Rezension

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart

01.05.2022 - Dr. Burkhard Luber

“Das Erbe von 1977 ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt. Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im “Netz” sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlten, gilt das auch.” (der letzte Satz aus dem hier rezensierten Buch)

Eine Epoche aus einer einzelnen Jahreszahl abzuleiten (im hier rezensierten Buch immerhin “die Gegenwart” aus dem Jahr 1977) birgt kein unbeträchtliches Risiko. Wer sich dazu aufmacht, muss sich rasch auf einschlägige Einwände gefasst machen als da sind: Warum gerade dieses einzelne Jahr? Oder: Welche Ereignisse in diesem Jahr unterschlägt der Autor und warum? Oder die generelle Frage: Ist ein solches extrapolierendes Verfahren überhaupt sinnvoll?

Philipp Sarasin, Professor an der Universität Zürich, setzt sich diesem Risiko in souveräner Weise aus. Mit akribischer Materialfülle und einem mitunter fotografisch daherkommenden Engagement zum Detail stellt uns der Autor dieses Jahr 1977 vor. Leicht macht er es der/dem LeserIn dabei wahrlich nicht. Das Buch erfordert bei seinen mitunter sehr (zu?) ausführlichen Detail-Überlegungen allerhand Geduld, und wer bei der Lektüre aller vorgelegten Details immer noch den Untertitel des Buches wachhalten will, muss sich sehr konzentrieren.

Nach einer Einleitung (Buchkapitel 1), in der Sarasin die Methode und den Aufbau seines Buches darlegt, gliedert er seine Präsentation des Jahres 1977 in fünf Kapiteln entlang von fünf Personen, die in diesem Jahr gestorben sind:

2) der Philosoph Ernst Bloch

3) die schwarze Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer

4) die Schriftstellerin Anaïs Nin

5) der Surrealist Jacques Prévet

6) der Politiker Ludwig Erhard

Eine Aufschlüsselung der Gegenwart mittels einer Stoffgliederung, die diese fünf so unterschiedlichen Personen präsentiert, verspricht Spannung. Bereits im zweiten Kapitel versteht es Sarasin geschickt von Bloch ausgehend andere wichtige Ereignisse des Jahres 1977 zu markieren: Die “bleierne Zeit” des RAF-Terrors, der in der Ermordung des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu kulminieren und die Entstehung einer linken Szene (dort prominent: Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und das Frankfurter Szene-Blatt “Pflasterstrand”). Sozusagen ernüchternd zu dieser “Revolte” steht der Abstieg der kommunistischen Sowjetunion durch ein ineffizientes Wirtschaftssystem, das nur mit Mühe durch Erdölexporte zum Laufen gehalten werden konnte. War dies schon ökonomisch ziemlich fatal, so  drohte den Führern in Moskau (an der Spitze Leonid Breschnew) auch ideologisches Ungemacht: Mit der Avantgarde der italienischen kommunistischen Partei (PCI) unter Führung von Berlinguer entstand die moskaukritische Strömung des Eurocommunismo. Andere kommunistische Parteien wie z. B. in Spanien und Frankreich folgten bald dem Trend der PCI, der den Machtanspruch der KPDSU hohl machte. So war es nur folgerichtig und symbolisch, dass bei der großen sowjetischen Militärparade 1977 in Moskau mit dem die Sowjetunion den 60 Jahrestag der Oktoberrevolution feiern wollte, nicht nur Castro und Tito fehlten sondern eben auch Berlinguer, Marchais und Carrillo. Der Abstieg des Kommunismus in Europa hatte begonnen, zwölf Jahre bevor sich die osteuropäischen Gesellschaften endgültig von Moskau lossagten und die Sowjetunion aufhörte zu bestehen.

Im dritten  Kapitel schlägt Sarasin einen kühnen, mitunter gewagten Bogen von der Aktivierung der Menschenrechte durch Jimmy Carter (seit 1977 Präsident der USA), über die Entstehung des Punk und die Arbeit von Amnesty International bis hin zur Ausbreitung des Feminismus. Das Ganze eingeleitet mit der Biographie der schwarzen Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer.

