Reisebericht

Auroville – die größte internationale Kommune der Welt wird 50

01.03.2018 - Morten Hübbe & Rochssare Neromand-Soma

Als ich das erste Mal von der Kommune Auroville höre, muss ich an Aremorica denken, die antike nordwestliche Küste Frankreichs – und an ein kleines gallisches Dorf aus der Zeichenfeder Albert Uderzos. Berauscht von einem unwiderstehlichen Zaubertrank trotzen die lustigen Bewohner um Asterix und Obelix den Widerständen der Außenwelt. Chaotisch, charmant, nonchalant. Aremorica wird in meinem Kopf zum quatschigen, hippiehaften Vorbild einer freien Welt und entspricht meiner vagen Vorstellung von der einzigartigen Gemeinschaft Auroville im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Ich kann sie schon vor meinem geistigen Auge sehen, all die Langhaarigen, die Halbnackten, die Blumenketten, die bärtigen, barfüßigen Barden mit ihren Klimpergitarren, wie sie auf dem Dorfplatz um ein riesiges Lagerfeuer zusammensitzen und kiffen. Ich gebe zu, als ich das erste Mal von Auroville höre, habe ich keine Ahnung.

Als ich das erste Mal von Auroville höre, sind wir im Nordosten der Türkei und bereits auf dem Landweg nach Indien; auf einer Strecke, die vor ein paar Dekaden als Hippie-Trail bekannt war. Obwohl er heute wegen geopolitischer Konflikte keine Option für eine sichere Reise ist, übt der Hippie-Trail noch immer eine starke Anziehungskraft auf viele Reisende aus. Auch wir sind fasziniert. Die Schätze der Türkei, die alte Kultur im Iran, die Gastfreundschaft in Pakistan.

Als ich das zweite Mal von Auroville höre, sind wir schon im Norden Indiens angekommen. Jetzt hören wir große Worte. Da ist plötzlich die Rede von einer Sekte, die den Ideen des Gurus Sri Aurobindo unterworfen sei und von einer Französin, die von allen nur La Mère oder The Mother genannt wird. Ein anderes Mal hören wir aber auch von Auroville als einer Spielwiese für Freigeister und Aussteiger. Von Spiritualität und Workshops zur Persönlichkeitsentwicklung und zu nachhaltigen Lebensweisen ist die Rede, von Yoga und Meditation in einem wundersamen Wald. Und wieder verschwindet Auroville im Unterbewusstsein. Doch dort lebt es weiter, dringt ins Hirn, bleibt im Gedächtnis hängen. Unser Weg führt uns weiter – kreuz und quer durch Indien – bis wir die ehemalige französische Kolonialstadt Pondicherry ganz im Süden des Subkontinents erreichen. Hier trifft es uns! In den hübschen, mediterranen Gassen befindet sich das Ashram, das Meditationszentrum, von Sri Aurobindo, dem frühen indischen Freiheitskämpfer, Poeten und Begründer einer Lebensform, die er selbst als integrales Yoga bezeichnet. Hier in Pondicherry verbreitet er seine Philosophie.

Sri Aurobindo sagt Sätze wie „Alles Leben ist Yoga.“ oder „Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution.“ Das klingt für viele verrückt und für wenige verheißungsvoll. Ich mag vor allem den zweiten Satz. Nicht, dass ich ihn verstünde, aber mir gefällt die Idee, dass der Mensch noch nicht an seinem Ende angekommen ist. Sri Aurobindo untergräbt den Sockel der höchsten Schöpfung, auf den sich der Mensch seit Entwicklung der Selbstreflexion gesetzt hat. Ihm zur Seite steht Mira Alfassa, eine Französin, die er als spirituelle Partnerin anerkennt. Beide ergänzen sich: Der Guru philosophiert, La Mère, seit den 1930er Jahren im Ashram, organisiert.

Sri Aurobindo entwickelt und verfolgt eine Philosophie des höheren Bewusstseins, die versucht durch inneren Wachstum und durch Transformation der menschlichen Natur eine neue Gesellschaft zu formen. Dabei will Sri Aurobindo keine Mönche im Kloster erziehen, will niemanden von der Außenwelt abschotten. Stattdessen wünscht er sich ein Wirken auf die Welt durch den Einzelnen. Die Menschheit soll den nächsten evolutionären Schritt machen, erklärt er. Das supramentale, das metaphysische Bewusstsein ist das Ziel. Das alles klingt schwer nachvollziehbar und auch die Bücher des Philosophen sind für den unbedarften Leser eher Last als Genuss. Doch die großen Worte werden in einer Ära geäußert, in der sie auf fruchtbaren Boden fallen. Mitte der 1940er sucht Indien nach einer Erneuerung, die Unabhängigkeitsbewegung steht vor ihrem Ziel, die Menschen sehnen sich nach Veränderung und Sri Aurobindo inspiriert sie. Seine Anhänger kommen vor allem aus seiner alten Heimat Kalkutta und dem heutigen Westbengalen.

Als Sri Aurobindo 1950 seinen Körper verlässt, so beschreiben sie in Indien den Tod, hat er bereits viele Anhänger um sich versammelt. La Mère leitet jetzt das Ashram und führt die Philosophie fort, die auch in Europa und Nordamerika Anhänger findet. In den 1960er Jahren ist die Jugend in der westlichen Welt geprägt von der Flower-Power-Bewegung, äußert sich kritisch zum überbordenden Materialismus der Nachkriegsgeneration, verurteilt Unterdrückung und Gewalt, stellt sich vehement gegen den Vietnamkrieg. Sie heiligt dem mystisch-spirituellen Wertekanon und den philosophisch-transzendentalen Strömungen Asiens. Der Buddhismus ist ein heißes Thema, Yoga ist en vogue und weil in der Heimat viele Köpfe noch sehr verschlossen sind, fliehen die jungen Wohlstandskinder nach Osten. Die Philosophie Sri Aurobindos eröffnet der gerade geborenen Hippie-Generation eine praktisch-spirituelle Alternative zum Bausparvertrag. Wer dem Buddhismus nahe steht, findet auch in der Philosophie Sri Aurobindos viel Erhellendes. Die Überwindung von Leid und ein undogmatischer Ansatz sind wesentlich für die Lehre.

Geprägt von der Idee Sri Aurobindos auf die Welt einzuwirken, entwickelt Mira Alfassa, La Mère, das Konzept einer Stadt, deren Bewohner der Welt als Experimentierfeld und leuchtendes Beispiel dienen sollen. Nichts Geringeres als das Ideal einer geeinten Menschheit ist das Ziel. La Mère nennt die Stadt Auroville, die Stadt der Morgenröte. Weder Geld noch Politik, so ist es geplant, sollen das Leben in Auroville bestimmen. Stattdessen sollen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und Religion als Weltbürger friedlich und in Harmonie miteinander leben. Frei von Machtbedürfnissen, frei von privatem Grundbesitz und materiellen Wünschen, kapitalistischen Wachstumsideen und Unterdrückung. Eine moralisch integre, universelle Gemeinschaft, die sich der persönlichen Entwicklung hin zu einem höheren Bewusstsein verschreibt; deren Mitglieder nicht im Wettbewerb, sondern in Freundschaft und Brüderlichkeit zueinander stehen.

Auroville ist eine Vision, ein Traum von einer besseren Welt. Frei von materiellem Ballast soll hier das spirituelle Bewusstsein gefördert werden. Auroville, so ist es der Wunsch von La Mère, solle keine Nation ihr Eigen nennen – ein unabhängiger Ort für freie, aufrichtige Menschen. Am 28. Februar 1968 erfolgt der erste Spatenstich. Roger Anger, ein französischer Architekt steht dafür Pate. Repräsentanten aus 124 Nationen sind der Einladung gefolgt und bringen Erde aus ihren Heimatländern mit, die sie nun gemeinsam in einer Urne auf dem Gelände Aurovilles versiegeln; auf dass die Menschheit zusammenwachsen und all ihre Probleme gemeinsam lösen möge. Auch die UNESCO unterstützt Auroville vom ersten Tag als zukunftsweisendes Projekt. Die Fiktion Auroville wird zur Realität. Die indische Regierung gestattet Auroville Sonderrechte und eine gewisse Autonomie. Bis heute mischt sich der Staat nicht in die Belange Aurovilles. Die indische Polizei darf nur dann in Auroville arbeiten, wenn sie von der Stadt der Zukunft dazu aufgefordert wird.

Der Stadtplan Roger Angers ist dem Zeitgeist entsprechend futuristisch. Wie eine Galaxie soll sich die Stadt der Zukunft ausbreiten. Das Zentrum des Spiralnebels bildet der Matrimandir, der Tempel der Mutter. Ein Gebäude, geträumt von La Mère, das den Bewohnern Aurovilles als Quelle spiritueller Kraft dienen soll. Doch noch weiß niemand, wie der Matrimandir errichtet werden kann. Damals, 1968, ist die Umsetzung schlicht nicht möglich.

Ganz in der Nähe des Golfs von Bengalen und nur wenige Kilometer von Pondicherry entfernt, befindet sich das Laboratorium für eine bessere Welt. Doch in den Anfangsjahren hat das Projekt Auroville erst einmal mit sich selbst zu tun. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die freiwilligen Helfer, die sich, aus aller Welt kommend, dem Aufbau Aurovilles verschrieben haben.

