Reflexionen

Betonwüsten

01.01.2022 - Daniela Ribitsch

Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich gefragt, ob es in meiner Heimatstadt eigentlich etwas gibt, das mich ganz besonders stört. Da musste ich nicht lange überlegen. Seit Jahren schon schmückt sich die Stadt mit einer Baustelle nach der anderen und verliert dabei zunehmend an Lebensqualität. Das schöne Graz aus meiner Kindheit mit den vielen Äckern und Grünflächen hat sich in eine stetig wachsende Betonwüste verwandelt, aus der Geld, Autos und Lärm die Natur und ihre Lebewesen verbannt haben. Und das stört nicht nur mich.

Viele GrazerInnen beklagen sich darüber, wie immer mehr Betonbauten Grünflächen unter sich begraben und dass die Politik einfach nichts dagegen unternimmt, vielmehr noch damit prahlt, was für tolle neue Wohnprojekte und Geschäftsflächen am Entstehen sind. Die Politik will schlichtweg nicht sehen, dass unsere wenigen Parks mehr und mehr mit Menschen überfüllt sind, dass wir zum Spaziergehen ins Umland ausweichen müssen, dass unsere von Autos und Smog geplagte Stadt (wir liegen nämlich in einem Kessel) nur noch mehr Autos anzieht und dass starke Regenfälle immer mehr Keller überschwemmen.

Doch Graz ist natürlich nicht die einzige Stadt, die unter unaufhörlicher Versiegelung leidet. In ganz Österreich herrscht ein Bauboom, und so auch in Deutschland. Immer wieder höre und lese ich, wie auch in deutschen Städten Grünflächen dem Beton weichen müssen. Auf die Natur und die Bedürfnisse der StadtbewohnerInnen wird dabei leider vergessen. Denn wie immer hat die Wirtschaft Vorrang.

Waren Sie je in der Wüste, liebe LeserInnen? Ich war im australischen Outback und im amerikanischen Death Valley. Beide Wüsten haben mir richtig gut gefallen. Die Straße im Outback bestand aus rötlich-orangem Sand und Schotter, eine richtig warme, einladende Farbe, und es gab immer wieder verdorrt aussehende Sträucher, Bäume und grün-gelbliche Gräser und sogar frei lebende Kamele. Die Landschaft des Death Valley hingegen bestand aus kalten Farben. Die asphaltierte Straße führte vorbei an grau-bräunlichem Schotter, ausgedorrten Sträuchern, grün-gelblichen Gräsern sowie grauen, ausgebleicht wirkenden, kahlen Felsenformationen. Auch wenn mich die Landschaften des Outback und des Death Valley faszinieren, möchte ich in keiner der beiden Wüsten leben. Dort ist es mir zu trocken, zu sonnig und zu heiß. Und trotzdem lässt die Natur dort Leben zu: Gräser, Sträucher, Kamele, Schlangen usw. Unsere städtischen Betonwüsten dagegen vertreiben bzw. begraben alles Leben unter sich. Sie gleichen mehr der Wüstendefinition des Duden als es das Outback und das Death Valley tun: „durch Trockenheit, Hitze und oft gänzlich fehlende Vegetation gekennzeichnetes Gebiet der Erde, das über weite Strecken mit Sand und Steinen bedeckt ist; ödes, verlassenes oder verwüstetes Gebiet.“ Freilich beleben wir Menschen samt unserer Hunde und Katzen diese Betonwüsten. Und freilich gibt es auch Vögel und Insekten. Doch je mehr Boden wir versiegeln, umso stiller wird die Natur und umso lauter der Stadtlärm, der uns, nebenbei bemerkt, krank macht. Tinnitus und Schwerhörigkeit sind mittlerweile Volkskrankheiten. Zudem steigert Lärm erheblich das Risiko für Migräne, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Ich bin in Graz fast ausschließlich zu Fuß unterwegs, in welchen Stadtteil auch immer mich mein Weg führen mag. Im Sommer ist ans Zu-Fuß-Gehen jedoch kaum zu denken, da es mit all dem Beton abkühlendem Schatten fehlt und die beinahe unerträglich gewordene Hitze durch den Beton um ein Vielfaches verstärkt wird. Daher fliehe ich immer aufs Land, wo mir der Wald die heiß ersehnte kühle Luft spendet und ich von Insekten, Eidechsen, Kröten und zahlreichen anderen Lebewesen umgeben sein darf. Doch wie lange noch? Denn dank des guten Holzpreises schrumpft der dort einst so dichte Wald unaufhörlich… Und wieder einmal ist es das Geld, das Lebensraum und Artenvielfalt zerstört. Dabei brauchen doch auch wir Menschen die Bäume so dringend: für eine saubere Luft, für die Vermeidung von Erosionen, zum Energietanken.

