Ausgabe #119

Aus der Chefredaktion: Keine Lust auf Selbsthilfe-Gurus!

15.09.2018 - Tahir Chaudhry

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Autorinnen und Autoren,

wenn ich meine Facebook-Timeline herunterscrolle, stoße ich ab und an auf "Wach-auf-Kopf-hoch-Schau-nach-vorn"-Bilder und -Videos. Kennt ihr die? Ich frage mich jedes Mal, wen so etwas überhaupt motiviert - bis ich die Likes und Kommentare meiner virtuellen "Freunde" sehe und anfange, an mir selbst zu zweifeln: Warum triggert mich das nicht? 

Ich habe mich in den vergangenen Wochen und Monaten sehr intensiv mit der Kaste der Motivationstrainer beschäftigt. Meist offenbarte sich eine Immer-gleiche-Leier: Sie geben sich smart, charmant und authentisch. Sie wollen keine Zeit verlieren, reißen Witze, schauspielern, parodieren Antitypen und rühren mit Geschichten. Ihre mantraartigen Wiederholungen, vorgestanzten Formeln und hohlen Phrasen haben mich müde gemacht. Sei ein Löwe und kein Schaf! Sei ein Adler und kein Huhn! Sei gut, sei positiv, sei optimistisch, sei erfolgreich, sei glücklich! Vielleicht triggert mich das alles auch deswegen nicht, weil ich besonders in den letzten zwei Jahren meines Volontariats gelernt habe, Worte bewusst einzusetzen und mir ihre Macht effektiv zunutze zu machen. Wer selbst Sprache bewusst einsetzt, lässt sie wahrscheinlich nicht zu leicht in sein Bewusstsein eindringen.

Deshalb hielt ich Motivationstrainer für langweilig, ineffektiv und manchmal auch für irreführend, denn sie reduzieren den Menschen auf seine (weltliche) Leistungsfähigkeit und fördern dessen, an der Marktlogik orientierten, Verkäuflichkeit. Als ich auf die NDR-Dokumentation "Erleuchte uns - Vom Aufstieg und Fall eines Selbsthilfe-Gurus" stieß, wurde mir klar, welch gefährliche Ausmaße dieses Geschäft mit der Lebenshilfe auch annehmen kann. Ich erfuhr dort von der Geschichte des Motivationstrainers James Ray, der sich durch seine Bücher und Auftritte ein Millionenvermögen erwirtschaftet hatte. Doch das reichte ihm nicht. Ray entwarf ein Seminar zur Ausbildung zum "Spiritual Warrior", von deren Teilnehmern er knapp 10.000 Dollar verlangte. Im Oktober 2009 kamen dabei drei Menschen nach einem 36-stündigem Fasten bei einem "Reinigungsritual" in einer saunaähnlichen Schwitzhütte ums Leben. Alles durch die Macht seiner Worte.

Kurze Zeit später sah ich die Netflix-Dokumentation "Tony Robbins: I Am Not Your Guru". Ich wurde überrascht. Der Motivationstrainer Tony Robbins war anders: kein Phrasendrescher und Blender, sondern ein brillanter Rhetoriker, ein mitfühlender Mensch, ein scharfsinniger Problemlöser! Vor allem arbeitete Robbins individuell. Er war in der Lage, die Muster hinter den komplexen Persönlichkeiten zu erkennen, die Mängel seines Gegenübers zu erspüren und sie für die Veränderung zu öffnen. Ihm gelang es etwa einen Suizidgefährdeten, ein Missbrauchsopfer, eine Essgestörte und ein Paar mit Eheproblemen zum Umdenken zu bewegen. Auch hier durch die Macht seiner Worte.

In unserer 119. Ausgabe des MILIEUs haben wir für euch ein Essay vom Philosophen Dr. Quarch über Chemnitz und unser Problem mit der Macht. Außerdem erklärt unser Autor Lars Jaeger am Beispiel des Google-Computers AlphaGoZero, wie umfassend und rasend schnell sich die maschinelle Intelligenz entwickelt - reichen da noch wohlige Worte und vage Pläne aus? Lest selbst und spürt die Macht der Worte! :-)

Beste Grüße,

Tahir Chaudhry
Chefredakteur

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen