ideologie folgt, kann Gesellschaften ins Elend stürzen und Millionen Menschenleben in Gefahr bringen. Der Wirtschaftsliberalismus ist eine Schönwetterideologie. In Krisenzeiten versagt er komplett.
Der Grund dafür ist schnell gefunden: Der Liberalismus gründet auf dem flachen Menschenbild des Homo Oeconomicus – des rationalen, ökonomischen Agenten, der bei allem, was er tut, nur den eigenen Vorteil sucht. Menschen mögen unter bestimmten Umständen dazu neigen, sich nach Maßgabe des Homo Oeconomicus zu entwerfen; etwa dann, wenn sie sich in großer existenzieller Sicherheit wiegen und jedes Bewusstsein dafür verlieren, dass sich ihre gesamte Existenz dem Eingewoben-Sein in ein gesellschaftliches Netz verdankt, das sie trägt und hält. Sie leben dann in einer rauschhaften Trance, die sich von kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolgen nährt, aus der es jedoch ein schmerzliches Erwachen gibt, wenn die Sicherheit in Stücke springt. Wenn sich der Abgrund öffnet, den der Homo Oeconomicus beharrlich ignorierte, dann fällt der hochgerühmte Markt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
8. Ein neues ökonomisches Paradigma
Manchmal ist es gut, sich mit dem Denken der Altvorderen zu befassen; zum Beispiel mit Aristoteles, der in seiner Abhandlung zur Politik ein paar Gedanken über die oikonomia – das Wirtschaften – vorgetragen hat, die infolge von Corona neue Aktualität gewinnen. Es geht dem Philosophen darin um die Frage, welches Ziel dem Wirtschaften gesetzt ist; oder besser, was der Sinn und Zweck von Wirtschaftsunternehmen ist. Diese Frage scheint aus Sicht des herrschenden, liberalistischen Paradigmas der Wirtschaft eigenartig oder nachgerade absurd. Denn es scheint ja festzustehen, dass das Ziel des Wirtschaftens nur dies sein kann: Wachstum, Profit, Rendite. Alles andere erscheint damit verglichen zweitrangig. Mit gutem Grund, denn die geistige Matrix des Liberalismus lehrt, der Mensch sei ein bedürftiges Wesen, dem es letztlich immer nur darum gehe, für sich das Optimale herauszuholen.
Ein antiker Mensch wie Aristoteles sah das anders. Vielleicht auch deshalb, weil er ein klareres Bewusstsein dafür hatte, dass Leben systemisch organisiert ist – und dass es deshalb auf eine gute Anbindung an die umfassenden Systeme der Natur und des Gemeinwesens angewiesen ist, um möglichst unbeschadet durch die Zeit zu kommen. Deshalb dient aus seiner Sicht die Wirtschaft einem gänzlich anderen Sinn und Zweck. Das eigentliche Ziel von einem Unternehmen besteht laut Aristoteles nicht darin, grenzenlos Gewinne einzufahren, sondern den eigenen Bestand zu wahren. Sicherheit, und nicht Profit, sei daher das oberste Gebot. Genauer: Ressourcensicherheit bzw. Autarkie. Daran habe ein verantwortungsvoller Ökonom Maß zu nehmen. Denn die Wirtschaft stehe im Dienst des Menschen und habe den Auftrag, ihn mit alledem zu versorgen, was er für sein physisches Dasein benötigt. Deshalb komme alles darauf an, dass sich ein Unternehmen möglich selbst versorgen kann.
Nach Corona sollten wir uns daran erinnern. Denn was für die Pandemie gilt, wird für künftige Klimawandel-Katastrophen nicht minder zutreffen: Es ist nicht gut, wenn sich ein Unternehmen oder ein Gemeinwesen von anderen Wirtschaftsräumen oder Staaten abhängig macht. Lieferketten brechen ein, ohne dass man das Geringste tun könnte, um den Verlust einzudämmen. Wieviel besser wäre es da, alle notwendige Material-, Finanz-, Human- und Energieressourcen aus dem eigenen politischen und ökonomischen Raum zu beziehen und nur das notfalls Verzichtbare von anderswoher einzukaufen.