Das Land ist unfruchtbar, kaum ein Baum spendet Schatten. Viele Quellen der umliegenden Dörfer sind ausgetrocknet oder beinahe erschöpft, ein Resultat der rücksichtslosen Abholzung während der lange andauernden britischen Kolonialzeit. Aber auch die in den 1960ern eingeführte Grüne Revolution, die traditionelles Saatgut durch schnellwachsende Hochleistungssorten ersetzte und damit die regionale Diversität der Monokultur opferte, trug zur Erschöpfung des Bodens bei. Rotes Land, blauer Himmel und der glitzernde, fünf Kilometer entfernte Golf von Bengalen sind die Konstanten jener Tage. Doch der Pioniergeist der ersten Stunde ist unbändig. Etwa 400 angehende Bewohner schuften in den ersten Jahren unter der prallen südindischen Sonne für die Stadt der Zukunft. Und immer mehr Freiwillige zieht das Projekt an. 50.000 Menschen sollen einmal dort leben, wo brüchiger, staubiger Boden bis zum Horizont reicht. Ein grauer Hippiebus, der den weiten Weg von Frankreich bis nach Auroville überstanden hat, ist der einzige Komfort. Mit ihm werden Lebensmittel, Werkzeuge, Baumaterialien – alles, was zum Leben in der Ödnis benötigt wird – aus Pondicherry herangefahren.

Die Lebensbedingungen sind hart. In einfachen, mit Palmwedeln gedeckten Hütten hausen die ersten Bewohner der noch zu errichtenden Stadt. Das heiße und feuchte Klima des südlichen Subkontinents macht ihnen zu schaffen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bearbeiten sie zusammen mit vielen einheimischen Arbeitern die Erde, graben Wasserbecken und Kanäle, pflanzen die ersten Bäume, verbessern die Bodenqualität. Eines ist allen klar: Für eine Stadt der Zukunft muss zunächst eine fruchtbare Grundlage geschaffen werden.

50 Jahre später ist das Auroville der ersten Tage nicht mehr wiederzuerkennen. Das Glitzern des Golfs von Bengalen ist schon lange nicht mehr zu sehen. Zwischen dem blauen Himmel und der roten Erde breitet sich ein scheinbar undurchdringlicher Wald aus. Tropischer Trockenwald, so wie er vor Jahrhunderten hier beheimatet war, erstreckt sich über dutzende Kilometer. Heute gehören über einhundert Siedlungen zu Auroville, das sich auf einer Fläche von etwa 20 Quadratkilometern erstreckt. Aufforstung ist noch immer einer der wesentlichen Aufgabenbereiche der Stadt; doch schon lange nicht mehr der einzige. Organische Landwirtschaft, alternative Energien, Bildung, Gesundheit, Bauwesen, Handwerk, Kunst und Kultur, Verwaltung und Stadtplanung sind Teil der Agenda in Auroville geworden. Mittlerweile zählt Auroville über 2.500 registrierte Einwohner, die Aurovillianer. Sie stammen aus über 50 verschiedenen Nationen; etwa die Hälfte von ihnen kommt aus Indien. Die größte ausländische Gruppe stellen die Franzosen, gefolgt von den Deutschen und Italienern. Sie alle stellen sich dem übermäßigen Leistungsdruck, dem Konsum, dem kapitalistischen Wertesystem entgegen und arbeiten unermüdlich an einer besseren Welt. Darüber kann man schmunzeln oder man schaut es sich an. Auroville ist mehr als eine Fassade aus guten Ideen und viele der erträumten Ideale, das werden wir während unserer zehn Monate in Auroville lernen, sind auch 50 Jahre nach der Gründung noch immer im Entstehungsprozess.

Auroville und das Leben in urbaner Natur

Wohnen in Auroville heißt wohnen mitten in der Natur. Sie breitet sich bereits vor der Türschwelle aus, der Blick geht ins Grüne. Der Duft des Waldes durchströmt Körper und Seele. Der Ruf des Wechselkuckucks ersetzt den morgendlichen Wecker und fast alle unsere Tage hier beginnen wir mit einem zufriedenen Lächeln.

Wer in Auroville aufwacht, befindet sich meist in materieller Einfachheit und umgeben von Gleichgesinnten. Die etwa 100 Siedlungen, hier nennt man sie Communities, sind oft sehr unterschiedliche Zellen im großen Ganzen Namens Auroville. Manche von ihnen umfassen nur eine Handvoll einfacher Hütten und ebenso viele Bewohner im Wald, andere zeichnen sich durch prächtige Bauten, abgrenzende Zäune und Hecken aus, die perfekte Kulissen für bürgerliche Vorstädte abgäben, wieder andere bestehen aus einem einzigen mehrstöckigen Haus für rund 20 Parteien.

