Race Matters

Amerikas spiritueller Bankrott - Wir müssen gemeinsam Widerstand leisten!

15.02.2018 - Dr. Cornel West

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem erstmals 1993 auf Englisch veröffentlichten Buch "Race Matters" des afroamerikanischen Philosophen und Theologen Dr. Cornel West. Er erschien anlässlich der Veröffentlichung der 25. Jubiläumsausgabe Ende 2017 erneut in aktualisierter Form im "Guardian". Eine Übersetzung von Mariam Raja.

Wir befinden uns in einem der dunkelsten Momente der amerikanischen Geschichte – eine finstere Zeit des spirituellen Blackouts und imperialistischen Zerfalls. Genau vor 25 Jahren versuchte ich in meinem Buch "Race Matters" die Herausforderungen der amerikanischen Demokratie im Lichte des Handelns und Leidens der Schwarzen offenzulegen. Damals gelangte ich zu einer herzzerreißenden, jedoch noch hoffnungsvollen Schlussfolgerung. Heute allerdings sticht der Kummer im Herzen viel tiefer und die Hoffnung ist nahezu verschwunden.

Der Nihilismus des schwarzen Amerikas ist zu einem massiven spirituellen Blackout geworden. Der unbestreitbare Kollaps von Integrität, Ehrlichkeit und Anstand in unserer Gesellschaft und unserem Privatleben heizt immer mehr Rassismus und Verachtung an.

Das Prinzip des großen Geldes und die dazugehörige Kultur der Habgier und Verlogenheit haben so sehr unsere Herzen, Köpfe und Seelen vergiftet, sodass die selbstgerechte neoliberale Seelenkraft der Raffiniertheit, des Dollars und der Bomben nur wenig Opposition erhält.

Die steigenden militärischen Übergriffe im Ausland, die Korruption der politischen und finanziellen Elite im eigenen Land und die marktgetriebene Kultur der Massenablenkung im Internet, Fernsehen und Radio, drängen in die Richtung eines unabwendbaren imperialistischen Zusammenbruchs, in dem der chauvinistische Nationalismus, plutokratisches Handeln und zur Schau gestellter Zynismus Amok laufen.

Unsere letzte und einzige Hoffnung ist ein prophetischer Widerstand: ein Erwachen auf moralischer und spiritueller Ebene, welches einen herausragenden Mut des Aussprechens von Wahrheiten und ein beispielhaftes Handeln von Individuen und Gemeinschaften erfordern.

Die Erkennungsmerkmale des spirituellen Blackouts sind dreierlei:

Erstens, wir normalisieren Verlogenheit und neutralisieren Kriminalität im Alltag. Wir lassen unsere Lügen als normale Ordnung der Dinge erscheinen. Und wir lassen unsere Kriminalität als natürliche Ordnung der Dinge erscheinen. Zu oft meinen wir, dass Wall Street dem Gemeinwohl ein guter Diener sei, statt ein böser Herrscher. Wir schauen über das kriminellen Verhalten der großen Banken hinweg, da sie vermeintlich zu unabdingbar seien, um sie strafrechtlich zu verfolgen.

Wir verleugnen, dass unschuldige Menschen durch Drohnenangriffe im Ausland getötet werden. Auch übersehen wir Tötungslisten des „Terror Tuesday“ im Weißen Haus; wenn der Präsident und seine Mitarbeiter entscheiden können, Menschen ohne jeglichen juristischen Prozess töten zu lassen, darunter manchmal auch US-Staatsbürger.

Zweitens, wir fördern Herzlosigkeit und belohnen Gleichgültigkeit. Wir lassen Gemeinheit männlich und reif wirken. Und wir lassen Kaltherzigkeit triumphal und siegreich erscheinen. In unserer Welt im Überleben der Geschicktesten und Schlausten, pflastern wir den Pfad für rohe Gier und Selbstvermarktung. Wir machen Feigheit und Geiz massentauglich und Mitleid zu einer Option für Verlierer. Wir bevorzugen marktgetriebene Prominente, die auf dem Boden glitzernder Spektakel und verlockender Marken über moralisch-orientierten Vorbildern blühen, die bestrebt sind, ihren felsenfesten Überzeugungen und ihrem Herzensanliegen nachzugehen.

Drittens, wir lassen die moralischen und spirituellen Dimensionen in unseren Leben und unserer Welt außer Acht, indem wir für unsere kurzfristigen Gewinne und oberflächlichen Erfolge applaudieren. Diese unmoralische und brutale Gesinnung verstärkt – und, ist in Teilen auch ein Resultat der – allumfassenden Kommerzialisierung, eines Raubtierkapitalismus, der in unseren Psychen und Gesellschaften außer Kontrolle gerät.

Die allgegenwärtige Gewalt in unseren häuslichen Sphären und militärischen Strategien im Ausland sind unzertrennlich von der profitgesteuerten Vermarktung unserer spirituell verarmten kapitalistischen Zivilisation. Und unsere Zivilisation ruht auf einem Niedergang und Zerfall des amerikanischen Imperiums.

Der imperialistische Zerfall steht derzeit in der Mitte von Krisenzeiten. Unsere ökologische Katastrophe ist real. Die anthropozäne Epoche verschlingt uns. Menschliche Praktiken – besonders die großer Konzerne und der großangelegten militärischen Operationen – beeinträchtigen die Erdatmosphäre so sehr, dass der Untergang droht.

Das Potenzial für eine nukleare Katastrophe bleibt hoch, solange die Spannungen zwischen den USA und Russland eskalieren und andere Atommächte wie Nordkorea, China, Pakistan, Indien und Israel rastlos sind und weiter aufrüsten.