Damit ist eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe der Politik nach Corona umschrieben. Es ist alternativlos: Wir müssen Europa zu einem autarken Wirtschaftsraum entwickeln – zu einem Wirtschaftsraum, der sich in pandemischen, ökologischen oder anderen kollektiven Krisen aus sich selbst heraus versorgen kann. Und wenn die Europäische Union dafür nicht die erforderlichen Ressourcen aufbringen kann, sollte sie tunlichst daran arbeiten, ihren Wirtschaftsraum dorthin auszuweiten, wo Ressourcenreichtum herrscht: etwa nach Russland. Das ist die wirtschafts- und geopolitische Lektion, die Corona uns Europäer lehrt: Um der Anfälligkeit des globalen Marktes zu begegnen sollten wir – auch wenn es noch reichlich utopisch klingt - autarke Wirtschaftsräume definieren: Nordamerika, Südamerika, einen ostasiatischen Verbund, ähnliches in Afrika, Indien etc. Aus hiesiger Sicht aber vor allem ein nach Osten erweitertes Europa. Auf dieser Basis dürfte der Welthandel stabiler und womöglich auch gerechter werden.
Wären wir schon so weit, hätten wir wahrscheinlich schneller den Mut aufgebracht, Einreise- und Importstopps aus China zu erlassen. Wir könnten uns dann auch (was wir ohnehin tun sollten) die norditalienischen Leiharbeiter-Camps sparen, in denen billige Arbeitskräfte aus Fernost bei Nacht und Nebel das Virus nach Europa schleppten. Gerade dieses Beispiel zeigt besonders eindringlich, dass nichts so sehr Not tut wie eine Disruption unseres ökonomischen Denkens: weg vom liberalistischen Dogma der Profitmaximierung, hin zur traditionellen Weisheit eines auf Autarkie angelegten Wirtschaftens, das Wachstum und Sicherheit, Freiheit und Nachhaltigkeit, Funktionalität und Schönheit verbindet.
9. Mehr Land, weniger Stadt
Auf dem Land fühlt man sich in Zeiten der Pandemie wohler als in der Stadt. Umgeben von Feldern und Wäldern kann man freier atmen. Die Dichte der Menschen ist geringer, die soziale Nähe dafür oft größer. Und wer sein Gemüse im eigenen Garten anbaut, muss sich weniger Sorgen um die Grundversorgung machen. Natürlich gibt es auch Nachteile: Medizinische Einrichtungen und Apotheken sind oft weit entfernt; und wenn das Virus erst einmal ins Dorf geschleppt ist, kann es dort schnell um sich greifen. Doch ein Dorf lässt sich im Ernstfall abriegeln – entweder um das Virus nicht hinein-, oder um es nicht herauszulassen. Das urbane Leben scheint dagegen viel gefährlicher und viel fragiler. Sicher, im Normalfall hat es deutlich mehr zu bieten: Geselligkeit, Gastronomie Kultur, Freizeitangebote und natürlich Arbeitsplätze. Doch wenn all das stillgelegt wird, büßt die Stadt mit einem Schlag ihre Magie ein. Sie droht ins Unheimliche umzuschlagen.
Den Menschen der technisch-ökonomischen Moderne zieht es seit Jahrzehnten in urbane Ballungsräume. Für eine arbeitsteilige Gesellschaft und konsumgesteuerte Ökonomie ist die Stadt der passende Lebensraum. Urbane Zentren generieren eine weit höhere Wertschöpfung als der ländliche Raum. Der getreue Spiegel dessen sind die Unterschiede der Immobilienpreise in der Stadt und auf dem Land, die seit Jahren rasant auseinanderdriften. Dass dieses Ungleichgewicht auf Dauer nicht gut ist und etwas für die Entwicklung des ländlichen Raums getan werden muss, ist eine Erkenntnis, die schon vor dem Auftauchen von Covid-19 bekannt war. Nun könnte die Zeit gekommen sein, der Theorie auch Taten folgen zu lassen: Das Land braucht eine neue Würdigung als hochwertiges Habitat – auch dann, wenn keine Pandemie grassiert.
Das ist eine europäische Aufgabe. Es dürfte sinnvoll sein, für die Nach-Corona-Zeit Programme aufzusetzen, die Menschen in ländliche Regionen locken. Gerade für die Älteren könnte dies eine reizvolle Option sein. Warum nicht über neue Dörfer nachdenken, die Menschen jenseits der 65 ein gesundes Umfeld, ein überschaubares soziales Leben und eine solide Infrastruktur zur Verfügung stellen – mit regelmäßigem Shuttle-Service in die nächste Stadt? Das ist nur eine mögliche Vision für ein qualitätvolles und resilientes Landleben der Zukunft. Wir sollten uns keine Denkverbote auferlegen. Neue und nachhaltige Lebensformen könnten das Mittel der Wahl sein, wenn wir gut durchs 21. Jahrhundert kommen wollen. Die vorhandenen Ressourcen dafür couragiert zu nutzen, kann kein Fehler sein. Das Land ist eine solche Ressource.
10. Es braucht politische Führung
Nein, das ist nicht der Ruf nach einem starken Mann. Es ist nicht eine Avance an Despoten oder Autokraten à la Bolsonaro, Erdogan und Trump. Denn was diese Leute treiben, ist nicht Führung, sondern Diktatur: eine Form der Herrschaft, die ihre Legitimität nicht aus einem freien und öffentlichen Diskurs bzw. dem diskursiven Ringen um gesellschaftlich verantwortliches Handeln speist, sondern aus meist fragwürdigen Wahlergebnissen. In einer recht verstandenen Demokratie hingegen sind es nicht die gelegentlichen Wahlen, die Führung legitimieren – sondern die Fähigkeit des politischen Führungspersonals, verantwortliche Antworten auf die Ansprüche der Zeit zu geben: die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger, die Herausforderungen einer Krise, die Bedrohungen durch ein Virus.
Politische Führung bewährt sich darin, die Zeichen der Zeit zu verstehen und auf sie zu reagieren – mindestens aktiv, besser noch proaktiv. Das gilt nicht nur für Krisenzeiten wie diese, sondern immer. Abwarten und Aussitzen sind keine Zeichen von Führung, sondern von mangelnder Verantwortungsbereitschaft. Bedauerlicherweise hat sich in den üppigen Jahren der letzten Dekade bei vielen Regierenden dieser fragwürdige (Nicht-)Führungsstil eingeschliffen – eine Entwicklung, die die Heraufkunft populistischer Strömungen begünstigt haben dürfte. Man hatte zuweilen den Eindruck, die Regierenden seien in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen und begnügten sich damit, die Organisation der Gesellschaft den Mechanismen des Marktes zu überlassen. Zu reibungslosen Zeiten funktionierte das tatsächlich, wenn auch mehr schlecht als recht. Jetzt funktioniert es nicht mehr.
Corona ist ein Weckruf an die Politik: Nicht zu Aktionismus im Stil eines US-Präsidenten, dem mal eben die Idee kommt, Schecks an seine Bürger zu verschicken. Eher im Stil europäischer oder föderaler Politik, bei der sich Verantwortliche untereinander abstimmen und diskursiv unterschiedliche Optionen durchdenken müssen. Dass solches geschieht, ist gut. Nicht nur, weil es dem Geist der Demokratie entspricht, sondern weil dadurch die Legitimation der Entscheidungen gesteigert wird. Man folgt bereitwilliger auch harten Anordnungen, wenn man weiß, dass sie sich einem verständniswilligen Diskurs und nicht den einsamen Entscheidungen alter weißer Männer verdanken, die nicht führen können, weil sie hinzuhören verlernt haben.