Große und kleine Siedlungen, jede von ihnen einzigartig, sind weit auf dem Gebiet Aurovilles verstreut. Verschiedene Gemeinschaften verfolgen dabei verschiedene Lebensmodelle, setzen auf verschiedene Prinzipien; ganz nach den individuellen Wünschen ihrer Bewohner. Die einen kochen in einer Gemeinschaftsküche und teilen Lebensmittel untereinander, die anderen streben in ihrer Siedlung nach absoluter Ruhe und erlauben sich selbst das Musikhören oder Filmschauen nur mit Kopfhörern. Wieder andere arbeiten zusammen an Kunstprojekten. Jeder Bewohner Aurovilles sucht sich die Community, in die er am besten passt.

Jeden Morgen schwingen wir uns aufs Rad, kämpfen uns über die Pisten. Dabei sind wir nicht allein. Auch in Auroville gibt es sie, die Rush Hour. Früh morgens, so zwischen sieben und neun Uhr, knattern die Mopeds der Aurovillianer über die erdigen Straßen. Sie sind auf dem Weg in Büros, Schulen, Werkstätten und Landwirtschaftsbetriebe. Die Tage in Auroville beginnen mit dem Sonnenaufgang und enden weit nach Sonnenuntergang. Aurovillianer sind immer beschäftigt. Nach der eigenen Arbeit in den verschiedenen Betrieben und Organisationen engagieren sie sich in Ausschüssen und Projekten, veranstalten Seminare und Kurse.

Die Stadt der Zukunft ist international im allerbesten Sinn. Tamil, Französisch und Englisch sind immer wieder gehörte Sprachen. Die vielen hier vertretenen Nationen haben ihre Spezialitäten mitgebracht. In der Auroville Bakery gibt es ausgezeichnete Croissants und hervorragendes Krustenbrot, Aurovilles Pizzeria Tanto ist so erfolgreich, dass selbst Tamilen aus den umliegenden Dörfern beginnen kommerziell Pizza zu backen. In der Sunfarm wird Milch zu leckerem Mozzarella verarbeitet.

Das Leben hier ist bunt und bietet darüber hinaus eine Menge kultureller und körperlicher Aktivitäten an – von Salsa und Tango über Capoeira bis hin zu Frisbee, Fußball und Badminton. Fast jeden Abend organisieren Aurovillianer irgendwo eine Theateraufführung oder eine Musikveranstaltung, von traditionell bis sehr modern. In drei Kinosälen werden vor allem internationale Programmtitel gezeigt. Eine Radiostation, erzählt vom aktuellen Geschehen im Wald. Mehrere Bibliotheken befinden sich hier – Kapitalismuskritik, Architektur, Spiritualität. Kultur ist in Auroville dabei immer kostenlos. Vieles teilen die Bewohner der Stadt der Zukunft untereinander. Im Free Store wird tadellose Kleidung aus zweiter Hand weitergereicht und in der Auroville Library of things können sämtliche Dinge von Haushaltsgegenständen über Spielwaren bis zu Werkzeugen und Campingausrüstung geliehen werden.

Einmal in der Woche organisieren Tahir und seine Freunde im African Pavillon eine Trommelnacht. Jeder ist eingeladen – Aurovillianer, freiwillige Helfer, Tagestouristen – und so sitzen wir als bunter Haufen, von dem nicht klar ist, wie er so überhaupt zustande kommen konnte, um ein Lagerfeuer und lauschen der improvisierten Fusion aus afrikanischen Rhythmen, indischen Melodien und dem einen oder anderen brasilianischen und koreanischen Einfluss.

Die Musik ist energetisch. Erst zuckt es in den Füßen, dann am ganzen Körper und schon bald tanzen viele, die nicht selbst ein Instrument spielen, um das prasselnde Feuer unter einem sternenklaren Himmel. Kulturelle Differenzen machen die Sache spannend. Da sind die hippiesken Europäer in Baumwollkleidern und Birkenstock die wie in Trance von einem Bein auf das andere fallen und daneben die indischen Tagestouristen, die mit ihren Selfie-Kameras für ein Blitzlichtgewitter über dem Feuerschein sorgen.

