Angela Maxwell: "Solange ich mir nichts aus Mülltonnen fischen muss, ist alles gut"
01.12.2018 -Sie zieht seit mehr als vier Jahren wandernd durch alle Kontinente. Die 36-jährige US-Amerikanerin ließ dafür 2014 ein bequemes Leben hinter sich: Sie kündigte ihren Job, gab ihre Beziehung auf und verkaufte all ihren Besitz. Start und Ziel soll ihre Heimatstadt Bend in Oregon sein. Von dort aus geht sie westwärts um die Welt. Auf ihrer bisherigen Marschroute hat sie 12 Länder sowie zwei Inseln gesehen und mehr als 20.000 Kilometer zurückgelegt. DAS MILIEU sprach mit Angela Maxwell über ihr altes Leben, die Begegnung mit ihren Ängsten und ihren Alltag als obdachlose Pilgerin.
DAS MILIEU: Wie bereiten Sie sich auf jede Reise vor?
Angela Maxwell: Zu Beginn hatte ich noch eine gerade Linie im Kopf, auf einem flachen Bild der Weltkugel Punkt A mit Punkt B verbunden. Schnell wurde mir klar, dass das so nicht funktionierte. Heute plane ich zwar eine Route, aber ich folge ihr gewöhnlich nie. Und ich eigne mir ein paar grundlegende Sprachkenntnisse an, damit ich zumindest Hallo und Dankeschön sagen kann. Ich mag Geschichte sehr und wenn ich die Zeit finde, studiere ich die Historie der Orte, die ich durchquere. Der Rest sind glückliche Umstände.
MILIEU: Was tragen Sie bei sich, wenn Sie laufen?
Maxwell: Ich ziehe eine grundlegende Survival-Ausrüstung im Bollerwagen hinter mir her. Ein Zelt, einen Schirm, Wasser, Lebensmittel und weitere kleinere Dinge. Ich habe zwei Outfits, eins zum Laufen und eins zum Schlafen. Ein paar Schuhe. Das meiste davon habe ich gekauft, als ich vor fünf Jahren mit dem Laufen begonnen habe. Mein Experiment beinhaltet, mit wenig auszukommen. Deshalb kaufe ich nichts Neues bis das Alte nicht mehr funktioniert.
MILIEU: Wie viel Geld geben Sie täglich aus?
Maxwell: Ich gebe nur Geld für Lebensmittel aus. Ich versuche wenig zu essen und schlafe draußen, damit ich mir das Laufen weiterhin leisten kann. Ohnehin ist es für mich viel erfüllender unter dem Sternenhimmel zu schlafen als im Hotel. Insgesamt sind es etwa fünf Dollar am Tag oder weniger, die ich ausgebe.
MILIEU: Wie können Sie sich diesen Lebensstil leisten, ohne zu arbeiten?
Maxwell: Alles, was ich besaß, habe ich verkauft. Ich lebe ein sehr einfaches Leben. Langsam geht mir das Geld aus, aber solange ich mir nichts aus Mülltonnen fischen muss, ist alles gut.
MILIEU: Wo laufen Sie gerade entlang?
Maxwell: Ich laufe derzeit durch Norditalien. Es ist gar nicht so einfach voranzukommen – wegen der wunderschönen Landschaft, dem tollen Wetter und den freundlichen italienischen Mamas, die darauf bestehen, dass man mit ihnen zu Abend isst.
MILIEU: Wie fühlt sich das an?
Maxwell: So, als würde ich von Land zu Land, von Person zu Person weitergereicht werden, während mir fremde Menschen Essen oder ihre Unterkunft anbieten, ihre Musik, ihre Religion, ihren Schmerz und ihre Freude mit mir teilen. Ich habe erlebt, dass egal wie unterschiedlich die Kulturen sind, es menschliche Eigenschaften gibt, die alle Orte vertraut machen: die Neugier der Menschen und ihr Wunsch, etwas davon zu geben, was sie haben.
MILIEU: Warum haben Sie es nicht vorgezogen, ein Fahrrad oder ein Auto zu nutzen?