Wenn die Corona-Krise zu schnellen und couragierten Antworten zwingt, müssen verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker sie geben. Dass viele von ihnen (mehr als erwartet) die Zeichen der Zeit erkannt haben, ist erfreulich. Gut ist auch, dass sie dabei bedächtig vorgehen und darauf achtgeben, wer diejenigen sind, die es nun durch die Krise zu navigieren gilt. Nicht jede Maßnahme ist zu jeder Zeit richtig. Zuweilen muss man wohl dosieren, um Panik oder Wutausbrüche zu vermeiden. Politische Führung ist ein delikates Geschäft, das ein hohes Maß an situativer Intelligenz verlangt. Allgemeingültige Rezepte gibt es nicht. Was in dem einen Land richtig ist, kann in einem anderen Land nach hinten losgehen. Gute Führung weiß darum und hält sich deshalb eng an die Menschen, an die sie sich richtet. Sie bleibt mit ihnen im Gespräch.
Dialogische Führung – conversational leadership, wie mein Freund David Whyte es nennt – ist das Gebot der Stunde. Es ist tröstlich zu sehen, dass viele Politiker und Politikerinnen dies begriffen haben und einen vergleichsweise guten Job machen.
11. Grenzen sind nicht schön, aber unverzichtbar
Woran denken wir, wenn wir an Grenzen denken? Denken wir an Flüchtlinge und Stacheldraht, an Mauern und an Panzersperren? Oder denken wir an die Zartheit der Haut, an die Weichheit einer Aprikosenschale? Auch Haut und Schale sind Grenzen: Grenzen, wie sie die Natur hat wachsen lassen. Es ist gut, sich das für einen Augenblick bewusst zu machen: Jedes Wesen dieser Welt ist in seine Grenzen gewiesen. Alles, was natürlich wächst, wächst bis zu einer bestimmten Grenze, die den Raum definiert, in dem es hier auf Erden walten darf. Das muss so sein, weil sich das Leben systemisch organisiert und nur in umgrenzten Organismen bestehen kann. Durch Schale oder Haut unterscheiden sich Lebewesen vom Rest der Welt und bilden ein nach außen vor unliebsamer Intervention (z. B. Viren) leidlich geschütztes und gleichzeitig in sich geschlossenes System. Das ist gut so. Grenzenloses Leben ist in der Natur genauso wenig möglich wie grenzenloses Wachstum.
Diese kleine Reflexion auf die belebte Welt sei dem vorausgeschickt, was nunmehr zu bedenken ist: Das Leben ist auch da auf Grenzen angewiesen, wo es sich in sozialen Systemen organisiert – in Partnerschaften, Familien, Unternehmen, Gemeinwesen. So wenig wie lebendige Organismen können auch diese Systeme für alles und jeden jederzeit offenstehen, weil nach Maßgabe ihrer jeweiligen qualitativen und quantitativen Zusammensetzung die Integrationskraft von Systemen begrenzt ist. Deshalb sind sie um ihres Fortbestehens willen darauf angewiesen, zuweilen dichtmachen zu können, um sich in sich selbst zu sammeln oder zu regenerieren.
Solches zu denken, fällt uns schwer. Zu tief haben sich in unser kollektives Bewusstsein die Schrecknisse von Krieg und Flucht geprägt, die uns auch jetzt erschaudern lassen, wenn wir das menschliche Leid an den Außengrenzen der Europäischen Union sehen. Und daran ist nichts falsch, denn so unerlässlich Grenzen für den inneren Systemzusammenhalt eines Gemeinwesens sind, so sehr ist auch geboten, sie durchlässig und transparent zu halten; und ihr Integrationsvermögen immer neu zu ermitteln. Auch das ist eine Grundlektion des Lebens: Sich abkapseln und alle Brücken abbrechen ist erst recht keine Lösung. Leben ist Stoffwechsel, ist Interaktion, ist Austausch. Leben atmet ein und aus, nimmt auf, gibt ab. Grenzen müssen so beschaffen sein, dass sie flexibel bleiben: abzuwehren und einzuladen – je nachdem, was Not tut.
