Am Friedhof
01.05.2022 -Ich wohne beim Friedhof. Nicht am, sondern neben dem Friedhof. Es ist ein kleiner Friedhof inmitten von Wien und er wird weiter benutzt.
Es gibt Friedhöfe in Wien, die nicht mehr nachbelegt werden und in Stille ruhen. Im Herbst fällt das rotbraune Laub auf die Gräber und der Wind verweht dieses in andere Richtungen. Das Laub wird angeleuchtet und in der Nacht schimmert es im Mond, mit dem Frost an der Fläche silbern vor sich.
Von meinem Fenster sehe ich auf den Friedhof und lese, solange es die eigenen Augen erlauben, die Grabinschriften. So nahe ist dieser von meinem Leben entfernt. Die Nachbarschaft ist still und die Natur darin sauber. Jeder hat Respekt vor der Anlage. Sie ist gepflegt und wird von den Lebenden betreut.
Früher bin ich gerne in und um Friedhöfen gewesen. Früher, in meinen Zwanzigern. Da spazierte ich zum Zeitvertreib auf vielen Friedhöfen, einer lag in Irland, ein anderer in Frankreich, und an anderen Plätzen, ach, eben überall wo man so seine eigenen Lebenskreise zieht.
Da waren und sind Namen in Stein eingemeißelt, viele mit ihren Geburts- und Todestag.
Als nüchtern denkender Mensch wird man nachdenklich. Da werden Rechnungen im Inneren aufgestellt wie alt der betreffende wurde, das ist leicht zum Ausrechnen. Es ist einfach das Todesjahr minus dem Geburtsjahr und das war die Anzahl der Lebensjahre. Das waren sie.
Da denkt man an sein eigenes Geburtsjahr und daran, dass so mancher hier ruht, der jünger als man selbst gewesen ist. Man fragt sich dann vielleicht, warum man selbst noch lebt, oder warum der andere hier liegen mag.
Wie dem auch sei, jeder einzelne hat gelebt, gelacht, geliebt, gehasst, gelangweilt und letztendlich seine persönliche Lebensbilanz unbewusst gezogen. Ich weiß nichts über denjenigen, außer seinen Namen, und seine faktischen Lebensjahre. Das ist nicht viel, zu wenig, um eine Emotion damit zu verbinden.
Trotzdem überkommt mich ein Hauch Melancholie, der Wind der Zeit weht über den Stein und trifft auch mich, und dich, und denjenigen anonymen Menschen, der in Stille Blumen auf ein Grab legt und nachdenklich in das Nichts sieht.
Woran erkennt der Mensch selbst noch am Leben zu sein? Ein Arzt, der schon länger verstorben ist, sagte mir einmal, das sei sehr einfach zu erkennen. Ich solle nur auf meine Handfläche blasen. Wenn ich dann Atem fühle, bin ich noch am Leben.
Ich atme, mein Herz schlägt gleichmäßig, es ist alles in Ordnung.
Kurz denke ich daran, vor Freude darüber einen Luftsprung zu machen, dann lasse ich es aber. Es sieht peinlich aus, seiner Lebensfreude Ausdruck zu verleihen, was sollen denn die anderen dann darüber denken, außerdem habe ich sorge, dass mir so eines der Gelenke danach weh tut. Also spaziere ich meinem Alter gemäß ruhig und bedächtig weiter.
Dann setze ich mich auf eine Parkbank und denke im Sitzen, wie bewegt die Zeiten für die Lebenden sind. Es fühlt sich wie auf einer Hochschaubahn ohne Bremsung an. Wenn es manchmal zu viel für mich wird, dann sehe ich kurz auf die Nachbarschaft, um innerlich zu entschleunigen.
Es sind aber nicht die Toten, oder die kalten Steine, sondern die Natur, welche die Grabstellen umarmen. Es sind die Blumen und die Grasflächen, die Bäume und die Stimmen der Tiere, der Gesang der Vögel und Sonnenstrahlen, welche mich in irgendeiner Weise beruhigen.
Ich spaziere dann hinaus in einen Wald, auf eine Wiese und finde mich dann selbst wieder um – ohne ein Mobiltelefon zu benutzen – einfach die Umgebung auf mich wirken zu lassen.