Nicht weit vom Rathaus versorgen sich Jugendliche selbst. Youth Centre nennen sie ihre Siedlung. Hier wohnen sie in Baumhäusern, organisieren einen Wochenmarkt und jeden Samstagabend eine Pizzanacht. Hier steht ein Kickertisch, im Kühlschrank lagert Bier und aus einer kleinen Hütte wummert ein Remix nach dem anderen aus den mannshohen Lautsprechern. Junge Frauen tragen Hotpants und enge Kleider, ihre männlichen Gegenüber kurze Hosen und freie Oberkörper. Hier treffen sich die jungen Aurovillianer am Wochenende und hier erfährt man mit ein bisschen Glück von der nächsten legendären Party im Green Belt.

Etwa einmal im Monat krachen Bässe irgendwo durch den Wald Aurovilles. Weit abgelegen von irgendeiner Siedlung wird unter freiem Himmel zu elektronischer Musik getanzt. Aus allen Richtungen kommen die Partygäste. Allein die Musik führt sie durch das Dickicht, denn die Veranstaltungsorte sind oft so versteckt, dass jede Wegbeschreibung in die Irre führen muss.

Auch wir schlängeln uns auf Motorrädern über schmale Pfade, stoppen immer wieder, schalten die Motoren aus, lauschen den Bässen, wägen die Richtung des Weges ab. Vermeintliche Abkürzungen entpuppen sich oft als Sackgassen und so lernen wir häufig erst einmal die Umgebung kennen, bevor wir die Party tatsächlich erreichen.

Hier feiern die Aurovillianer ausgelassen bis in den Sonnenaufgang hinein. Dabei sind es nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Älteren, all jene, die Lust verspüren sich an Tanz, Musik und allem anderen zu berauschen. Das entspricht nicht immer dem offiziellen Auroville-Kodex. Zigaretten, Alkohol und alle anderen Drogen gelten in der Stadt der Zukunft als nicht willkommen und können in Auroville auch nicht erworben werden. Aber kann sich tatsächlich jemand einen Rave im Wald nüchtern vorstellen?

Neben den Aurovillianern vergnügen sich hier auch die Gäste und Helfer aus aller Welt und die einheimische Jugend aus den nahen Dörfern und Pondicherry, die ebenfalls immer wieder Wind von den Veranstaltungen bekommen. Gerade für sie sind die Partys im Wald der pure Wahnsinn.

Laute Musik bis in den Morgengrauen, Alkohol, leicht bekleidete Frauen, ungezwungener Tanz – all das, was sie aus ihrem eigenen, konservativen Umfeld nicht kennen, nicht kennen können, spielt sich nun vor ihren Augen ab. Manchmal entwickeln sich daraus unschöne Szenen, wenn sich der eine oder andere etwas zu viel Mut angetrunken hat und nicht mehr weiß, sich zu benehmen. Die Probleme kultureller Differenzen sind dabei oft schwer auszuhalten.

Auroville ist heute ein guter Ort zum Leben, auch und gerade weil die Aurovillianer experimentierfreudig sind. Sie haben hier schon früh Solartechnologien eingesetzt, um die vielen kleinen, im Wald verstreuten Gemeinschaften mit Strom zu versorgen. Ökologische Landwirtschaft ist keine Nische, sondern selbstverständlich.

Die Aurovillianer betreiben kostenfreie Kindergärten und Schulen nach alternativen Bildungs- und Erziehungsmethoden, die auch von den Bewohnern der angrenzenden Dörfer besucht werden. Unschooling heißt das System, das eigentlich keines ist, denn es folgt nicht einer festgeschriebenen Regel. Die Kinder lernen, was sie wollen, wann sie es wollen und mit wem sie es wollen und sind dabei auch noch erfolgreich. Sie lernen Selbstständigkeit und Verantwortung für sich und andere und sind motivierter, aufmerksamer, wissbegieriger, weil sie weder genötigt, noch gelangweilt werden.

Sie besitzen eine ausgeprägte Fantasie und sind häufig flexibler in Lösungsfindungen. Viele Auroville Kids wachsen hier mindestens zweisprachig auf. Kinder im Schulalter sind in Auroville viel selbstsicherer, weil sie nie durch schlechte Noten enttäuscht oder gar gedemütigt wurden. Bildung in Auroville ist frei von starren Lehrplänen. Schüler erhalten Raum und Zeit sich selbst zu entwickeln, anstatt einem aufgedrückten Weg zu folgen.

Dabei ist nicht alles bloßes Spiel mit Blumen. In Auroville gibt es verschiedene alternative Bildungseinrichtungen nebeneinander. Die Future School, anerkannt durch das International British Education and Examination Board, endet etwa mit einem Abschlussexamen. Die Schüler dürfen selbst entscheiden, ob sie daran teilnehmen wollen, oder nicht – und viele entscheiden sich dafür. 

