Erziehung

Abbild oder Eigenbild?

01.10.2016 - Dr. Albert Wunsch

Ein Appell gegen das programmierte Wunschkind: Es liegt im Trend der Zeit, wichtige Ereignisse und Vorhaben nicht ohne entsprechende Planungen anzugehen. Der nächste Urlaub, die Hochzeitsfeier, das eigene Haus, der 50. Geburtstag. Selbst Geburtstermine werden präzise geplant, so dass steuerliche Erwägungen sowie die geeignetste Jahreszeit berücksichtigt und selbst der lange vorgeplante Besuch von Tante Helene aus Florida nicht tangiert werden.

So erscheint es nur folgerichtig, wenn schon kurz nach der Kindtaufe die wesentlichen Dinge im weiteren Leben des neuen Erdenbürgers geklärt werden: Wie kommen wir möglichst rasch an eine Tagesmutter, dann soll es dieser Kindergarten, jene Grundschule und anschließend das Rheinhild-Gymnasium sein, weil das dortige Abitur immer noch das angesehenste der Stadt ist und schon Großmutter dort ihre Reife fand. Für gute berufliche Perspektiven ist natürlich ein frühzeitiger Umgang mit den modernen Medien wichtig, Franz geht möglichst bald in einen Judoverein und für Susanne wird schon mal nach einer Ballettschule in der Nähe Ausschau gehalten. Nur das Organisieren der Nachhilfe hat noch etwas Zeit, weil ja mögliche Defizite noch nicht offensichtlich wurden. – Stopp! Planung ist sicher in vielen Bereichen gut, aber hier geht es um die Entwicklung des eigenständigen Seins eines Kindes, welches weder Abbild oder Gegenbild noch sonst wie zustande gekommenes Wunschbild der Eltern zu werden hat.

Die Alternative zum eben verdeutlichten Stopp heißt nicht die Hände in den Schoß zu legen. Vieles im Umgang mit Kindern kann geplant werden. Die intensivste Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit einer Vorbereitung ergibt sich jedoch aus der bewussten Übernahme von Elternschaft. Hier stünden Klärungen über einen möglichst geeigneten Umgang zwischen Eltern und Kind an, wären Auseinandersetzungen zu bestimmten Erziehungspraktiken angemessen, könnte ein aktives Einbringen in Seminare der Vorbereitung auf die Rolle als Vater bzw. Mutter dienen.

Erziehungsleitfaden ‚Wirklichkeit‘

 

Erziehung kann nicht dem Zufall überlassen werden, sondern erfordert einen »vorausdenkenden Entwurf«, wie Heinrich Roth dies einmal auf den Punkt gebracht hat. Diese – ständig zu hinterfragende und anzugleichende – Leitlinie hat sich

 

- an diesem Kind

- mit diesen speziellen Anlagen

- in dieser zukünftigen gesellschaftlichen Wirklichkeit

 

zu orientieren. Um die damit verbundene Forderung der Intersubjektivität zu konkretisieren: Nicht meine, sondern seine Zukunft hat im Zentrum zu stehen. Nicht meine, sondern den Fähigkeiten dieses Kindes entsprechende Hobbys und Interessen sind zu fördern. Nicht das Idealbild von Elternteilen – was ich eigentlich werden wollte, was meiner Traumvorstellung von Beruf und Bildung entspricht – ist hier gefragt! Ebenso wenig kann ein zurückliegendes Gesellschaftsverständnis oder die Welt von Schaf-Farmern in Irland ein Maßstab für jene zukünftige Wirklichkeit sein, auf welche die nachwachsende Generation vorzubereiten ist.

Ein Orientierungspunkt zwischen Abbild und Eigenbild ist das Vor-Bild. (siehe hierzu den Beitrag des Autors „Kinder brauchen Vorbilder“)

Zwischen Abbild und Eigenbild

 

Da insbesondere Kleinkinder für das Entwickeln des Eigen-Seins viele Anhaltspunkte benötigen, werden die Personen des unmittelbaren Umfeldes – ob gewollt oder ungewollt – ständig danach abgeklopft, was an Interessantem, Richtungweisendem oder Erfolgversprechendem übernehmbar sein könnte. Dabei erhalten die Beziehung zu diesen Erwachsenen und deren Glaubwürdigkeit im Vor-Leben eine zentrale Bedeutung. So werden Standfestigkeit wie auch Standpunktlosigkeit, Aktivität oder Passivität zum Maßstab für die Selbst-Werdung junger Menschen, mit den entsprechenden positiven bzw. negativen Folgen.

»Obwohl Kinder und Jugendliche auf vielen Gebieten nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit streben und ihre eigenen Ansichten durchsetzen möchten, suchen sie gerade in den zentralen religiösen, weltanschaulichen und moralischen Fragen die Autorität und den Rat der Erwachsenen.« Daher haben sie für »Neutralität und Relativismus« wenig Verständnis, weil sie eindeutige Auskunft zum Umgang mit wichtigen Lebenssituationen wollen.

Mut zur Positionierung


Verweigern Erziehungspersonen solche Orientierungshilfen, breiten sich verständlicherweise schnell »Unzufriedenheit und bisweilen Nihilismus und Zynismus« aus. Insoweit ist ein eigenverantwortliches Hineinwachsen in die Gesellschaft ohne Vorbilder nicht möglich. Da hilft auch kein Beteuern eigener Unsicherheit oder ideologisch begründetes Heraushaltenwollen, denn mit Halbherzigkeit ist keine Werte-Erziehung möglich. Wie sollen junge Menschen aus sich selbst zwischen Gut und Böse unterscheiden können, wenn ihnen niemand unmissverständlich Auskunft gegeben hat, »was gut und böse ist«? So verwerflich es wäre, Kinder zum Ab-Bild eigener Vorstellungen zu machen, so unmöglich wäre es aber auch, sich als Vor-Bild beim Werden eines Eigen-Seins entziehen zu wollen.

 


Dr. Albert Wunsch ist Psychologe, Diplom Sozialpädagoge, Diplom Pädagoge, Kunst- und Werklehrer sowie promovierter Erziehungswissenschaftler. Bevor er 2004 eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf  und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern.

Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und: Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt. Weitere Infos: www.albert-wunsch.de

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