Ausgabe #126

Aus der Chefredaktion: Wir brauchen prophetisches Feuer!

15.01.2019 - Tahir Chaudhry

Liebe Autorinnen und Autoren, liebe Leserinnen und Leser,

jedes neue Jahr liegt unentschlossen vor uns, wie eine noch nicht abgeschickte Nachricht. Wir alle stehen vor unseren eigenen Herausforderungen und Problemfeldern, aber unsere Wünsche und Ziele sind nicht unbedingt grundverschieden. Wir alle wollen in Frieden und Sicherheit leben. Wir möchten Liebe, Toleranz und Respekt erfahren. Wir alle träumen von einer Welt ohne Armut und Unterdrückung, ohne Krieg und Verfolgung. Und dennoch sahen wir uns auch im Jahr 2018 von zerstörerischen Elementen umgeben.

Wohin treiben wir? Die zunehmende Spaltung drängt uns in Extreme. Entfremdet von unserer Menschlichkeit finden wir uns in einer vergifteten Atmosphäre einer polarisierten Gesellschaft wieder: rechts gegen links, reich gegen arm, einheimisch gegen fremd, christlich gegen muslimisch, atheistisch gegen religiös. Die größte Gefahr für unsere Gesellschaft ist der gegenseitige Hass, die mangelnde Kommunikationsfähigkeit und die zunehmende Verrohung der politischen Kultur.

Egoismus, Macht und Gier manipulieren Gedanken, zersetzen Gefühle und verändern Ziele. Diejenigen, die es sich an der Spitze der Machtpyramide gemütlich gemacht haben, kriegen meist nicht genug. Sie wollen eine Ausweitung ihrer Macht und Vermehrung ihres Vermögens unter allen Umständen und jeglichen Konsequenzen. Ihre Hab-, Herrsch- und Ehrsucht bedient sich der effektivsten Mittel der Herrschenden zur Schwächung der Beherrschten: "Brot und Spiele", sprich Verführungsmechanismen, die die Menschen müde oder depressiv spielen, sie von der Suche nach Wahrheit und dem Kampf für Gerechtigkeit abhalten sollen. Und "teile und herrsche", sprich Spaltungsmechanismen, die Menschen von Selbstermächtigung und Teilhabe fernhalten sollen. Es ist ein Gefangensein im Immergleichen, das in einer kapitalistischen Kultur nicht nur die Geschichtsvergessenheit fördert, sondern auch die Ablehnung von alternativen Zukunftvisionen.  

In einem Weihnachtsgruß, den ich an einen christlichen Freund schickte, schrieb ich das Gebet: Möge Gott uns dem Vorbild Jesu' folgen lassen, einem demütigen Visionär und weisen Revolutionär, dessen Vermächtnis wir dieser Tage gedenken. Er antwortete voller Bedauern, dass er in der Welt nicht erkennen könne, wofür Jesus eingestanden sei und deshalb manchmal müde und resigniert sei. 

In diesem Sinne wünsche ich uns für das neue Jahr das "prophetische Feuer", wie es der geschätzte Denker und Aktivist Dr. Cornel West passend formuliert. Propheten zeichnen sich nämlich durch ihre radikale Verpflichtung zur Wahrheit aus, durch eine konsequente Gesellschaftskritik, die mit einer hoffnungsvollen Vision einhergeht und durch eine besondere Empfindsamkeit für das Leid der Schwächsten.

Viel Spaß beim Durchstöbern unser aktuellen MILIEU-Ausgabe!

Beste Grüße,

Tahir Chaudhry
Chefredakteur

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