Im Umweltschutz sieht sich Auroville als Wegbereiter. Auf dem einst kargen, der Erosion ausgelieferten Land gedeiht mittlerweile ein prächtiger Wald. Eine bessere Luft, nährstoffreiche Böden, ein gestiegener Grundwasserspiegel sind Verdienste der Pioniere. Der zweiten Generation in Auroville geht es vor allem um Nachhaltigkeit und Ressourcen schonenden Verbrauch, besonders des Wassers. Dafür werden immer wieder neue Methoden und Technologien entwickelt, die auch international Anerkennung finden.

Überhaupt wird immer wieder neu probiert. Nichts bleibt hier für die Ewigkeit. Auroville hat seit seinem Bestehen verschiedene Modelle gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens erprobt. Es waren stets Gegenentwürfe zum konsumorientierten Lebensstil der westlichen Welt.

Heute gibt es die Maintenance, ein Grundeinkommen, das allen Bewohnern Aurovilles für ihren Dienst an der Gemeinschaft zusteht. Jeder bekommt das Gleiche und alle sind motiviert, denn: In Auroville macht jeder, was er machen möchte. Wer hinter einem Schreibtisch sitzt und Papiere unterschreibt, macht es aus Überzeugung – genauso wie der Landwirt Maiskolben erntet, der Zahnarzt in Münder schaut, oder der Handwerker sein Material testet.

In Auroville kann man kapitalkritisch Geld ablehnen oder auch sehr reich sein. Beides funktioniert. Es gibt Gruppen, die versuchen, ohne Geld auszukommen, die untereinander kein Geld tauschen und es gibt andere, die mit ihren Geschäftsideen richtig viel Geld verdienen, internationale Kunden beliefern und ihren Profit an die Gemeinschaft weitergeben. Die Wirtschaft Aurovilles ist dementsprechend schwer zu verstehen. Mehrere Systeme existieren nebeneinander.

In Auroville gibt es keine Parteien, die Hierarchie ist flach. Wichtige Entscheidungen werden basisdemokratisch in einer Versammlung aller erwachsenen Aurovillianer getroffen. Hier wird auch darüber gestritten, wie die Zukunft aussehen kann. Es sind vor allem die Pioniere aus der Anfangszeit und Alteingesessene, die den Ideen von Sri Aurobindo und La Mère treu bleiben wollen – eins zu eins. Andere sehen Auroville eher als eine Art Öko-Dorf. Sie wollen die ursprünglichen Pläne pragmatisch anpassen – entsprechend der Gegebenheiten. Wie spirituell Auroville sein soll, darüber wird debattiert. Und auch über die Frage, was denn Spiritualität genau bedeutet.

Auroville befindet sich wie immer in einem wilden Prozess. Die einen wollen den Bau der vor 50 Jahren geplanten Stadt in Form einer Galaxie für 50.000 Menschen vorantreiben, die anderen wollen ein Ideal in den Grenzen von Machbarkeit und Nachhaltigkeit aufrecht erhalten. Wie beides miteinander zu vereinen ist, darum wird immer wieder gerungen.

Betrachtet man die demographische Struktur fällt auf, dass es kaum jemanden in Auroville im Alter zwischen 18 und 30 Jahren gibt. Auf die vielen Kinder und Jugendlichen, jeder vierte in Auroville ist minderjährig, folgen die über Dreißigjährigen. Die Generation dazwischen verlässt Auroville beinahe geschlossen – zumindest temporär. Sie ziehen in andere Städte, häufig auch in die Heimatländer ihrer Eltern und beginnen dort ein Studium oder eine Ausbildung. Doch viele kehren wieder zurück.

Sie schätzen das Leben hier, die Freiheit tun und lassen zu können, was sie wollen, die Kreativität, die Selbstverwirklichung, das Leben im Einklang mit der Natur. Und sie wollen, dass auch ihre Kinder hier aufwachsen, zur Schule gehen, ihre Persönlichkeit entwickeln. Doch gerade die junge Generation sieht auch die Nachteile, die ein Leben in Auroville mit sich bringt. In der relativ kleinen Gemeinschaft von 2.500 Aurovillianern gibt es keine Anonymität. Der typische Klatsch, den jedes Dorf dieser Größenordnung betrifft, macht auch vor der Stadt der Zukunft nicht halt.

Dazu beschäftigt viele Jugendliche in Auroville die Frage der Zugehörigkeit. Obwohl in Auroville geboren werden sie von den einheimischen Tamilen stets als Ausländer angesehen und auch in den Heimatländern ihrer Eltern sind sie fremd, passen nicht in das System, dem ihre Familien einst den Rücken kehrten.

Auroville – was war und was kommen mag

2018 feiert Auroville seinen 50. Geburtstag. Ein stolzes Elefantenalter für die größte, internationale Kommune der Welt. Doch noch immer befindet sich die Stadt der Zukunft im Aufbau. Bis heute ist es ein Ort der ersten Schritte. Bis heute wird in vielen Bereichen Pionierarbeit geleistet. Auroville motiviert, sich immer wieder selbst zu testen.

