durchBLICK

American Honey - Problemskizze der amerikanischen Gesellschaft

01.12.2016 - Nicole Willig

Texas. Unter der glühenden Sonne des Mittleren Südens suchen drei junge Leute in einem Container hinter einem Supermarkt nach essbaren Abfällen. Unweit des Supermarktes befindet sich eine Schnellstraße, die mitten durch das Nichts weiter ins Nichts führt. Vereinzelte Häuser und Wohnwagen sowie ein heruntergekommenes Tanzlokal, das mehr einer alten, umfunktionierten Lagerhalle ähnelt, säumen ein Stück weit die Straße, welche die Bewohner wie eine Nabelschnur mit der Außenwelt verbindet, sich durch das trockene, öde Land schlängelt und am Horizont verliert.

Es ist eine trostlose, abgeschiedene Gegend, die Andrea Arnold in der Eröffnungsszene ihres Roadtrip Dramas American Honey inszeniert. Allerdings ist es nicht bloß diese Szene, die dem Zuschauer ein Bild des ländlichen, vergessenen Amerikas vermittelt. In den insgesamt zwei Stunden und vierzig Minuten Spielzeit folgt der Zuschauer einer Gruppe junger Menschen, die quer durch das noch immer von der Rezession geplagte und von Washington oftmals ignorierte Landesinnere Amerikas reisen und sich mit Magazinverkäufen bemühen über Wasser zu halten. Die Jugendlichen, die sich aus unterschiedlichen Teilen des Landes zusammengefunden haben, wirken auf den Zuschauer charakterlich und vom Erscheinungsbild her zunächst sehr heterogen. Eine Gruppe, die mehr dasselbe Schicksal statt einer Freundschaft verbindet. Tatsächlich hegen sie alle denselben Wunsch, nämlich den ärmlichen Verhältnissen, denen jeder einzelne von ihnen entstammt sowie der damit verbundenen Perspektivlosigkeit zu entfliehen und ein Stück finanzielle Unabhängigkeit und Freiheit zu erlangen. Sie alle jagen gemeinsam und doch jeder für sich allein dem amerikanischen Traum nach, der, wie sich im Laufe des Films herausstellt, schon lange ausgeträumt ist.

Der Film eröffnet dem Zuschauer einen Blick auf die unteren sozialen Schichten der amerikanischen Gesellschaft, auf das heutige Leben im Landesinneren Amerikas sowie in den ehemaligen Konföderierten Staaten, besonders dem Deep South. Es handelt sich um eine soziokulturelle Perspektive, die man so in amerikanischen Filmen kaum zu sehen bekommt. Denn sowohl in Film und Fernsehen als auch in Büchern US-Amerikanischer Schriftsteller ist die raue Wirklichkeit der durch politische Vernachlässigung in die Armut und somit in eine darbende Existenz gedrängte Bevölkerung Amerikas selten Thema. Oftmals wird stattdessen eine homogene kulturelle und wirtschaftliche Elite porträtiert und alles aus dem filmischen beziehungsweise literarischen Blickfeld gedrängt, was keinen Platz in dieser gesellschaftlichen Traumwelt findet. Arnold rückt das finanzielle Elend dieser vergessenen Menschen und damit sowohl ihre Enttäuschung von der amerikanischen Regierung und von dem was ihnen das Leben bisher geboten hat als auch ihre Resignation in den Fokus des Films.

Doch wer sind diese Menschen, die Arnold aus dem Schattenreich Amerikas ans Licht bringt? Diese Amerikaner, die sich mit Konföderierten-Flaggen und -aufklebern zeigen oder, wie Krystal (Riley Keough) in American Honey, Bikinis mit einem solchen Flaggenmuster tragen? Was treibt sie an? Ist es ihr Stolz auf ihre Vergangenheit als Sklavenhalterstaaten? Als Verfechter und Befürworter menschlicher Ausbeutung und Unterwerfung, als stoische Kämpfer gegen die Menschenrechte, als Vertreter des Glaubens an die Vormachtstellung der "weißen Rasse"? Natürlich gibt es so manche Gruppierungen wie den Ku-Klux-Klan, die sich als unbeirrbare Konföderierten-Nostalgiker geben und die sich eisern darum bemühen, ihren eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteil zu sichern. Diese allgemeine soziale Selbstbespiegelung und Retrophilie aber, die sich in den Südstaaten seit Jahrzehnten abzeichnet, hat jedoch weniger mit elitären, hellhäutigen, reaktionären, xenophoben Menschen zu tun, die sich aus Angst vor gesellschaftlicher Veränderung mit aller Macht an die soziale Position ihrer Ahnen von 1862 klammern und sich unnachgiebig dem gesellschaftlichen und politischen Fortschritt verschließen. Es handelt sich vielmehr um verunsicherte und abgehängte Menschen, die sich alle vier Jahre von Präsidentschaftskandidaten die Ohren über ein politisches Dies und ein politisches Jenes die Ohren vollsäuseln lassen müssen und es leid sind, ständig enttäuscht und im Stich gelassen zu werden. Und diese allgemeine Resignation, diese politische Ohnmacht, in der sich vor allem die ländliche Bevölkerung Amerikas befindet und die Abneigung gegen Hillary Clinton als Verkörperung des Washingtoner Establishments sind wesentliche Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass Donald Trump der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Sein Sieg jedoch ist nicht alleine sein Verdienst. Vermutlich hat er selbst sogar einen recht geringen Anteil daran.

