Buchauszug

Aufstieg der Antifaschisten

01.09.2015 - Daniel Bax

Rassismus will sich keiner nachsagen lassen – noch nicht einmal Rechtspopulisten. Er habe nichts gegen Muslime, sondern nur gegen den Islam, weil er den als eine faschistische Ideologie betrachte, beteuert Geert Wilders treuherzig, wann immer er ein Interview gibt. So ähnlich formulieren das auch andere "Islamkritiker" wie Ayaan Hirsi Ali, Alice Schwarzer, Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad.

Dabei bedienen sich diese »Islamkritiker« gerne eines Taschenspielertricks. Indem sie dem Islam absprechen, überhaupt eine Religion zu sein, und ihn stattdessen zu einer totalitären Ideologie erklären, die dem Faschismus gleicht, halten sie sich selbst im Handumdrehen für die einzig wahren Antifaschisten, weil sie die Gefahr erkennen und benennen, während alle anderen Appeasement betreiben. Muslime stellen sie dafür als die eigentlichen Rassisten dar, die, so Alice Schwarzer, zum Beispiel »Geschlechter-Apartheid« betrieben. Auch Marine Le Pen, FPO-Chef Heinz-Christian Strache und andere Rechtsparteien geben heute vor, entschieden gegen Rassismus zu sein – vor allem gegen solchen von muslimischer Seite.  Dabei steht außer Frage, dass es islamistische Gruppen wie die IS-Milizen oder Boko Haram gibt, deren Ideologie zweifellos totalitäre oder gar faschistoide Züge tragt. Doch indem eine populistische »Islamkritik« die Unterschiede zwischen dem Islam, dem Islamismus als politischer Ideologie und seinen terroristischen Auswüchsen bewusst verwischt, stempelt sie den Glauben von 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt zu einer Art irrationalem Gewaltkult ab. Mit diesem Argument lässt es sich leichter begründen, warum man die Religionsfreiheit für Muslime aushebeln will.


Die Gleichsetzung von Islam und Faschismus stammt aus dem Dunstkreis neokonservativer Denkfabriken in den USA und wurde nach dem 11. September benutzt, um den »Krieg gegen den Terror« als einen Kampf zwischen Freiheit und Demokratie und islamistischem Totalitarismus darzustellen. Doch die Rede vom »Islamofaschismus« dient auch innenpolitischen Zwecken. Ayaan Hirsi Ali war eine der ersten, die den Islam einen »neuen Faschismus« nannte und damit die Notwendigkeit von Angriffskriegen und einer drakonischen Integrationspolitik begründete. Auch Alice Schwarzer, Leon de Winter, Ralph Giordano und Necla Kelek haben den Islam mehrfach mit dem Faschismus oder dem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Alice Schwarzer vergleicht das Kopftuch gerne mit dem Judenstern im Dritten Reich und übergeht mit diesem geschmacklosen Vergleich die Tatsache, dass es von den meisten Frauen in Deutschland freiwillig getragen wird. Auf dem gleichen Niveau bewegte sich der Schweizer Journalist Heinz Gstrein, der im Vorfeld der Schweizer Anti-Minarett-Initiative im Schweizer Fernsehen und vielen Talkrunden als »Experte« auftrat und dort Minarette allen Ernstes mit Hakenkreuzen verglich.

 
Hamed Abdel-Samad hat sogar ein ganzes Buch geschrieben, in dem er die These ausarbeitet, der Faschismus sei schon in der Frühzeit des Islam angelegt – sozusagen ein Faschismus avant la lettre. Dass das vergleichsweise säkulare Regime des ägyptischen Diktators al-Sisi, das Abdel-Samad als kleineres Übel anpreist, längst selbst faschistoide Züge trägt, darüber verliert er in seinem Buch kein Wort. Noch plakativer geht die Anti-Islam-Aktivistin Pamela Geller vor: Um die angeblich innige Verbindung zwischen Faschismus und Islam aufzuzeigen, lies sie ein Plakat produzieren, das ein Foto eines Treffens von Adolf Hitler mit dem ehemaligen Mufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini zeigt, das 1941 stattgefunden hat.  Daneben stellte sie den Slogan, der Judenhass gründe schon im Koran, und die Forderung, sämtliche Zahlungen an alle islamischen Länder einzustellen. Mit diesem Motiv ließ sie 2014 die Busse der Washingtoner Verkehrsbetriebe überziehen. Ein anderer Islamfeind, Michael Sturzenberger, hält sich sogar für einen Wiedergänger der Widerstandsgruppe »Weiße Rose«, mit der die Geschwister Scholl gegen das Hitler-Regime aufbegehrten. 