In der Stadt der Zukunft ist die Dichte der positiv Verrückten deutlich höher als irgendwo sonst. Hier werden vierstöckige Baumhäuser in 15 Metern Höhe errichtet, hier werden Waschmaschinen mit Fahrradpedalen angetrieben, hier steckt ein bunt bemaltes Auto als Kunstprojekt senkrecht in der roten Erde, hier wird eine Großkantine allein mit Solarstrom betrieben.

Die Gemeinschaft setzt Maßstäbe in organischer Landwirtschaft, erneuerbaren Energien und Nachhaltigkeit, sie operiert mit Finanzierungsmodellen, abseits der kapitalistischen Ausbeutungsideen, lebt die Geschenkökonomie, in der der Einzelne entscheidet, was er für das Wohl aller geben kann.

Die Idee, der Traum einer neuen Gesellschaft namens Auroville ist bis heute nicht vollständig verwirklicht. Doch es gibt sie, die ehrlichen, friedlichen Menschen, die abenteuerlustig und guter Dinge sind. Diejenigen, die nach einer Veränderung streben, weil sie die herkömmliche Welt nicht mehr ertragen. Diejenigen, die in einem System das ausschließlich auf Leistung und dem unbegrenzten Wachstum des Materiellen fußt, keine Erfüllung finden; die volle Taschen, aber leere Herzen haben und damit unglücklich sind.

Selbst wenn Auroville nicht alle ambitionierten Ziele erreichen konnte, selbst, wenn es sie nie erreichen wird, so hat die Stadt der Zukunft doch Modellcharakter. Sie bietet die Möglichkeit etwas anderes zu machen. Sie bringt Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen und erlaubt ihnen einen Neustart zu wagen. 

Niemand behauptet, das sei leicht. Niemand verspricht, das könnte gelingen. Aber welche Alternative gibt es? Einst fürchtete man sich vor dem Gespenst des Kommunismus. Jetzt ist die Gefahr des entfesselten Kapitalismus real. Er zerstört Ressourcen, Lebensgrundlagen, Ökosysteme, Menschenleben – für eine Handvoll Profiteure. Wer das nicht akzeptieren und dagegen vorgehen will, braucht einen Zufluchtsort. Die Missstände des Kapitalismus in einem kapitalistischen System angehen zu wollen, ist wie den Ozean mit einem Sandkasteneimer ausschöpfen zu wollen. Es wird nicht gelingen. 

Auroville bietet eine Möglichkeit. So gesehen sind die Aurovillianer auch Flüchtlinge vor einer ausbeuterischen Gesellschaft, die Glück nur als Ware kennt. Doch sie sind viel mehr. Sie sind im Widerstand. Gartenguerillas, Hausbaurevolutionäre, Bildungspiraten – In Auroville wird jedes gesellschaftliche Betätigungsfeld gekapert und neu interpretiert.

Die Energie an diesem Ort ist ungeheuer spürbar – ebenso wie der Frust. Vieles passiert gleichzeitig und dann doch wieder gar nichts. Es gibt Sprünge nach vorn und Schritte zurück. Seit ihrer Gründung ist die Stadt den Gepflogenheiten der Außenwelt ausgesetzt, die auch die größte Euphorie überdauerten. Auroville ist allzu menschlich, mit den natürlichen Problemen des Miteinanders. Da herrschen Nachbarschaftsstreit, Neid und Missgunst, es gibt Menschen, die Stunde um Stunde für die Gemeinschaft arbeiten und solche, die in der Hängematte liegen.

Leben in Auroville war als Dienst an der Gemeinschaft gedacht, als Experimentierfeld für das, was sein kann. Heute dient die Kommune gelegentlich als Alterswohnsitz. Die Lebensqualität ist vielversprechend und wer nicht allein auf das Grundeinkommen angewiesen ist, kann es sich hier gut gehen lassen.

Wann wird die Stadt der Zukunft vollendet sein? Vermutlich niemals! Schon der Architekt Roger Anger, den La Mère mit der Stadtplanung für Auroville beauftragte, gab zu bedenken, dass die Stadt erst dann fertig sein würde, wenn die menschliche Transformation nach der Philosophie Sri Aurobindos abgeschlossen sei. Davon ist Auroville vermutlich noch genauso weit entfernt wie vor 50 Jahren.

Die Skepsis ist groß, doch niemand kommt in Auroville an der positiven Stimmung vorbei, die den Ort trotz aller internen Konflikte antreibt. Sie ist vor allem in den Communities mitten im Wald zu spüren, dort, wo sich wenige Menschen zusammentun um gemeinsam ihre Ideale umzusetzen.

