Ausgabe #134

Aus der Chefredaktion: Ich bin nicht tot!

15.05.2019 - Tahir Chaudhry

Liebe Leserinnen und Leser,
Liebe Autorinnen und Autoren,

wenn ihr in der Google-Suche "Tahir Chaudhry" eingebt, dann könnte es sein, dass dort (noch) angegeben ist, ich sei am 6. Oktober 2018 verstorben. Nach meinen letzten Veröffentlichungen war mir auch aufgefallen, dass meine MILIEU-Profilseite besonders oft geklickt wurde und viele ältere Beiträge von mir gelesen wurden. Wahrscheinlich hat man das mit größerem Interesse nur in dem Glauben getan, ich hätte diese Erde bereits für immer verlassen. 

Am 15. Mai 2019 starb der Satiriker Wiglaf Droste. Ich hatte mich bis dahin weder mit seiner Person noch mit seinem Werk wirklich auseinandergesetzt. Im August 2017 hatte er dem MILIEU ein Interview gegeben. In nur 48 Stunden schossen die Leserzahlen nach oben. Auch ich las es nun intensiv. Von einem Absatz war ich begeistert (für alle, die mich kennen, sicher keine Überraschung), den ich mit euch teilen muss:

"Motivationstrainer gehören zur Standardausrüstung im Waffenarsenal der Leute, die andere ausquetschen wollen mit Hilfe der Gehirnwäsche des positiven Denkens, der Optimierung oder, noch perverser, der Selbstoptimierung mit Sprüchen wie „da ist noch Luft nach oben". Wer so ab- und zugerichtet wird, empfindet die Reduktion seiner Persönlichkeit auf ihre Leistungsfähigkeit, Verkäuflichkeit inklusive Käuflichkeit als beglückend. Und mit dem "Lebe deinen Traum"-Gratisgedanken ist es wie mit Latte Macchiato: zu Schaumsch*** passt Traumsch***. Sein Leben zu leben, ist doch viel aufregender, als vorgestanzte und implantierte Schablonen, „Traum" genannt, mit sich zu befüllen."

Jedenfalls hat der Tod seine Vorteile. Man müht sich sein gesamtes Leben damit ab, endlich gesehen, gelesen, gehört zu werden und doch bringt es nichts. Die Chancen stehen jedoch gut, dass wenn man stirbt - womöglich auch noch spektakulär - der gewünschte Erfolg sprunghaft einsetzt. Der Tod eines Künstlers erhöht den Preis seiner Kunst, weil das Publikum versucht, dem Werk im Nachhinein einen Sinn zu geben und es sucht im Werk nach Spuren, Erklärungen und Belegen.

Also, ich muss leider enttäuschen: Ich lebe noch. Und wenn ihr in den medialen Archiven irgendetwas gefunden habt, was euch bewegt und inspiriert hat, dann könnt ihr es für's Erste beiseitelegen und auf meine Erlösung warten. In der Zwischenzeit könnt ihr ja vielleicht im MILIEU herumstöbern... 

Beste Grüße,
Tahir Chaudhry
Chefredakteur

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