Maxwell: Eine praktische Antwort ist, dass ein Auto zu teuer wäre und ich weder mit meinem CO2-Ausstoß, noch mit dem Geräusch unseren Planeten weiter belasten möchte. Ein Fahrrad hätte es zwar nicht getan, aber ich wäre damit zu langsam und ungeschickt unterwegs. Für mich fühlt sich das Laufen natürlich an und es erlaubt mir, nicht nur mit wenig auszukommen, sondern auch keine Spur zu hinterlassen. Ich schleppe all meinen Müll mit mir, bis ich ihn entsprechend entsorgen oder wiederverwerten kann. Laufen erzeugt einen „kleineren Fußabdruck“ und durch die langsamen Schritte kann ich auf Einheimische zugehen und ihnen falls nötig behilflich sein.
MILIEU: Was haben Sie aus den vielen Begegnung mit Menschen gelernt?
Maxwell: Ich habe gelernt, dass Sprache nicht wirklich kommuniziert. Unsere Absichten und Handlungen zählen mehr, als alles, was wir sagen. Und ich habe gelernt, dass diejenigen, die am Wenigsten haben, bereit sind anderen alles zu geben. Diese Menschen bewundere ich am allermeisten.
MILIEU: Sie laufen schon seit mehr als vier Jahren um die Welt. Wem oder was laufen Sie davon?
Maxwell: Wir können nicht auf irgendetwas zulaufen ohne etwas zurückzulassen. Ich hatte ein recht schönes Leben, aber als die Idee des Laufs um die Welt aufkam, erschien mir das viel interessanter und bedeutender als das Leben, das ich lebte. Ich ließ es hinter mir, um etwas zu erleben, was mich herausforderte und auch ängstigte. Besonders begeisterte mich der Gedanke, mit viel weniger zu leben und Teile der Welt in einem geringen Tempo und auf zwischenmenschlicher Ebene kennenzulernen.
MILIEU: Wie war das Leben, das Sie aufgaben?
Maxwell: Niemand hat ein Leben, das perfekt ist. Ich kann aber sagen, dass ich glücklich und erfolgreich war – mit meinem Alltag, meiner Beziehung und meiner Arbeit als selbstständige Unternehmensberaterin. Dennoch war ich bereit, es zu riskieren, alles zu verlieren, um meinem Herzen zu folgen. Es war schmerzhaft, aber ich musste lernen, mich von meiner alten Identität loszusagen, um eine arme obdachlose Pilgerin zu werden. Natürlich gab es Zeiten, in denen ich mich als verloren und gescheitert empfand – wenn ich mich beispielsweise in der Beziehung oder im Beruf danach messen ließ, ob ich eine gute Partnerin war oder genügend Klienten an Land zog. Ich kletterte eine berufliche Leiter hoch, die nicht meine Seele ernährte. Das Laufen dagegen nährt meine Seele.
MILIEU: Was geht Ihnen normalerweise durch den Kopf, wenn Sie laufen?
Maxwell: Meistens fühle ich eine tiefe Verbindung zur Natur und bewahre mir meine Neugier auf neue Menschen und Orte. Die letzten zwei Stunden verbringe ich damit, einen passablen Zeltplatz zu finden und mir vorzustellen, wie gemütlich es wäre, in mein Zelt zu steigen und mich in die Erlebnisse zurückzuversetzen, die ich im Laufe des Tages gemacht habe.
MILIEU: Wann ist es für Sie am Härtesten weiterzulaufen?
Maxwell: Es ist besonders hart, wenn mein Bollerwagen wieder einmal einen Platten hat oder, wenn ich durch einen vorbeifahrenden Lastwagen mit Gülle vollgespritzt wurde und weiß, dass ich in den nächsten Wochen nicht duschen können werde. Dann ist es nur noch ein Kampf, weiterzulaufen. Aber ich denke, das sind die Momente, die unseren Charakter formen, weil sie uns dazu verhelfen, neue Wege zur Lösung zu finden, indem wir mentale und emotionale Barrieren durchbrechen.
MILIEU: Haben Sie bei all den Strapazen und praktischen Hindernissen überhaupt die Zeit für tiefsinnige Gedanken?
Maxwell: Eigentlich bin ich ja gar kein Mensch, der praktisch und kalkuliert denkt, sondern eher so ein „Geh aufs Ganze oder geh nach Hause“-Mädel. Deshalb laufe ich auch nicht den Jakobsweg, sondern durch alle Kontinente. Ich muss mir zwar immer wieder Gedanken z.B. um meine Sicherheit machen, aber klar kann ich auch idyllisch in den Tag hineinleben und mir magische Geschichten ausdenken, während ich an Burgen und alten Bauernhäusern vorbeilaufe.