Das allein ist schon ein Verdienst. Wenn Auroville noch heute von der Bühne der Welt verschwinden würde, würde man sich doch immer an dieses Projekt erinnern. Dieses Projekt, das allein durch den Willen zur Veränderung auf unfruchtbarem Land einen dichten Wald wachsen ließ. Dieses Projekt, das es schaffte aus sehr begrenzten Mitteln binnen weniger Jahrzehnte einen vergleichsweise komfortablen Lebensstandard zu formen. Dieses Projekt in dem Menschen überdurchschnittlich häufig zu lächeln scheinen.

Auroville ist ein Erfolg und es ist gescheitert. Ungerechtigkeit und Ungleichheit sind sichtbar – sowohl innerhalb Aurovilles als auch im Umgang mit den umliegenden Dörfern. Die Stadt, die sich vom Geld lossagen wollte, ist heute mehr denn je abhängig von Spenden und den eigenen Einnahmen – auch denen aus dem allseits kritisch beäugten Tourismus.

Vielleicht sind die Probleme in Auroville sogar noch größer als anderswo, weil man sich zusätzlichen Herausforderungen aussetzt durch die enorme heterogene Gemeinschaft aus etwa 50 verschiedenen Nationen. In Auroville herrschen dutzende verschiedene Lebensvorstellungen und hunderte verschiedene Wünsche, Mentalitäten und individuelle Möglichkeiten.

Immerhin: Auroville ist im ständigen Wandel! Stillstand hat es hier noch nicht gegeben. Wohin die Entwicklung geht, ist dabei nicht vorhersehbar. Es existiert kein strikter Plan, so hören wir es immer wieder. Auroville steht für Pionierarbeit, dafür Dinge anzufangen und auszuprobieren. Hier geht es darum zu erkennen, was funktioniert und was nicht.

Bis heute wird das Leben in Auroville neu erfunden, jeden Tag. Bis heute verbindet die Bewohner vor allem ihr Glaube an die Idee Aurovilles als Weg für eine geeinte Menschheit. Doch wie geht es weiter? Die Pioniere von einst sind schon vor Jahren alt geworden. In der Stadt der Zukunft leben heute weniger als 30 Aurovillianer, die bereits in den frühen Anfängen dabei waren. Was passiert mit Auroville, wenn die Erinnerung an Sri Aurobindo und La Mère verblasst? Kann Spiritualität als verbindendes Element erhalten bleiben und wenn nicht, womit lässt es sich ersetzen?

Darüber hinaus ergeben sich aus den letzten 50 Jahren ganz praktische Herausforderungen: Wie geht Auroville etwa mit einer alternden Bevölkerung um? Wie verhält man sich zu den Aurovillianern, die nicht mehr in der Lage sind der Gemeinschaft zu dienen, stattdessen aber selbst Betreuung und (medizinische) Pflege benötigen? Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Aufgaben, denen die Stadt der Zukunft gegenübersteht.

Auroville ist seit seiner Gründung 1968 ein Versuch es besser zu machen. Ein Versuch gegen die Ungerechtigkeit der Welt, ein Versuch gegen die Ausbeutung so vieler durch so wenige. Ein Versuch für ein nachhaltiges, respektvolles, erfülltes, gemeinschaftliches Leben. Eine Gemeinschaft, in der materieller und finanzieller Wohlstand keine Statussymbole sind, in der andere Voraussetzungen der Anerkennung gelten. Manches hier funktioniert, anderes nicht. Rückschläge kennen die Aurovillianer zur Genüge. Sie werden akzeptiert, denn in einem sind sich hier fast alle sicher: Es mag in Auroville nicht alles gelingen, aber es ist immer noch besser, als das Gesellschaftssystem da draußen. 50 Jahre sind geschafft. Doch die nächsten 50 Jahre sind genauso unklar, wie das Morgen. Auroville wird sich weiterhin beweisen müssen.

2011 zog es Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma für zwei Jahre auf den südamerikanischen Kontinent. Per Anhalter und mit Couchsurfing reisten sie kreuz und quer zwischen Feuerland und der Karibik. Unterwegs sind sie immer noch – jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Momentan befinden sie sich in Bangkok.

Von ihren Abenteuern und Begegnungen während ihrer Reisen erzählen sie auf ihrem Blog mortenundrochssare.de und in ihren beiden Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der Malik / National Geographic Reihe des Piper Verlags.

Aktuelles über die Reise gibt es bei Facebook (facebook.com/mortenrochssare) und bei Instagram (instagram.com/mortenrochssare<wbr />).

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