Rezension

Analog ist das neue Bio

01.06.2015 - Dr. Burkhard Luber

Kann man sich der Digitalisierung entgegenstellen ohne verschroben oder weltfremd zu sein? Andre Wilkens wagt den Versuch und es gelingt ihm seine Leser zu motivieren, ihr oft selbstverständliches Leben mit der digitalen Welt zu hinterfragen. Schonungslos deckt er unsere digitalen Abhängigkeiten auf, unsere Sucht, alles in der Welt jederzeit zur Verfügung zu haben, ob Freunde auf Facebook, Landkarten auf Google oder Musik, Filme und Spiele.

Die digitale Welt weckt Bedürfnisse, die ohne sie gar nicht existieren würden. Vor zwanzig Jahren waren wir noch nicht süchtig danach, unseren Freunden stündlich per SMS von unseren Befindlichkeiten zu erzählen. Kein elektronischer Flohmarkt wie E-Bay ließ unseren Adrenalin-Spiegel hochschnellen, weil wir unbedingt einen bestimmten Artikel ersteigern mussten (der danach oft nur in der Ecke herumliegt). Wir hätten uns damals gewehrt, beruflich immer und überall erreichbar zu sein. Und wir hatten noch nicht den Anspruch, zu jeder Frage sofort eine Antwort ergoogeln zu müssen. Heute verdrängen digitale Dienste immer mehr den direkten Kontakt mit anderen Menschen und der unmittelbaren sinnlichen Welt. Blickkontakte werden seltener, stattdessen gehen wir gebückt durch die Straßen, die Augen auf unsere Smartphones fixiert.

Die Macht der digitalen Welt geht Hand in Hand mit der Wachstums-Ideologie der Wirtschaft: viel kaufen, viel haben, viel kommunizieren. Digitale Aktivisten wenden ein, dass uns die Digitalisierung vom früheren materiellen Ressourcenverbrauch befreit habe. Ein Irrtum, sagt Wilkens. Schon das früher glorreich angekündigte „papierlose Büro” ist eine Illusion. Noch nie wurde so viel auf Papier gedruckt wie im PC-Zeitalter. Und mit dem Verschwinden der alten Fotoalben ist die Zahl der digitalen Bilder ins Unermessliche gestiegen. Dazu der Zwang das neuste Smartphone haben zu müssen und die elektronischen Verführungen von Online-Händlern wie Amazon, die zu Spontankäufen verleiten. Die Energiebilanz des digitalen Zeitalters ist nicht günstiger als die der analogen Zeit, in der weniger Briefe geschrieben und weniger Produkte konsumiert wurden. Haben wir früher darüber nachgedacht, ob dieser oder jener Brief wirklich notwendig war, stellen wir diese Sinnfrage heute nicht mehr. E-Mailing ist so bequem, dass wir uns ohne viel nachzudenken ans Keyboard setzen. Doch die digitale Technik entlastet uns nicht. Vielmehr stöhnen wir täglich über immer vollere E-Mail-Postfächer. Statt uns Zeit zu nehmen mit unseren Nachbarn zu klönen, setzen wir uns unter Dauerstress, indem wir ständig versuchen unseren Facebook-Account mit neuen Nachrichten und immer mehr Bildern aktuell zu halten. Mit Meldungen und Fotos, die – wenn wir einmal kritisch darüber nachdenken – oft reichlich trivial sind.

Die größte Stärke des Buches ist, dass Wilkens seine Digital-Kritik nicht mit konservativem Blick auf die „schöne alte analoge Welt” präsentiert, sondern detailliert herausarbeitet, was Analog kann und Digital nicht kann. Die analoge Welt ist der digitalen qualitativ überlegen. Das Digitale hat keinen Zugang zu physischen Orten, zu Gegenständen, Bäumen und Tieren. In der analogen Welt können Überraschungseffekte entstehen, Geistesblitze, Aha-Effekte. Das „Chaos” der analogen Welt ist ein kreatives Chaos. Analog ist nicht perfekt, ist subjektiv und stellt sich dem Unendlichkeitswahn digitaler Daten entgegen.