Auch europäische Rechtsparteien gefallen sich neuerdings in der Rolle einer antiislamischen Resistance und waschen sich damit teilweise von ihrer eigenen rechtsextremen Vergangenheit rein. Nicht nur die Dänische Volkspartei geißelt den Islam schon lange als »faschistische Ideologie«, auch Heinz-Christian Strache nannte ihn den »Faschismus des 21. Jahrhunderts«. Marine Le Pen sorgte im Dezember 2010 für Empörung, als sie Muslime in Paris, die wegen des Raummangels in ihrer Moschee auf der Straße beteten, mit der Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg durch die Wehrmacht verglich. Die Gläubigen benahmen sich wie eine feindliche Armee in einem besetzten Gebiet – »ohne Panzer und ohne Soldaten, aber durch die Besatzung von Teilen des Gebiets«, in denen religiöses Recht angewandt und die einheimische Bevölkerung unter Druck gesetzt werde.


Der neue Rechtspopulismus zeigt sich offen für alle, er ist inklusiv und divers, ja, er schmückt sich geradezu mit seiner Vielfalt, um sich vom alten Rechtsextremismus abzuheben. Der moderne Rechtspopulismus ist damit ein Spiegelbild einer Einwanderungsgesellschaft und hat sich erfolgreich an deren Erfordernisse angepasst. Seine islamfeindliche Ideologie wendet sich nicht mehr gegen andere Hautfarben, eine fremde Herkunft oder sexuelle Orientierung, sondern nur noch gegen eine bestimmte Religion. Jeder kann im Prinzip mitmachen und sich einbringen – außer, er ist bekennender Muslim, trägt ein Kopftuch und geht ab und zu in die Moschee.


Damit ist dieser Rechtspopulismus nicht nur anschlussfähig für viele gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, Juden und Homosexuelle, die sich vom klassischen Rechtsextremismus und dessen Antisemitismus, seiner Homophobie und seinem reaktionären Frauenbild schwerer angesprochen fühlen können. Er zeigt sich sogar offen für Einwanderer – insbesondere für solche aus christlich geprägten Ländern, für christliche Minderheiten aus muslimischen Ländern, aber auch für alle anderen. Es ist in Österreich bekannt, dass viele serbische Einwanderer in Österreich FPÖ wählen, weil sie deren Abneigung gegen Muslime teilen. Die Lega Nord stellte 2009 im kleinen Ort Viggiu in der Provinz Varese mit der gebürtigen US-Amerikanerin Sandy Cane sogar die erste schwarze Bürgermeisterin Italiens. Und in den Niederlanden finden sich unter den Wählern der Freiheitspartei von Geert Wilders auch indische Einwanderer aus Surinam – vor allem solche, die dem Hindu-Nationalismus fronen oder besonders aufstiegsorientiert sind.

 
In Belgien buhlt der Vlaams Belang schon lange um die jüdische Minderheit, die in einer Stadt wie Antwerpen eine wichtige Wählergruppe bildet. Auch der Front National bemüht sich mit wachsendem Erfolg um jüdische Wähler, sogar eine kleine Zahl rechter Muslime gibt es in seinem Umfeld. Einmal rief gar der Ex-Mufti von Marseille Soheib Bencheikh dazu auf, lieber Le Pen als Sarkozy zu wahlen.  Dass der ehemalige AfD-Chef Bernd Lucke noch kurz vor seiner Abwahl im Juni 2015 den offen schwulen Deutschtürken Andre Yorulmaz als AfD-Generalsekretär ins Gespräch brachte, passt ins Bild: Damit wollte er zwei verschiedenen Wählergruppen signalisieren, dass sie keine Angst vor der AfD haben mussten, nämlich den Einwanderern und den Homosexuellen. Ob das unter seiner Nachfolgerin Frauke Petry so bleibt, steht auf einem anderen Blatt.
Selbst in den antimuslimischen Bewegungen auf der Straße spiegelt sich die Vielfalt moderner Einwanderungsgesellschaften wider. Die English Defence League leistete sich eine eigene Sikh-Abteilung, deren Sprecher Guramit Singh Kalirai mit besonders giftigen Parolen gegen Muslime auffiel, bevor er 2013 wegen versuchten Raubes ins Gefängnis wanderte. Und zum zwölfköpfigen Organisationsteam von Pegida gehörte von Anfang an der 1987 aus Mosambik eingewanderte Hamilton George: Bei den Kundgebungen in Dresden stand er meist in der ersten Reihe und trug die Transparente der »Patriotischen Europäer«.