MILIEU: Wonach haben Sie gesucht, als Sie das erste Mal von zu Hause losgelaufen sind?
Maxwell: Ich war aufgeregt und beängstigt, wie ich vor dem Beginn jeder Reise bin. Ich habe es als große Entdeckungsreise gesehen, auf der ich nach meinem Mut gesucht habe, aber vor allem ging es mir darum, die Welt zu fühlen. Natürlich wollte ich das Abenteuer, aber noch viel mehr suchte ich eine Begegnung mit meinen Ängsten.
MILIEU: Wie verhält es sich mit Ihrer Angst, wenn Sie nachts mitten im Niemandsland ihr Zelt aufschlagen müssen?
Maxwell: Es ist das Ungewisse, das sich in der Dunkelheit nur noch mehr verstärkt. Ich weiß, dass es nur ein kleiner und dünner Stoff ist, der eine kleine Blase um mich herum erzeugt. Da er keinen wirklichen Schutz bietet, schlafe ich mit einem offenen Auge und offenen Ohr. Ich versuche mich mit Atemübungen zu beruhigen und erinnere mich daran, dass tausende Kinder, Frauen und Männer ohne ein Dach über den Kopf ihre Nacht unter den Sternen verbringen müssen. Und daran, dass ich es mir selbst ausgesucht habe, obdachlos zu sein, während andere keine Wahl haben. Am Ende erinnere ich mich auch daran, dass ich nicht allein unter diesem sternenklaren Himmel bin.
MILIEU: Doch Menschen fürchten sich vor dem Ungewissen, der Stille und der Einsamkeit. Wie ist es bei Ihnen?
Maxwell: Ich bin introvertiert und ich feiere im Alleinsein. Ich begrüße die Einsamkeit in der Wildnis und finde darin meine größte Inspiration. Es ist sogar so, dass ich anfange, mich unwohl zu fühlen, wenn ich mich einem Dorf oder einer Stadt nähere.
MILIEU: In der Mongolei wurden Sie einmal nachts im Zelt überfallen. Wie hat Sie diese Erfahrung geprägt?
Maxwell: Ich habe mich damals total ausgeliefert und wehrlos gefühlt. Das war noch im ersten Jahr meiner Wanderung. Mir war bewusst, dass so etwas passieren könnte, aber ich war nicht wirklich vorbereitet.
MILIEU: Haben Sie daran gedacht aufzuhören?
Maxwell: Klar, ich stand vor der Wahl: entweder ich gebe auf, weil das alles zu schwer für mich war oder ich entscheide mich für den Mut, der mich weiter am Laufen hielt. Ich entschied mich für das Letztere. Dabei half mir auch Ogii, ein Straßenhund, der mir nach diesem Vorfall überraschend zugelaufen kam. Das war wie eine schicksalhafte Fügung, die meinen Glauben gestärkt hat. Ogii begleitete mich fast tausend Kilometer auf meinem restlichen Weg durch die Mongolei. Während ich schlief, bewachte er mein Zelt. Härter als der Überfall war am Ende, mich von Ogii zu trennen. Er hatte keine Papiere. Deshalb musste ich ein neues Zuhause für ihn finden.
MILIEU: Was hat sich durch den Überfall verändert?
Maxwell: Mein Zelt hat zwei Eingänge. Einen Eingang versperre ich heute immer, indem ich ihn an einen Baum oder einen Hügel stelle. Auch binde ich den Reisverschluss von innen zu und schlafe mit einem Pfefferspray an meiner Seite. Zugleich mache ich mir immer wieder deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas nochmal geschieht, sehr gering ist. Aber die Angst ist immer präsent, doch sie bewahrt mich vor Naivität und hält mich wach.
MILIEU: Wünschen Sie sich nicht manchmal doch ein strukturiertes Leben zurück – mit Beruf, Partner, Haus und Kind?
Maxwell: Gerade nicht, aber ich bin offen dafür, was dieses Leben für mich bereithält. Mein Herz ist offen für die Liebe, aber ich habe keine Agenda für die Zukunft. Ich habe sehr wohl kreative Projekte, an denen ich arbeiten möchte. Ich möchte ein Buch schreiben, eine TV-Serie konzipieren und eine Modelinie für Frauen entwerfen. Das macht es schwer, nicht an die Ziellinie zu denken. Aber jetzt im Moment möchte ich einfach nur das Laufen und das, was mich umgibt, genießen.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Maxwell!