„Eine Stadt muss wachsen”, lautet die Standardantwort, wenn der Bauboom verteidigt wird. Freilich brauchen Städte Wohnungen und Geschäfte für ihre EinwohnerInnen. Doch Graz – wie auch so viele andere Städte – wächst in erster Linie deshalb, weil private InvestorInnen sie für ihre Kapitalanlagen entdeckt haben. Die Immobilienwelt spricht von „Betongold”, ich spreche von „Betonwüste”. Von einer lieblosen, uncharmanten und heißen Betonwüste, die aus unzähligen qualitätslosen Anlegerwohnungen besteht, von denen viele für DurchschnittsverdienerInnen überteuert sind und somit leer bleiben. Natürlich haben wir zur Erholung von all dem Beton und Lärm kleine Naturoasen wie den Stadtpark, und natürlich gibt es auch die sanften, zum Wandern einladenden Hügel um die Stadt herum. Doch im Bestreben ein attraktiver Wirtschaftsstandort zu sein, ist Graz zu einer zubetonierten, stickigen, autoüberlasteten Stadt geworden, die glaubt, eine paar künstlich angelegte Parks und vereinzelte Bäume lösten das Problem. Aber natürlich ist das inmitten des Klimawandels mit seinen viel zu milden Wintern und viel zu heißen Sommern für uns Menschen und eine gesunde Erde viel zu wenig. Die Stadt denkt sogar ernsthaft darüber nach, eine U-Bahn zu bauen! Für nicht einmal 300.000 EinwohnerInnen. Wieder unzählige Baustellen, wieder unzählige Bodenversiegelungen, wieder ewiger Lärm. Als ob unsere Straßenbahnen und Busse nicht reichen würden. Als ob die Leute durch eine U-Bahn tatsächlich ihr Auto aufgeben würden. Statt einer U-Bahn wäre es ein viel besserer Schritt, wenn die Straßenbahn- und Busfahrkarten nicht jedes Jahr teurer werden würden…

Seit einiger Zeit möchte auch noch Amazon im Süden der Stadt ein riesiges Logistikzentrum mit einem Parkhaus für 960 Lieferwägen und 24-Stunden-Betrieb bauen. Selbstverständlich passt den GrazerInnen und den unmittelbaren AnrainerInnern das so gar nicht. Das bedeutet noch mehr Bodenversiegelung, noch mehr Lärm, noch mehr Emissionen und eine regelrechte LKW-Flut für die ohnehin schon autoüberfüllte Stadt. Doch auch wenn sich die BürgerInnen dagegen sträuben, zum Teil sind sie natürlich selbst schuld, dass Amazon sich ausbreiten will. Viel zu viele Menschen kaufen bei Amazon ein. Es mutet widersprüchlich an, wenn wir einerseits das Logistikzentrum verteufeln, andererseits jedoch gerne bei Amazon einkaufen. Aber freilich ist es viel praktischer, einfach per Mausklick zu bestellen, als selbst ins Geschäft zu geben. Zugegebenermaßen lockt Amazon auch mit sehr attraktiven Preisen. Außerdem ist es verschämt einfach, Ware zu retournieren. Mir gefällt meine Bestellung nicht? Ich schicke sie einfach zurück und erhalte mein Geld ohne Wenn und Aber rückerstattet. Im Geschäft bekomme ich höchstens einen Gutschein und es nicht immer sicher, dass die Ware zurückgenommen wird. Amazon hat also seine Vorteile – und seine Nachteile. Hier im ländlichen Pennsylvania bestellen die Leute gerne bei Amazon. Vor einigen Jahren waren es die riesigen Einkaufszentren, die zum Aussterben der kleinen Geschäfte in den Innenstädten führten. Mittlerweile sind die Einkaufszentren selbst am Aussterben. Viele von ihnen sind bereits tot. Dank Amazon. Noch leben die kleinen Geschäfte in den deutschen und österreichischen Städten. Noch haben wir die Gelegenheit, bei ihnen einzukaufen und sie damit finanziell zu unterstützen… Damit sie nicht das gleiche traurige Schicksal wie den kleinen Läden in Pennsylvania ereilt. Und indem wir in unseren eigenen Läden einkaufen, reduzieren wir gleichzeitig auch die vielen Pakete, durch deren prompte Auslieferung Amazon die Emissionen nur noch mehr ansteigen lässt.

Immer wieder frage ich mich, warum Graz nicht trotz seiner wirtschaftlichen Ambitionen ein Naturstandort sein kann. Warum die Dauerbaustelle Graz so erpicht darauf ist, uns mit noch weiteren naturverbannenden Wohnungen oder gar einem Amazon-Logistikzentrum oder einer U-Bahn noch mehr Lärm, Baustellen, Beton und einen Verlust an wertvollem Boden zu bescheren, anstatt das in der Wirtschaft so heiß begehrte Bodengold für uns GrazerInnen zu schützen. Gesunder Naturboden ist ein unersetzbares und immer spärlicher werdendes Naturgut, das wir Menschen weltweit zerstören. Die Milliarden fleißiger Lebewesen, die sich alleine auf einem Esslöffel fruchtbarer Erde tummeln, sehen wir einfach nicht. Und der Boden dient nicht nur als ihr Zuhause, sondern er absorbiert auch CO2 und wirkt damit aktiv dem Klimawandel entgegen. Außerdem ist er eine unersetzliche Antwort auf die starken Regenfälle. Die extremen Regenfälle werden in Zukunft noch weiter zunehmen und damit auch die Überflutungen. Überflutungen entstehen deshalb, weil das Wasser im Beton nicht versickern kann. Wir brauchen also viel Boden, der das Wasser aufsaugen kann.

Wann immer ich nach Graz zurückkehre, bricht es mir das Herz, wenn ein weiterer Betonklotz eine Grünfläche unter sich begraben hat. Geld und Wirtschaft hin oder her. Ich kann einfach nicht begreifen, wie wir ein Fleckchen Grün nach dem anderen zerstören können, anstatt dieses so dringend notwendige Naturgut zu schützen. Wie sehr wünsche ich mir doch, endlich einmal in ein baustellenfreies Graz zurückzukehren! Ein Graz, das sich mit Natur und Grün brüstet – und nicht mit Beton…

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