Sind diese antimuslimischen Parteien und Bewegungen also gar nicht rassistisch? Das kommt ganz darauf an, wie man Rassismus definiert. Wenn man unter Rassismus eine Ideologie versteht, die anhand biologischer Unterschiede eine Hierarchie unter den Völkern aufstellt, dann ist das sicher nicht der Fall. Solche Konzepte beruhen auf kruden Rassentheorien, wie sie etwa die Nationalsozialisten aufstellten, um ihren Hass auf Juden pseudowissenschaftlich zu begründen. Wenn man Rassismus aber als eine Ideologie begreift, die anhand bestimmter Merkmale wie der Religionszugehörigkeit eine Ungleichwertigkeit behauptet und damit eine Ungleichbehandlung legitimiert, wie das in Teilen die heutige Rassismusforschung macht, dann liegen die Dinge anders. Dann kann man die Parolen mancher »Islamkritiker« und die politischen Forderungen von Rechtspopulisten durchaus als rassistisch bezeichnen.  Manche Experten sprechen deshalb lieber von antimuslimischem Rassismus als von Islamophobie, weil sie dahinter keine irrationale Abneigung, sondern ein geschlossenes, ideologisch gefestigtes Weltbild erkennen.


Manchmal bröckelt die respektable Fassade der Rechtspopulisten. So war es, als Geert Wilders nach den Kommunalwahlen im März 2014 in einer Kneipe in Den Haag seinen Anhängern zurief: »Wollt ihr in dieser Stadt oder in den Niederlanden mehr oder weniger Marokkaner?« Als ihm daraufhin die »Weniger, weniger«-Rufe aus dem Saal entgegenschallten, lächelte Wilders maliziös und versprach: »Dann werden wir das regeln.« Die Szene brachte Wilders einen Sturm der Entrüstung und Hunderte von Strafanzeigen ein, sie entsetzte sogar einige Funktionäre, die aus seiner Partei austraten. Nun muss sich Wilders erneut vor Gericht verantworten. Dabei war er erst 2011 in einem aufwändigen Verfahren, das er geschickt als Bühne für sich zu nutzen verstand, noch vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen worden.


Die FPÖ geriet in Schwierigkeiten, als der türkischstämmige Unternehmer Hakan Sukun für sie 2015 als Kandidat in Vorarlberg antrat und in einem Interview freimütig bekannte, mit Slogans wie »Daham statt Islam« nicht viel anfangen zu können. Ausgerechnet im Ort Lustenau, in dem er kandidierte, schnitt die FPÖ bei den Regionalwahlen im März 2015 schlechter ab als erwartet. Nach der Wahl machte Parteichef Strache, der ihn zuvor noch als Musterbeispiel für gelungene Integration gepriesen hatte, Hakan Sukun zum Sündenbock für das schlechte Ergebnis und sprach von einer »krassen personellen und inhaltlichen Fehlbesetzung«.


Ähnlich harsch reagierte der Front National, als ihr Jungabgeordneter im Gemeinderat von Noisy-le-Grand, Maxence Buttey, sich mit 22 Jahren plötzlich entschied, 2015 vom Katholizismus zum Islam überzutreten. Knapp davor, ihn zu suspendieren, entzog ihm die Parteiführung alle Befugnisse.  Der Grat zwischen vorgeblicher »Religionskritik« und offener Ausgrenzung ist eben schmal.


Besonders deutlich wird das auch in Online-Foren, etwa auf »Politically Incorrect«, wo Ausdrücke wie »Abschaum«, »Gesindel« und »Türkendreck« eine deutliche Sprache sprechen. Noch deutlicher wurde es bei Thilo Sarrazin, der seine These von den unintegrierbaren Muslimen in seinem Bestseller Deutschland schafft sich ab mit einer Prise Intelligenzforschung abzurunden versuchte. Sein Ausflug in die Vererbungslehre hatte ihn beinahe Kopf und Kragen gekostet, und manche Peinlichkeit wurde aus späteren Auflagen des Buches getilgt.  Es bleibt aber der Versuch, eine Art Rassenkunde für das 21. Jahrhundert zu entwerfen.


Sarrazins »biologistische« und »eugenische« Thesen wurden vielfach kritisiert. In seinem Buch legt er nahe, Deutschland werde durch Einwanderer aus dem Nahen Osten, der Türkei und Afrika »immer dümmer«, weil Intelligenz »zu 50 bis 80 Prozent« von den Eltern vererbt werde, was die Aussichten auf den Schulerfolg von Einwandererkindern und die Entwicklung ganzer Völker begrenze. Deutschrussen attestierte er eine »altdeutsche Arbeitsauffassung« und Juden einen höheren IQ, während er gegenüber der muslimischen Kultur ein »Unwerturteil« für angebracht hielt. Dabei verwendete er sorglos so belastete Begriffe wie »Zuchtwahl« und »Auslese«.  Und im Gespräch mit seinem Bewunderer Henryk M. Broder, das in der taz abgedruckt wurde, gab er freimütig zu, in seinem Manuskript überall dort, wo er ursprünglich »Rasse« geschrieben hatte, es auf Anraten seines Lektors durch das Wort »Ethnie« ersetzt zu haben.  Sarrazin ist ein Paradebeispiel dafür, wie sehr Vorstellungen und sogar das Vokabular aus der Nazizeit bis heute nachwirken, zumindest in der älteren Generation (Sarrazin ist Jahrgang 1945). Umso erstaunlicher, dass Sarrazin in vielen Leitmedien, von der Justiz und sogar von seiner Partei letztlich vom Vorwurf des Rassismus freigesprochen wurde. 


Dabei hatte schon Sarrazins konsequente Gleichsetzung des Islam mit dem Mittelalter, mit Gewalttätigkeit und Frauenverachtung gereicht, für die er sich auf die Schriften Necla Keleks stützte, um seine Thesen problematisch zu finden. Auch rechtspopulistische Parteien schrecken vor ähnlich drastischen Verallgemeinerungen nicht zurück. Vor den Wahlen im November 2001, mit denen ihr kometenhafter Aufstieg begann, brachte die Dänische Volkspartei eine zweihundertseitige Broschüre mit dem Titel »Dänemarks Zukunft – dein Land, deine Wahl« heraus. In dem Heft illustrierte sie die Gefahr, die Dänemark angeblich durch seine muslimischen Einwanderer drohe, mit Kriminalitätsstatistiken, Grafiken und einschlägigen Fotos. Der Berliner Bezirk Kreuzberg wurde als besonders abschreckendes Beispiel hingestellt: In Schulen und Geschäften wurde nur Türkisch gesprochen, die Frauen trugen alle Kopftuch, und der Islam sei die vorherrschende Religion. Der Volkspartei-Funktionär Vagn Eriksen forderte damals unverblümt, alle Muslime aus dem Land zu werfen. Und ihr langjähriger, 2014 verstorbener Abgeordneter im Parlament von Kopenhagen, der Pastor Jesper Langballe, tönte einmal, muslimische Männer schlugen ihre Tochter tot und schauten weg, »während der Onkel sie vergewaltigt«. Auf öffentlichen Druck hin ruderte er zurück, und seine damalige Parteivorsitzende Pia Kjarsgaard relativierte seine Aussage, indem sie meinte, Langballe habe wohl »etwas übertrieben«.


Die Rechtspopulisten von heute verteidigen keine ethnisch definierte Volksgemeinschaft mehr, sondern eine kulturell definierte. Sie gehen nicht mehr von biologischen Unterschieden unter den Völkern aus, sondern halten nur noch die eigene Kultur für überlegen und nicht mit dem Islam vereinbar. Die Konsequenz für Muslime daraus lautet: Auswanderung oder Konversion. Manche fordern das ganz offen: Die Dänische Volkspartei forderte im März 2015 ein Exit-Programm, um Muslimen zu helfen, den Islam zu verlassen. Ihr Sprecher Martin Henriksen sagte, es solle sich aber nur an jene wenden, die von sich aus Unterstützung suchten. Und Geert Wilders erklärte in einem Interview: »Ich wünsche mir, dass diese Menschen sich vom Joch des Islam befreien, dass sie Atheisten oder Christen werden oder was auch immer.« 