Im Falle von Corona tut derzeit die Abwehr Not. Nur vorübergehend, wie wir alle hoffen. Ob nach außen oder nach innen: Längere Grenzschließungen der EU würden uns allen schaden. Als vorübergehende Schutzmaßnahme sind sie für die Resilienz der Union hingegen sinnvoll. Auch jetzt noch für Reisefreiheit und grenzenlosen Verkehr zu votieren hieße, eine – zugegebenermaßen sympathische – Idee über die Realitäten des physischen Lebens zu stellen. Das ist moralisch nachvollziehbar, aber nicht weise. Weisheit zeigt sich daran, dass sie das rechte Maß, die rechte Dosis an grenzüberschreitender Interaktion ermittelt. Diese Weisheit beherrschen alle Lebewesen instinktiv; sie auf unsere sozialen Systeme zu applizieren, fällt uns aber oft sehr schwer.
Viele Grenzen sind nun geschlossen. Gewiss wird sich das Virus nicht um sie scheren – seine Wirte aber sind gezwungen, das zu tun. Derzeit ist dies legitim, weil so die lebendigen Systeme unserer Gemeinwesen geschützt werden können. Deshalb sollten wir, auch innerhalb der EU, an Grenzen festhalten: Grenzen, die, so lange alles gut geht, offenstehen, die jedoch zur Not geschlossen werden können, wenn dies sowohl der Schutz der nationalen Subsysteme ebenso erfordert als auch der Schutz der transnationalen Union im Ganzen. Auch wenn die Metapher schief ist: Grenzen sind so ähnlich wie Notausgänge. Im normalen Leben nerven sie – doch wenn es brennt, ist man dankbar dafür, dass man sie benutzen kann.
12. Der Multilateralismus ist alternativlos
Auch wenn es gut ist, der Corona-Krise innerhalb nationaler Strukturen zu begegnen. um so den Eigenheiten von Gesellschaften und Kulturen Rechnung zu tragen, ist es doch unerlässlich, dies in enger Abstimmung mit anderen zu tun. Nicht nur mit den unmittelbaren Nachbarn, sondern mit der Weltgemeinschaft im Ganzen. Denn erkennbar ist schon jetzt: Krisen wie die Covid-19-Pandemie kann man nicht im nationalen Alleingang lösen. Für sie braucht es den Wissenstransfer zwischen den Staaten. Diejenigen, die früher betroffen waren, können die Nachzügler warnen – die ihre Erfahrungen wiederum mit den noch gar nicht Betroffenen teilen sollten.
Um diesen Wissenstransfer zu koordinieren und zu organisieren, gibt es eine Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deren Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus macht seit Wochen einen guten Job. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, verzichtet aber darauf, bestimmte Länder direkt anzugehen. Er klärt auf und koordiniert – und stellt damit eindrucksvoll unter Beweis, wie wichtig und hilfreich die zuletzt so vielfach gescholtenen – vor allem von den USA und manchen europäischen Populisten – Vereinten Nationen für das Miteinander auf Erden sind; gerade in Krisenzeiten. Für alle, die zuletzt glaubten –aus Kostengründen oder Machtkalkülen –, auf die UN und ihre Unterorganisationen verzichten zu können, hält Corona diese Lektion bereit: Ohne Multilateralismus geht es nicht. Zumindest so lange nicht, wie es auf Erden Kriege, Krisen, Katastrophen gibt – also für immer.
Dieses Plädoyer für die Unverzichtbarkeit multilateraler Organisationen und internationaler Zusammenarbeit soll natürlich nicht darüber hinwegsehen, dass auf diesem Feld so manches zu verbessern ist. Deshalb wäre es nicht die schlechteste Lehre aus Corona, ähnlich wie in den Jahren nach 1945 mit Verve daran zu arbeiten, die UN und andere multilaterale Organisationen einem gründlichen Relaunch zu unterziehen: als funktionsfähige und effiziente Gegengewichte zu den sich herauskristallisierenden um sich selbst kreisenden großen Nationalstaaten wie China, USA, Russland oder Brasilien. Selbst deren Potentaten kommen – wenn sie denn nicht ganz vernagelt sind – in Zeiten der Pandemie nicht länger an der Einsicht vorbei, dass es in ihrem eigenen Interesse keine Alternative zur internationalen Kooperation gibt. Allerdings muss zugestanden werden, dass die »XX-first«-Vernagelung inzwischen ein bedenkliches Ausmaß angenommen hat.