Sein Sieg scheint die Konsequenz des Versagens vorheriger US-Amerikanischer Regierungen und und Präsidenten zu sein, die lediglich darum bemüht waren, energisch leere Versprechungen durch längst stillgelegte Produktionshallen zu brüllen, um sich die Stimmen derjenigen zu sichern, die am Rande der Gesellschaft existieren. Nach dem gewonnen Wahlkampf aber, kehrten sie alle jenen Wählern den Rücken zu ohne sich deren Beitrag zum Sieg zu erinnern. Diesen Teilen der Gesellschaft erging es ökonomisch und politisch in den Jahrzehnten vor dem Sezessionskrieg, in denen die Südstaaten wirtschaftlich erblühten, besser. Das wirtschaftliche Schicksal der verarmten Landbevölkerung ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Konföderierten Staaten als Projektionsfläche amerikanischer Sehnsüchte dienen.

Oftmals werden diese Menschen als engstirnige, reaktionäre, arbeitslose Nostalgiker abgestempelt und als "Rednecks", "Crackers" oder "White Trash" bezeichnet. Weißer Abschaum. Ist offen zur Schau getragene Xenophobie mittlerweile politisch inkorrekt, so ist der "White Trash" die einzige noch existierende ethnische Gruppierung im heutigen Amerika, die man offiziell noch verspotten und wie im Falle von Donald Trumps Wahlsieg als politischen Sündenbock missbrauchen darf. So scheint die weiße amerikanische Unterschicht die letzte Bastion der Rassisten zu sein. Die Idee des "weißen Abschaums" hält sich bis heute hartnäckig, weil die Projektion des kollektiven gesellschaftlichen Unmuts auf die Unterschicht ein effektives Mittel ist, um die eigentlichen politischen Probleme zu kaschieren. Gleichzeitig macht sie die Verantwortlichen im Licht der Öffentlichkeit weniger verantwortlich.

Geringschätzig bezeichnen einige amerikanische Zeitungen Trump als "Präsidenten der weißen Unterschicht". Ein Präsident, dem es gelang, die Wahlstimmen der abgelegenen Landbevölkerung für sich zu gewinnen, die angeblich keine Ahnung von Politik hat, anstatt sich die Stimmen der gebildeten Großstädter zu sichern. So wird versucht, seinen Sieg durch die Unterstützung des "weißen Abschaums" zu diskreditieren und den Eindruck der Unrechtmäßigkeit zu erwecken. Deshalb ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass sich diese Menschen gegen Hillary Clinton entschieden, die als Wall Street Gastrednerin die Personifikation der weißen, privilegierten amerikanischen Elite ist.

Der seit dem vorletzten Jahrhundert existierende und immer noch sehr geläufige Begriff des "White Trash" zeigt deutlich das Verhältnis der Bevölkerung zu ihren Armen. Obwohl die Amerikaner ihre Armen offensichtlich verspotten und aus ihrer gesellschaftlichen Traumwelt ausblenden, hat die Regierung im Land der angeblich Freien und in der Heimat der vermeintlich Tapferen ein Patent auf Begriffe wie "Demokratie" und "Gerechtigkeit". Große Worte, die schon längst niemand mehr für bare Münze zu nehmen scheint.

Arnolds American Honey spiegelt genau die aktuelle gesellschaftliche Situation wider. So mancher Filmkritiker bemängelte dabei das Fehlen einer konkreten Handlung. Dabei ist es genau diese Stagnation, die dem Zuschauer vermittelt werden soll. Der wirtschaftliche Stillstand, die politische Ohnmacht, die menschliche Resignation angesichts einer ungewissen Zukunft. Die Schicksale dieser Menschen spielten Donald Trump in die Hände und halfen ihm dabei, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Vielleicht wäre es nach diesem politischen Ereignis endlich einmal an der Zeit, sich ernsthaft dieser resignierten Menschen und ihrer Geschichte der politischen und gesellschaftlichen Ausgrenzung anzunehmen und sie aktiv mit in die amerikanische Gesellschaft einzubinden. Der Film könnte dafür ein Anfang sein.

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