Bis zu einem gewissen Grad lassen sich die Ressentiments gegen Muslime von heute mit dem Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert vergleichen – also mit jener Judenfeindlichkeit, die noch vorwiegend religiös und kulturell begründet wurde, bevor die Nationalsozialisten mit ihrem biologistisch begründeten Antisemitismus die Oberhand gewinnen sollten. Erst 1871 hatten die Juden im Kaiserreich die vollen Bürgerrechte erhalten, wogegen damals 250 000 Bürger in einer »Antisemiten-Petition« an den Reichskanzler Bismarck vergeblich protestierten.  Dass Juden jetzt Lehrer, Beamte oder Richter sein sollten, war vielen nicht geheuer. Zugleich fürchtete man eine demografische Überfremdung durch jüdische Einwanderer aus Osteuropa, die aus Armut oder vor Pogromen nach Westen flüchteten. Nach dem Börsenkrach von 1873 erschien eine wahre Flut von Schriften zur »Judenfrage«. Es bildeten sich antisemitische Vereine, insbesondere in Sachsen und Hessen, die sich zu internationalen Kongressen mit ähnlichen Bewegungen aus dem Ausland trafen, und es entstanden gleich mehrere antisemitischen Parteien, die einen kompletten Einwanderungsstopp und eine rechtliche Beschränkung jüdischen Lebens in Deutschland forderten und sich nur darin unterschieden, dass manche eine eher sozialstaatliche und andere eine eher wirtschaftsliberale Haltung vertraten. Diese Parteien blieben zwar marginal, aber trugen dazu bei, dass die Regierung Einwanderungsbeschränkungen erlies und damit begann, insbesondere Juden aus Osteuropa auszuweisen. Zugleich wurden Hürden bei der Einbürgerung erlassen, und es kam zu ersten Brandanschlägen auf Synagogen.


Der preußische Historiker Heinrich von Treitschke warnte im »Berliner Antisemitismusstreit« von 1879 vor einer ungebremsten Masseneinwanderung »strebsamer hosenverkaufender Jünglinge«, die »aus der unerschöpflichen polnischen Wiege« nach Westen strömten. Es fällt nicht schwer, in ihm einen Vorgänger von Thilo Sarrazin und dessen Verachtung für »türkische Gemüsehandler« und »Kopftuchmädchen« zu sehen, denn auch Treitschke gerierte sich als Tabubrecher und gab vor, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen.


Auch der hessische Bibliothekar Otto Böckel fürchtete sich vor den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa, die ständig neue Kinder produzierten. »Dort wohnt beinahe die Hälfte der europäischen Juden. Hier befindet sich die große vagina judeorum, aus welcher die Juden Europas Auffrischung und neuen Zuwachs erhalten«, warnte er in seinen Reden über die »Judenfrage«.  Böckel war ein politischer Agitator, der 1887 mit der Parole »Gegen Junker und Juden« als erster unabhängiger Antisemit in den preußischen Landtag gewählt wurde und »judenfreie Viehmarkte« organisierte. Wie er dabei zwischen linken und rechten Positionen oszillierte, erinnert an den Geert Wilders von heute. In Österreich spielte derweil Wiens legendärer antisemitischer Bürgermeister Karl Lueger verschiedene Einwanderergruppen gegeneinander aus, indem er Attacken auf die Juden ritt, die proletarischen und katholischen Böhmen aber ausdrücklich in Schutz nahm.  Nicht anders macht es heute sein Nachfolger im Geiste, FPO-Chef Heinz-Christian Strache, wenn er »die Serben« in seinem Land umgarnt, aber die Türken ausgrenzt.


Im frühen 20. Jahrhundert stiegen Verschwörungstheorien wie Die Protokolle der Weisen von Zion zu Bestsellern auf, so wie heute die Bücher von Udo Ulfkotte und anderen, und das 1923 von Julius Streicher gegründete Hetzblatt Der Stürmer erzielte in der Weimarer Republik mit propagandistisch aufbereiteten Schauergeschichten über Vergewaltigungen, Mädchenhandel und andere Verbrechen, für die Juden verantwortlich gemacht wurden, hohe Auflagen – so wie heute Hetzblogs wie »Politically Incorrect« mit ihren Schauergeschichten über Ehrenmorde und »Migrantengewalt« tausendfach im Internet angeklickt werden. Was früher »Verjudung« hieß, wird heute »Islamisierung« genannt, und die Hauptstadt Berlin galt vielen als besonders »verjudet«, weil dort ein Drittel aller Juden in Deutschland lebten. Insgesamt machten Juden damals im Deutschen Reich weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus. Doch den politischen und wirtschaftlichen Eliten und der »Judenpresse« wurde der Vorwurf gemacht, mit dieser Minderheit unter einer Decke zu stecken, ja, heimlich von ihr beherrscht zu werden. Ganz ähnliche Debatten gab es zu jener Zeit auch in anderen europäischen Ländern, in Frankreich und Großbritannien.


