Ausgabe #131

Aus der Chefredaktion: Sich verändern müssen

01.04.2019 - Alia Hübsch-Chaudhry

Liebe Autorinnen und Autoren, liebe Leserinnen und Leser,

die indischstämmige Tante meines Mannes hatte seit fast drei Jahrzehnten einen sehnlichsten Wunsch: unbedingt Keukenhof, die Blumenausstellung in Lisse (Niederlande) zu besuchen, von der sie schon seit vielen Jahren schwärmte. Gesagt, getan. Zusammen mit ihrer Familie fuhren wir für einen Wochenendtrip nach Holland: Den Haag, Zoetermeer, Leiden, Utrecht, Lisse, Rotterdam. Zusammen mit unserer kleinen Tochter war das auch für uns ein kleines Abenteuer. In Rotterdam angekommen, entdeckte Tahir, der ein leidenschaftlicher Fotograf ist, das Zitat eines holländischen Künstlers Willem de Kooning über einer Tür: "I have to change to stay the same".

Klingt das nicht wie ein Widerspruch? Veränderung und Beständigkeit? Zurück in Deutschland musste ich immer wieder an jenen Spruch aus Rotterdam denken. Was genau meinte sein Urheber wohl? Mir fiel meine Begegnung mit Jean Ziegler ein, einem Menschenrechtler, den ich vor einigen Tagen auf der Leipziger Buchmesse für ein MILIEU-Interview traf. Wenn es eine Sache gab, die das Leben von Ziegler durchzog, so war es, trotz aller Veränderungen in seinem Leben, sein unermüdlicher Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit auf der Welt, insbesondere durch den Kampf gegen den Hunger in vielen Regionen der Welt. Er nennt seinen Marsch durch alle Ebenen und Institutionen, der mehr als ein halbes Jahrhundert andauerte und seine vielfältige Arbeit als Aktivist, Soziologe, Politiker, Diplomat und Buchautor kurz: "subversive Integration".

Zeit ist Veränderung. Wir wachsen mit unseren Verantwortungen, unseren Erkenntnissen, unseren Anforderungen und Herausforderungen. Das müssen wir auch, denn sonst können wir nicht wir sein und bleiben. Denken wir oder werden wir gedacht? Beeinflussen wir oder werden wir beeinflusst? Ich glaube auch, um sich selbst und seinen Idealen von einer besseren Welt treu bleiben zu können, ist es wichtig sich permanent anzustrengen, sich selbst und seine Umwelt infrage zu stellen und sich für eine bessere Version seiner Selbst zu verändern. Diese beständige Anstrengung, die gleichzeitig auch beständige Veränderung bedeutet, kann dann, wenn sie von dem Sinn durchdrungen ist, die Welt etwas besser zu hinterlassen, als man sie vorfand, eine besondere Ruhe schaffen. Diese Ruhe sehe ich in vielen Menschen, die ich für ihre Leistungen sehr schätze.

Was unsere Tante betrifft: als sie vor dreißig Jahren als junge Frau nach Deutschland kam - unverheiratet, mittellos und ohne Perspektive - wusste sie schon, sie würde irgendwann "im Garten Europas" stehen. Als sie dann tatsächlich auf den Blumenfeldern stand, hörte man sie immer wieder rufen: "Subhanallah!" (arab. Gott ist makellos). Sie war nicht aufgeregt, nicht hysterisch, sondern eher entspannt und schweigsam. Sie fand Ruhe. Nach drei Jahrzehnten der Veränderung.

In der aktuellen MILIEU-Ausgabe haben wir diesmal zwei Interviews für euch. Im Interview mit Jean Ziegler erfahren wir unter anderem vom unsichtbaren Leid der Dritten Welt, der Weltdiktatur der Oligarchen und die Legitimationstheorie des Neoliberalismus und im zweiten Interview erzählt der ehemalige Hedgefonds-Manager und Milliardär über sein außergewöhnliches Leben mit uns, die im Höhepunkt seiner Karriere den notwendigen radikalen Wandel erfuhr.

Aber das ist natürlich nicht alles. Lest selbst! Viel Spaß beim Stöbern :-)

Beste Grüße,

Alia Hübsch-Chaudhry
Chefredakteurin

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