Was ist angesichts der zunehmenden Dominanz der Digitalisierung zu tun? Digital muss Instrument bleiben und darf sich nicht verselbständigen, lautet die Forderung von Wilkens. Statt der seitenlangen, kleingedruckten „Allgemeinen Geschäftsbedingungen”, die niemand liest, deren Akzeptanz aber fatale Konsequenzen haben kann, fordert Wilkens „Packungsbeilagen” (ähnlich wie die für Medikamente), in denen die Risiken und Nebenwirkungen der Werkzeuge der digitalen Welt kurz, prägnant und verständlich erklärt werden. Auch ein „Ampelsystem”, wie es in einigen Ländern für Lebensmittel eingeführt wurde, ist denkbar. Dafür kommen verschiedene Kriterien in Frage. Entweder: „Wie abhängig mache ich mich vom Hersteller beim Herunterladen eines Programms?“, oder: „Wie viele persönliche Daten wird das Programm von mir speichern?“ Zusätzlich fordert Wilkens, dass der digitale Nutzer mehr Freiheit beim Wechsel der Anbieter sozialer Medien haben muss – z.B. freier Transfer von Nutzerdaten beim Wechsel zwischen Diensten wie Facebook und Google+. Außerdem plädiert der Autor  für die Abschaffung kostenloser Programme, denn was auf den ersten Blick “umsonst” erscheint, wird auf die Dauer mit der Speicherung und Weitergabe von Nutzerdaten bezahlt. Schließlich fragt Wilkens, warum sich der Gesetzgeber so schwer tut, gegen die digitalen Giganten mit ebenso scharfen, anti-monopolistischen Richtlinien vorzugehen, wie das bei der konventionellen Wirtschaft der Fall ist. Für den Autor ist es sogar denkbar, dass Suchmaschinen vergesellschaftet und z.B. unter Kontrolle der UN betrieben werden könnten.

Wie ist es zu verstehen, dass Analog „das neue Bio” sein soll? Bio war die Antwort auf die Gefahren und Risiken der industriellen Landwirtschaft (wie z.B. Umweltzerstörung, Massentierhaltung und Energieverschwendung durch immensen Transportaufwand für Nahrungsmittel). So wie Bio eine (provokante) Nische innerhalb der dominierenden industriellen Landwirtschaft ist, sieht Wilkens Analog als Nische gegen den dominierenden digitalen Trend.

Wilkens schließt sein anti-digitales Plädoyer mit einer alphabetischen Auflistung „Analoger Alternativen”, die sich dem digitalen Wahn im Alltag entgegensetzen lassen. Manche Vorschläge muten etwas naiv an (z.B. Leserbriefe schreiben), andere Vorschläge sind aber durchaus nachvollziehbar und praktisch. So rät Wilkens: keine smarten Geräte nach acht Uhr, keine digitalen Informationen beim Essen, das Wohnzimmer als digitalfreie Zone und kein Online-Shopping für Dinge die es in der Nähe zu kaufen gibt.

Wilkens hat ein interessantes Buch geschrieben, das Digitalsüchtige zum Nachdenken bringen kann. Der Autor ist kein Maschinenstürmer, der das Rad der technologischen Entwicklung zurückdrehen will. Er weiß, dass es zur Digitalisierung keine ernsthafte Alternative gibt, glaubt aber auch, dass eine bewusste Anreicherung des digitalen Alltag mit analogen Elementen dazu beitragen kann, dass wir wieder lernen, wacher und aufrechter durch die reale Welt zu gehen, statt ständig über das Smartphone gebückt digitalen Trivialitäten nachzujagen.

 


Andre Wilkens: Analog ist das neue Bio. Ein Plädoyer für eine menschliche digitale Welt. 224 Seiten. Metrolit Verlag. März 2015. 18 Euro. Kindle-Edition 13.99

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