Zu diesen »Überfremdungsängsten« und Verschwörungstheorien kamen noch der Vorwurf der Unterwanderung und »Zersetzung« sowie die Angst vor dem Terror. Dass in den Reihen von Anarchisten, Revolutionären und Kommunisten auffällig viele Juden zu finden waren, werteten Antisemiten als Beweis für ihr Vorurteil, dass Juden an Aufruhr und Gewalt gelegen sei. Dabei griffen sie auf ähnliche Stereotype zurück, wie es die Islamhasser von heute tun. Sie behaupteten, die Religion der Juden sei unmoralisch und inhuman und ihre Gesetze forderten zu Betrug und Verstellung sowie zur Gewalt gegen Andersgläubige auf, und zitierten als Beweis entsprechende Passagen aus dem Talmud. »Was früher Talmud-Hetze war, ist heute Koran-Hetze«, sagt der deutsche Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz. Der nationalsozialistische Stürmer brachte diese Hetze gegen »Talmudjuden« und ihr angebliches »Geheimgesetz«, die Halacha, zu wahrer Meisterschaft und führte gerne Zitate aus dem heiligen Buch der Juden an, um zu »belegen«, dass Kindesmissbrauch im Judentum kein Verbrechen sei oder dass der Talmud die Tötung von Nichtjuden erlaube, kurz, dass alle angeblich von Juden begangene Verbrechen letztlich auf ihre Religion und Gesetzeslehre zurückzuführen seien.
Wer will, kann noch mehr Parallelen finden: Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik verglich den Vorwurf der »Parallelgesellschaften«, zu denen Muslime angeblich neigten, mit dem Angstbild vom »Staat im Staate«, das Juden zu bilden einst unterstellt wurde. Und so, wie heute um den Bau von Moscheen gestritten wird, so erregte schon früher im Kaiserreich der Bau von Synagogen Anstoß – daran erinnerte der Architekt Salomon Korn. Der Grünen-Politiker Fritz Kuhn, der spätere Oberbürgermeister von Stuttgart, fühlte sich beim Anblick der Mohammed-Karikatur von Kurt Westergaard 2006 spontan an Zeichnungen aus dem antisemitischen Stürmer erinnert.


Mit ihrem Antisemitismus reagierten Teile der europäischen Bevölkerung auf einen sozialen und wirtschaftlichen Wandel, den sie bedrohlich fanden, sagt der Experte Wolfgang Benz. Nicht anders sei es bei den Islamfeinden von heute. Manchen Juden gingen die Anfeindungen gegen ihre Religion damals sogar derart in Fleisch und Blut über, dass sie sie verinnerlichten und zum Teil übernahmen. So gehen einige der härtesten Urteile über Juden auf Persönlichkeiten zurück, die selbst jüdischer Herkunft waren, von Karl Marx und Ferdinand Lassalle bis Karl Kraus. Die Abneigung, die assimilierte Juden in Westeuropa gegen ihre »rückständigen« und orthodox-religiösen Glaubensbrüder aus Osteuropa entwickelten, ist legendär. Mit diesen mit Kaftan, Schläfenlocken und Gebetsriemen auftretenden Männern und altmodisch verhüllten Frauen wollten sie nichts zu tun haben, und so gaben sich manche patriotischer und deutschnationaler als ihre christlichen Mitbürger. Dieser Hass auf die eigene Herkunftsgruppe findet sich auch bei manchen Renegaten und »Islamkritikern« von heute, ob sie nun Kelek, Hirsi Ali oder Abdel-Samad heißen.