Unsere wirtschaftliche Katastrophe weitet sich zeitgleich mit einer grotesken Vermögensungleichheit aus. Unsere politischen Katastrophen vertiefen sich, während die Oligarchie die staatlichen Fehlfunktionen ausnutzt. Unsere gesellschaftliche Katastrophe schreitet voran, während das öffentliche Interesse, das Gemeinwohl oder sogar die Rechtsstaatlichkeit vom großem Geld untergraben wird. Und unsere kulturellen Katastrophen sind oftmals verborgen – die umfassende und traurige Realität des Traumas und Terrors sucht oft benachteiligte Menschen, die verhältnismäßigig arm sind, Schwule und Lesben, farbige Menschen, Frauen und Kinder heim.

Der politische Triumph von Donald Trump ist das Symbol und Symptom – weder der Grund noch Ursprung – unseres imperialistischen Zerfalls. Trump ist weder ein Alien, noch ist er der amerikanischen Kultur und Geschichte fremd. Tatsächlich ist er so amerikanisch wie der Apfelkuchen.

Er ist ein Anzeichen des spirituellen Bankrotts – alles Spektakel und keine Substanz, alles Narzissmus und kein Einfühlungsvermögen, alles Verlangen und Gier, ohne Weisheit und Reife. Sein Triumph speist sich aus der Implosion des republikanischen Parteien-Establishments, das dem großen Geld, dem großen Militär und der Sündenbock-Politik verfallen ist.

Es speist sich ebenfalls aus dem demokratischen Parteien-Establishment, das dem großem Geld, dem großen Militär und dem cleveren Einsatz von farbigen Menschen, Schwulen und Lesben, Einwanderern, Muslimen und Frauen verfallen ist, um die Lügen und Verbrechen der neoliberalen Politik hierzulande und im Ausland zu verheimlichen. Und auch aus meinungsmachenden Medienkonzernen, die Trump wegen der hohen Profite und Einnahmen unterstützt und begünstigt haben.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass es keinen Donald Trump ohne Barack Obama, keine neofaschistische Aufruhr ohne neoliberale Politik gibt – alles innerhalb der imperialistischen Zone. Obama war ein glänzendes, schwarzes, lächelndes Gesicht des amerikanische Imperiums. Und Trump ist das unwissende, weiße, grausame Gesicht des amerikanischen Imperiums.

Obama hat zwar nicht Trump produziert, aber es waren seine Wall-Street freundliche Politik, die Trump seinen pseudo-populistischen Sieg bereiteten. Obamas Zurückhaltung in der Rassenfrage in beträchtlicher Weise hat nicht die hässliche weiße Gegenreaktion hervorgebracht. Doch Obamas Zögern erwies sich auch nicht als hilfreich für den Widerstand gegen die Handlungen der Rassisten.

Sowohl Obama als auch Trump – zwei unterschiedliche Gesichter des imperialistischen Zerfalls, unterstützten die militärische Aufrüstung, Kriege gegen muslimisch-geprägte Länder, die Drohnenkriege, die israelische Besatzung der Palästinensergebiete und ihrer Bewohner, illegale Inhaftierungen unschuldiger Menschen, Nachtangriffe auf arme muslimische Familien und unmenschliche Gefangenenlager. Diese Kriege und Kriegsverbrechen kehren zurück, um das aufzufressen, was von der demokratischen Seele übrig geblieben war.

Wie reagieren wir nun auf diese düsteren Zeiten? Die größte Tradition des prophetischen Widerstands im amerikanischen Imperium ist der Freiheitskampf der Schwarzen. Die größte Tradition der moralischen und spirituellen Kraft im amerikanischen Imperium ist die musikalische Tradition der Schwarzen.

Die künstlerische Spitzenleistung im Besten des Black Music - einschließlich des Großmuts und der Majestät der Klänge - setzt Maßstäbe für den Freiheitskampf der Schwarzen.

Diese Maßstäbe bestehen aus der radikalen Freiheit in der Liebe und der radikalen Liebe in der Freiheit. Die Freiheit, die Wahrheit auszusprechen über die Liebe zu sich selbst und zu der Welt, und der Liebe zur Wahrheit, die man frei spricht und lebt.

Die "Black-Lives-Matter"-Bewegung ist ein großes Zeichen der Hoffnung. Sie ist exemplarisch für eine kollektive Bemühung, einen prophetischen Widerstand in diesen düsteren Momenten des imperialistischen Zerfalls und des spirituellen Blackouts zu leisten. [...]

Race matters im 21 Jahrhundert ist ein Teil des moralischen und spirituellen Krieges um Ressourcen, Macht, Seelen und Sensibilitäten. Es kann keine Analyse von race matters geben, ohne über earth matters, class matters, gender matters und sexuality matters, insbesondere über empire matters zu sprechen. Wir müssen Solidarität auf all diesen Fronten zeigen.

Während wir Widerstand leisten, gedenken wir all jenen visionären und vorbildhaften Figuren und Bewegungen der Vergangenheit. Diese kostbaren Erinnerungen machen uns auf diejenigen Dinge aufmerksam, die tatsächlich von Bedeutung sind – es geht nicht um Spektakel, Image, Geld und Status, sondern um Integrität, Ehrlichkeit, Würde und Großzügigkeit.

Dieser Fokus verortet uns in einer langen Tradition von Kriegern der Liebe - nicht nur aufpolierten Professionellen oder glitzernden Prominenten, sondern mutigen Verfechtern der Wahrheit, die verliebt sind in die Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Schönheit.

 

 

Der Original-Buchauszug, der als Vorlage für diese Übersetzung diente, wurde im "Guardian" veröffentlicht.

 

 

Dr. Cornel West: Race Matters, 25th Anniversary: With a New Introduction. Beacon Press, 2017. 128 Seiten, 12.99 $

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