Das vierte Kapitel des Buches könnte mit “Reise zum Ich” beschrieben werden. Aufhänger ist das Leben und Schreiben von Anaïs Nin und das Kapitel breitet sich über Sexualität, Erfahrungen mit LSD-Trips, Esoterik, Spiritualität und dem damaligen Psychoboom aus. Natürlich dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht New Age und Bhagwan fehlen.

So ambivalent wie seine Überschrift, nämlich “Kulturmaschinen” kommt das fünfte Buch-Kapitel daher. Sein Ausgangspunkt ist zwar der Surrealist Jacques Prévert, aber das zentrale Thema dieses Buch-Abschnitts ist der Aufstieg des Computers als das dann alles beherrschende Medium der Gegenwart. Hier erinnert Sarasin an heute schon fast vergessene Stationen dieser Entwicklung, die damals Kultstatus bekamen: das “Silicon Valley”, der Beginn von Apple und Microsoft inklusive der damit verbundenen Mythen ihrer Gründer, die erste Ausgabe der Zeitschrift “BYTE”, schließlich die Entstehung des Internet. Wobei Sarasin nicht nur die einzelnen technischen Entwicklungsschritte vorstellt sondern auch (und das avancierte schon damals zu einem sehr intensiv diskutierten Thema) wie die Elektronisierung unser aller Leben verändern würde.

Das sechste Kapitel hat den früheren Wirtschaftsminister und kurze Zeit auch als Bundeskanzler agierenden Ludwig Erhard als Aufhänger. Erhards Programm der Sozialen Marktwirtschaft ist bis heute legendär geblieben. Sarasin weist allerdings zu Recht daraufhin, dass das Adjektiv “sozial” sich im internationalen Wettbewerb der ökonomischen Paradigmen nicht durchsetzen konnte. Neo-liberale Wirtschaftstheoretiker und noch mehr die PolitikerInnen, die deren Ansatz politisch durchsetzen (prominent: Margaret Thatcher mit ihrem TINA Prinzip (“There Is No Alternative”) verdrängten die Gedankenwelt Erhards Zug um Zug.

Danach kommt Sarasin in einer abschließenden Reflexion noch einmal auf den Untertitel seines Buches zu sprechen: “Eine Geschichte der Gegenwart”. Unvermeidlich diskutiert er dabei solche Erklärungsangebote wie “Spätmoderne” oder auch “Postmoderne”, die ihn allerdings - wie auch Niklas Luhmann, auf den er dabei u.a. referiert - nicht überzeugen. Übrig bleiben bei Sarasins Bemühen “die Gegenwart” in den Griff zu bekommen zwei Tendenzen: Die Erosion der sozialistischen Idee (auch als Absage an Blochs “Das Prinzip Hoffnung”) und die starke Hinwendung der Kultur (vielleicht sollte man bei Sarasins Buch eher “der Gegenwart” sagen) zum Einzelnen mitsamt seiner Identität.

Die hier vorgelegte Publikation ist eine eindrucksvolle Fleißarbeit. Die biographischen Aufhänger der sechs Buchkapitel  sind zwar eigenwillig ausgewählt, aber Sarasin zwängt sie nicht in ein enges Korsett sondern befasst sich mit ihnen in einem oft sehr breiten Erklärungsrahmen. Das Durchdringen des Stoffes ist bei Sarasin mitunter fast abenteuerlich detailliert, da muss die/der LeserIn langen Atem aufbringen, und auch die Reflexionen des Autors über die Geschehnisse nehmen oft sehr ausführliche Wendungen. Aber jeder, der motiviert ist, einen, man kann sagen: alternativen Blick auf die vergangenen ca. 40 Jahre zu werfen, der sich eindeutig und zum Teil faszinierend von bekannter Geschichtsschreibung und Gegenwartsdeutung unterscheidet, wird bei Sarasin einen großen Reichtum an Beispielen und Interpretationsmuster finden.

 

Philipp Sarasin, 1977 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart. 4. Auflage 2021. Suhrkamp Verlag. 502 Seiten. 32 Euro

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen