Buchauszug

Bin ich der wichtigste Mensch in meinem Leben?

01.01.2022 - Dr. Christoph Quarch

NEIN

Der große Athener Tragödiendichter Euripides hat eine ergreifende Geschichte erzählt. Sie handelt von einer Frau namens Alkestis, die mit dem König Admetos verheiratet war. Auf diesem aber lag ein alter Fluch, so dass er lange vor der Zeit zu sterben hatte. Allein, der Gott Apollon liebte den Admetos und erwirkte von den Göttern der Unterwelt, dass jener länger leben dürfe; gesetzt, es fände sich ein anderer Mensch, der an Admeitos statt zu sterben bereit sei. Es fand sich aber niemand – außer seiner Frau Alkestis. Ihr war das Leben ihres Gatten wichtiger als ihr eigenes.

Nun mag man einwenden, das sei ein alter Mythos, der uns Heutigen nichts mehr zu sagen habe. Zumal er klar patriarchale Züge trägt. Sich für den Gatten hinzugeben, fiele heute niemandem mehr ein. Wie aber steht es um die vielen tausend Mütter, die sich für ihre Kinder opfern? Wie steht es um die vielen Männer, die ihr Leben für ihre Liebsten ließen? Wie steht es um die Gentlemen zur See, die anstandslos zuerst Frauen und die Kinder in Sicherheit brachten? Es gibt reichlich Beispiele von Menschen, die sich selbst nicht als die wichtigste Person in ihrem Leben sahen – und die bereit waren, ihr Leben zum Wohl des Lebens anderer aufs Spiel zu setzen oder gar dranzugeben.

Dass wir Heutigen ein solches Verhalten kaum noch verstehen können oder gar ablehnen, liegt nicht daran, dass wir klüger oder fortschrittlicher wären als die Altvorderen. Eher liegt es daran, dass die Geschichte übervoll ist von Predigern, Diktatoren, Ideologen und Fundamentalisten, die sich die Opferbereitschaft der Menschen aus rein selbstsüchtigen Motiven dienstbar gemacht haben. Das hat aus verständlichen Gründen dazu beigetragen, dass wir heute versucht sind, Altruismus und Selbsthingabe abzulehnen, und stattdessen einen Egoismus verinnerlicht haben, der früheren Menschen inakzeptabel gewesen wäre. Die Gründe dafür sind vielfältig, müssen hier aber nicht eigens rekonstruiert werden. Wichtig ist nur zu erkennen, dass es nicht im Wesen des Menschen, sondern am modernen Menschenbild liegt, wenn wir vor allem um unser eigenes Wohlergehen besorgt sind und uns für die wichtigste Person in unserem Leben halten.

Die Römer zum Beispiel dachten diesbezüglich völlig anders. Sie waren wahrlich keine Altruisten oder Gutmenschen, eher im Gegenteil: Sie schufen sich ein riesiges Imperium und beherrschten Jahrhunderte lang die Welt. Doch Egoisten waren sie nicht. Sie wussten, dass es Größeres und Wichtigeres gibt als die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen. So konnte Marc Aurel, der Philosoph auf dem Kaiserthron, bemerken: »Wie lange der Mensch lebt, ist gleichgültig; notwendig aber ist es, dass jeder seine Pflicht tut.« Und damit meinte er, dass es wichtiger ist, sich in den Dienst bestimmter Werte und Tugenden zu stellen, als bloß auf das eigene Leben und die persönlichen Interessen bedacht zu sein.

Marc Aurel war Anhänger der sogenannten stoischen Philosophie. Die Gründer dieser Philosophenschule lehrten, der Mensch sei immer eingebunden in größere Systeme, von denen er lediglich ein kleiner Teil ist. Solche Systeme sind die Familie, die Gesellschaft, der Staat, die Kultur und natürlich auch die Natur. Ihnen, diesen größeren Systemen, verdankt sich unser Sein; und ihnen zu dienen kann wertvoller und wichtiger sein, als die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Vielleicht sogar wichtiger als das eigene Leben. Alkestis jedenfalls sah es so. Zur Belohnung wurde sie übrigens von den Göttern zurück unter die Lebenden versetzt…

Kann ich von Christoph Quarch

Dr. Christoph Quarch, Kann ich? Darf ich? Soll ich? - Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen, 177 Seiten – Illustrationen von Patricia Schellenberger, 14,90 €

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