Vergänglichkeit

Auf der Jagd nach Anerkennung

01.03.2023 - Daniela Ribitsch

An dem Tag, an dem ich sterbe, wird auch mein Zweig des Familienstammbaums mit mir sterben. Ich habe keine Kinder, die meine Gene weitergeben könnten oder die Gebühr für unser Familiengrab in Österreich bezahlen würden. Zehn Jahre nach meinem Tod wird die Fried-hofsverwaltung unseren Grabstein beseitigen lassen und den Platz fremden Menschen zur Verfügung stellen. Es wird so sein, als hätte es uns nie gegeben

Das ist schon ein komisches Gesetz, dass wir für das Recht, unsere letzte Ruhestätte benutzen zu dürfen, regelmäßig bezahlen müssen. In Amerika hätte der Bruder meiner Oma mehr Glück gehabt. Dort dürfen nämlich alle Menschen ihr Grab ganz ohne regelmäßige Gebühr für immer behalten. Da er aber in Österreich begraben wurde und keine Menschenseele mehr für ihn bezahlen wollte, wurde sein Name durch den einer fremden Person ersetzt.

Als ich im letzten Sommer mit dem Zug von Graz nach Wien fuhr, befanden sich viele junge Menschen in meinem Abteil. Sie alle hatten eines gemein: Alle paar Minuten sahen sie auf ihr Handy. Ich beobachtete ihre Daumen, die schnell über den TikTok-Bildschirm wischten und gelegentlich für das eine oder andere Video innehielten. Ehrlich gesagt taten mir diese jungen Leute leid. Mir taten sie leid, weil sie diese lächerlichen Videos ansahen, und mir taten auch jene leid, die den Drang hatten, solche Videos überhaupt zu posten. Ich gebe zu, ich keuchte schwer, als mein Mann mir die TikTok-App auf seinem iPad zeigte und mich drängte, ein paar dieser sinnlosen Videos anzusehen.

In der amerikanischen Ausgabe des englischsprachigen Nachrichtenmagazins The Week vom 4. November 2022 las ich, dass TikTok im Jahre 2021 öfter verwendet worden war als Google und dass Amerikaner*innen im Durchschnitt mehr Zeit pro Tag auf TikTok verbrachten als auf Instagram und Facebook zusammen. Da der clevere TikTok-Algorithmus nämlich das Verhalten seiner Nutzer*innen beobachtet, kann er erfolgreich jene Videos auswählen, die gerade interessant genug sind, um die Nutzer*innen an sich zu binden. Ich wette, wenn ich weitergeschaut hätte, wäre schließlich auch ich dem Algorithmus ins Netz gegangen.

Unser Wohlstand ist wahrlich ein Fluch. Das Leben ist so einfach für uns geworden: Wir stillen unsere Grundbedürfnisse im Supermarkt und entkommen dem Tod dank moderner Medizin. Wir haben also viel zu viel Zeit übrig, in der wir uns mit dem Sinn des Lebens beschäftigen können. Auf dieser Sinnsuche stellen wir jedoch fest, dass wir nur ein kleines Individuum von ganzen acht Milliarden sind, ein winziger, kaum sichtbarer Punkt in einer riesigen Masse auf einem winzigen Planeten in einem unendlichen Universum. Ist es also ein Wunder, dass die Menschen diese unangenehme Tatsache mit dem Posten von Videos und dem Teilen von Selfies zu kompensieren suchen?

Der Schauspieler Adam West sagt in dem Kurzfilm Bats of the Round Table, in dem er mit Promi-Freunden über seine Batman-Fernsehserie aus den 1960ern spricht, Schauspieler*innen wollen geliebt werden und die Menschen beeindrucken, mit was auch immer sie tun. Der Schauspieler Phil Morris fügt hinzu, ein applaudierendes Publikum sei eine der größten Drogen überhaupt, weil es bedeute: Ich bin wichtig, ich hinterlasse etwas bei den Menschen. Wests und Morris’ Beobachtungen beschränken sich allerdings nicht nur auf Schauspieler*innen. Die „Droge“ erklärt auch die Selfies und TikTok-Videos: Wir Menschen wollen von Bedeutung sein und bei anderen einen Eindruck hinterlassen.

Ich erinnere mich, einmal zu einem Bekannten gesagt zu haben: „Es ist mir egal, was andere Leute über mich denken.“ Seine Augen weiteten sich ungläubig. „Es ist dir egal?“ Ich nickte. „Ja.“ Natürlich stimmt das nicht. Während es mir tatsächlich egal, was andere Leute über meine Kleidung, Haare, Hobbys oder Ernährungsweise denken, gibt es einen Teil in mir, der sehr wohl positiv gesehen und anerkannt werden möchte. Es stört mich wahnsinnig, dass die Friedhofsverwaltung unsere Namen nur zehn Jahre nach meinem Tod entfernen wird. Ich habe nachgefragt, ob ich die Gebühr denn nicht für zwanzig oder dreißig Jahre im Voraus bezahlen könnte. Es bestehe die Möglichkeit, die Gebühr für mehr als zehn Jahre zu bezahlen, wurde mir geantwortet, doch das müsste ich mit dem Friedhofsausschuss besprechen. Freilich ist es in Wirklichkeit vollkommen gleichgültig, ob unser Grabstein nun für zehn, zwanzig oder dreißig Jahre dort steht. Meine Familie und ich werden tot sein. Und trotzdem mag ich den Gedanken nicht, dass unsere Namen einfach so aus dieser Welt verschwinden.

In der im letzten Jahr erschienenen irischen Tragikomödie The Banshees of Inisherin stellen Colin Farrell und Brendan Gleeson die zwei lebenslangen Freunde Pádraic and Colm dar. Das Drama beginnt, als Colm völlig unerwartet Pádraic die Freundschaft kündigt. Obwohl Colm ihn für einen netten Kerl hält, findet er ihn zu dumm, um sich noch länger mit ihm abgeben zu wollen. Den Rest seines Lebens will er lieber mit dem Komponieren von Musik verbringen. An Tote, sagt Colm, würden wir uns nicht deshalb erinnern, weil sie nett waren, sondern weil sie Musik machten. Natürlich hat er recht mit diesem Argument. Die meisten von uns sind keine superberühmten Promis und geraten im Laufe der Zeit in Vergessenheit, mit oder ohne Grabstein. Als gutmütige, nette Person werde ich nach etwa zwei Generationen vergessen sein. Doch wenn ich singen und tanzen wie Michael Jackson könnte, würden die Menschen auch noch Jahrhunderte später meine Lieder hören. Michael Jackson ist es jetzt aber egal, dass wir immer noch seine Musik spielen und Selfies mit seiner Wachsfigur bei Madame Tussauds machen, und wenn Colm erst tot ist, wird es auch ihm egal sein, ob wir nun seinen Melodien lauschen oder nicht.

Vielleicht ist es ja unser Ego, das befriedigt werden will. Es könnte aber auch unsere verwirrte, nach einem Lebenssinn suchende Seele sein. Oder es könnte ebenso das unangenehme Wissen sein, dass wir aus Staub entstanden sind und am Ende wieder zu Staub werden, während das Leben ohne uns ganz normal weitergeht. Ich muss mein Ego wieder und wieder daran erinnern, dass Freundlichkeit und Güte viel wertvoller sind, als wenn sich die Menschen nach meinem Tod an mich erinnern. Meine Therapeutin sagt, wenn ich freundlich bin, dann ist das so, als werfe ich einen Stein ins Wasser: Er zieht Kreise, die andere positiv beeinflussen. Was für ein wunderschönes Bild! Ich denke immerzu daran, wenn mein Ego oder meine verwirrte Seele an die Tür klopfen und lautstark nach Anerkennung verlangen.

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