Ein besonders absurdes Beispiel für eine solche Über-Assimilation bietet der deutsch-türkische Schriftsteller Akif Pirincci, der ursprünglich einmal durch Katzenkrimis bekannt wurde, sich aber seit 2012 mit offen rechtsradikalen Sprüchen profiliert – zuerst auf rechten Blogs wie der Achse des Guten, später in seinem Buch mit dem Titel Deutschland von Sinnen, das im rechten Manuscriptum-Verlag erschien und ein Bestseller wurde. Darin teilt er mit vulgärer Polemik gegen Frauen, Homosexuelle und Muslime aus und plädiert für einen neuen, deutschnationalen Patriotismus. Seinen Auftritt bei einer Demonstration eines Pegida-Ablegers in Bonn im Dezember 2014 beendete er mit den Worten: »Es lebe das heilige Deutschland.«


Auf Parallelen zwischen dem Antisemitismus von einst und den antimuslimischen Ressentiments von heute hinzuweisen bedeutet nicht, dass Muslime deshalb die »Juden von heute« waren, wie es Demagogen auf der anderen Seite behaupten, oder dass gar ein »Holocaust gegen Muslime« bevorstehe, wie etwa der salafistische Prediger und Konvertit Pierre Vogel warnt. Von einem Völkermord, ja, auch nur von Schikanen wie den »Nürnberger Rassengesetzen«, mit denen die Nazis die jüdische Minderheit in Deutschland drangsalierten, sind die Muslime in Europa weit entfernt. Jeder Vergleich zwischen der heutigen Zeit und dem Zivilisationsbruch unter dem Nazi-Regime führt in die Irre und ist fehl am Platz. Die Geschichte wiederholt sich nicht, und wenn, dann als Farce. Man darf auch nicht vergessen, dass der Antisemitismus längst nicht überwunden ist – judenfeindliche Einstellungen sind in Europa bis heute verbreitet, auch unter Muslimen und Einwanderern. Es wäre falsch, dass gegeneinander aufzurechnen.


Man sollte den aktuellen Hass auf Muslime aber nicht verharmlosen und unterschätzen, denn auch er kann in Gewalt umschlagen oder zumindest dazu dienen, Gewalt zu rechtfertigen. Im Konflikt um das Kosovo lagen die Sympathien von FPÖ und Lega Nord ganz eindeutig bei den Serben, nicht bei den Kosovaren. Die Lega Nord machte schon 1995 klar, dass sie den Krieg um das Kosovo als Teil eines Kampfes gegen die Islamisierung Europas betrachtete, und propagierte den Schulterschluss mit der serbischen Seite, ihr damaliger Vorsitzender Umberto Bossi traf sich sogar mit Serbiens Präsidenten Slobodan Miloševi . Und als das Kosovo 2008 als Staat anerkannt wurde, empörte sich FPÖ-Chef Strache, das sei »serbisches Kernland«.


Zum Völkermord, den serbische Milizen 1995 in der bosnischen Enklave Srebrenica begangen haben, vertreten manche »Islamkritiker« und Rechtspopulisten deshalb eine ganz eigene Meinung. Der Schweizer Politiker Oskar Freysinger, der maßgeblich für die Anti-Minarett-Kampagne in seinem Land verantwortlich war, findet, das Massaker an 8 000 Zivilisten werde aufgebauscht, außerdem seien ja keine Frauen und Kinder getötet worden. Sein Freund, der serbischstammige Schriftsteller Slobodan Despot, sieht das Massaker ähnlich und hält es – anders als die UNO – für keinen Völkermord. Freysinger, der für die SVP im Staatsrat des Kantons Wallis sitzt, ernannte Slobodan Despot 2013 zu seinem Kommunikationsverantwortlichen.  Dazu passt, dass in der SVP-nahen Weltwoche im März 2015 ein Inserat erschien, mit dem das Buch des in Basel lebenden serbischstämmigen Genozidleugners Alexander Dorin über die angebliche »Srebrenica-Lüge« beworben wurde.


Vielleicht hatte es auch mehr zu denken geben sollen, dass Thilo Sarrazin mit seinem Satz, die Türken würden Deutschland erobern »wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate«, an serbische Propagandamythen angeknüpft hat. Aber unabhängig davon bleibt die Frage: Was müssen die NSU-Mörder wohl gedacht haben, als sie Thilo Sarrazin in Talkshows gesehen oder in der Zeitung gelesen haben, wie er über Muslime herzog? Sie dürften sich bestätigt gefühlt haben.

 


Das war ein Auszug aus: Daniel Bax: Angst ums Abendland. Warum Deutschland seine Muslime nicht fürchten muss. Westend Verlag, Frankfurt am Main. Erschienen am 31.08.2015.

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