Ausgabe #144

Aus der Chefredaktion: Die Konsequenzen kennen

01.11.2019 - Alia Hübsch-Chaudhry

Liebe Autorinnen und Autoren, liebe Leserinnen und Leser,

der bunte, knisternde Laub liegt auf den Straßen, die letzten Sonnenstrahlen des Jahres wärmen die kühlen Wangen und wenn man Glück hat, findet man im Park ein paar Quitten und Kastanien. Ich liebe es in dieser Jahreszeit mit meiner Tochter spazieren zu gehen. Ich sammle dabei oft Standbilder für mein Gedächtnis mit meinem Smartphone, ich telefoniere und schreibe mit meinen Freundinnen. Meine Tochter muss sich die Aufmerksamkeit mit meinem Smartphone teilen. Wenn ich darüber nachdenke, tut es mir oft leid und ich stecke häufig in einem Kampf gegen meine Gewohnheiten und Zwänge.

Ich will keinen Stillstand, keinen Rückfall, ich möchte versuchen, mich immer ein bisschen zu verbessern. Das ist mein spiritueller Anspruch. Und dann geht es nicht nur um die Anwendung und Nutzungsdauer meines Smartphones, sondern auch um die Produktion. Wenn man sich tiefergehend damit auseinandersetzt, landet man zwangsläufig bei Fragen des Umweltschutzes und der Menschenrechte. 

Ich halte den Menschenrechtler und UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler für einen der wichtigsten Denker unserer Zeit. Als ich vor einem Jahr in seinem Büchlein "Was ist so schlimm am Kapitalismus?" las, wurde mir erst bewusst, welche Konsequenzen mein Wunsch nach einem neuen Handy für Menschen auf der anderen Seite der Welt haben kann. Ziegler wollte daher nie ein Handy besitzen. Er hatte die Schäden der Smartphone-Produktion in vielen Ländern mit eigenen Augen gesehen. Für die Nutzung der Smartphones wird nämlich Coltan benötigt. Ein Erz, das heutzutage kostbarer ist als Silber oder Gold. Privatunternehmen bauen Coltan meist in Regionen, die durch Bürgerkriege, Hunger, Plünderer und marodierende Milizen zerrüttet sind, illegal ab. Da das Erz schwer zugänglich ist, werden zehn bis zwölf- Jahre alte Kinder angeworben, die in Bergwerk-Enklaven schmale, zehn bis zwanzig Meter unter der Erde tiefe Schächte durchdringen müssen. Weil die Felsen brüchig sind und Bergrutsche häufig, werden regelmäßig Kinder bei lebendigem Leib begraben und ersticken in den Schächten. Die Kinder machen mit, weil sie wissen, dass ihre Familien nur überleben können, wenn sie die engen Tunnel hinuntersteigen.

Nach vier Jahren ist nun mein altes Handy kaputt gegangen. Es war Zeit für ein neues Gerät. Aber jetzt kam der Aufstand des Gewissens. Ich suchte im Internet nach der fairen Variante eines Handys und stieß auf das "Fairphone". Es ist das weltweit erste modulare Handy, dessen Bestandteile zum größten Teil recycelt worden sind und aus "konfliktfreien" Regionen kommen. Das "Fairphone" kann jeder Nutzer selbst reparieren, da der Aufbau transparent ist und alle Bestandteile kostengünstig nachbestellt werden können. Nach langem hin und her konnte ich auch meinen Mann von dem Smartphone überzeugen. Ja, es ist vielleicht nicht in jedem Einzelteil (moralisch) unbedenklich, aber weitgehender Versuch, besser als der Rest zu sein. Und es kann vielleicht nicht so viel, wie der Marktstandard derzeit hergibt, aber muss es das wirklich? 

Ich mache keine Werbung. Ich will nicht sagen, dass alle dieses Smartphone kaufen sollten. Ihr sollt nur nicht vergessen: Jeder Wunsch hat Konsequenzen. Wenn ich sie kenne, darf ich nicht einfach so weiter machen. Unsere Kaufentscheidungen und unser Konsum bestimmen die Lebensbedingungen anderer Menschen in dieser Welt. Menschen, die nicht das Privileg haben, wie ich, einen unbeschwerten Herbst zu erleben.

In der aktuellen Ausgabe von DAS MILIEU haben wir wieder viele spannende Themen für euch. In dem zweiten Teil unseres Interviews mit Prof. Preparata erfahren wir, was es bedeutet, wenn Sieger die Geschichte schreiben. Außerdem möchten wir in unserer Rubrik „Eine Frage des MILIEUs“ wissen, ob es einen Transgender-Hype gibt. Die Frage, was Menschen machen, wenn sie wissen, dass ihr Tod bevorsteht, wird im Format MILIEU-Mosaik beantwortet. Aber das ist natürlich nicht alles. Lest selbst!


Beste Grüße,
Alia Hübsch-Chaudhry
Chefredakteurin

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