Gedicht

Chamäleons

28.02.2019 - Sanna Hübsch

Wir sind Chamäleons.
Wir haben gelernt,
uns anzupassen, Konflikte auszuhalten,
statt sie auszutragen,
weil wie sollten wir es ertragen,
ständig darauf aufmerksam zu machen;
wer wir wirklich sind und
was das Ganze eigentlich soll,
denn wir sind keine Chamäleons,
aber ihr wollt uns so sehen
und sagt wir sehen keine Farben,
doch seid ihr blind und verkennt die Ungleichbehandlung von Farben,
von Geschlechtern, von Menschen, die vermeintlich anders sind,
die anders sind, weil sie anders sein wollen,
deine Ungleichbehandlung ist uns kein Geschenk,
sie macht uns zu Anderen, mit anderen Rechten und anderen Pflichten
und anderen Gesetzen,
an denen wir uns zu halten haben und du, du meinst

Wir sind Chamäleons
Wir laufen umher,
aber nie, nie wirklich ganz
denn ein Teil läuft alleine Kreise in einem Meer aus Unbequemlichkeiten,
weil mal so und mal so,
werden zerrissen von dem uns herum
und wir lernen, wir passen uns an und sind still,
denn unsere Wirklichkeiten werden verstummt und unsere Träume drohen zu ersticken,
weil wir uns anpassen müssen und

Wir sind Chamäleons
Wir sind Meister der Nacht und Meister des Tages
Wir kennen 1000 verschiedene Situationen und 500 verschiedene Jobs, wir wissen wie es ist unter 100 Menschen fremd zu sein,
weil unter 100 Menschen wir fremd gemacht werden,
wir wissen wie es ist zwischen 100 Menschen uns allein zu fühlen,
denn unser Gefühl droht zu sterben, zwischen all dem Leiden, für das wir keine Zeit haben.
Und was sollen wir dir von Schmerzen erzählen, haben wir schon lange aufgehört, sie zu zählen oder sie zu spüren,
weil kennst du das,
wenn deine Konzentration ununterbrochen mehrfach gebrochen erfordert wird, dass du gar nicht weißt, auf was für einen Schmerz du dich konzentrieren können wirst
Und dann ist die Chance auch schon vorbei, sich zu beschweren, die Zeit dich mitzuteilen,
ist schon vorbei und du warst zu beschäftigt, sie zu nutzen,
ein Fünkchen Lachen zu verbreiten,
auch wenn du nur selbst gelacht hast,
zumindest hörst du ein Lachen und das reicht erstmal.
Für alles andere bist du gerade nicht empfänglich,
lieber einen zynischen Satz ablassen, um schön abzulenken,
denn seien wir ehrlich, eigentlich hast du keine Antworten auf das ganze Verstecken,
weil du es zu wenig durchblickst und einfach nicht willst, dass du brichst oder es zu ernst wird,
weil du es weißt doch

Wir sind Chamäleons.
Wir wissen, wie wir umzugehen haben, wenn andere weinen und wir haben gelernt,
Konflikte uns gutmütig anzuhören und Menschen zuzuhören, auch wenn sie lügen.
Und wie wir uns alle anlügen oder glaubst den Worten, die du sprichst?

Nein, wir sind Chamäleons.
Wir sind mal deutsch und mal ausländisch,
wir sind mal zu ungläubig und mal zu fromm
und manchmal sind wir zu sensibel
und manchmal sind wir zu grob
und manchmal sind wir die vorzeige Integrationspreisgewinner
und manchmal die Handschlagverweigerer, die sich nicht zu benehmen wissen,
mal die zu Linksradikalen und mal die Antisemiten oder Homophoben
und manchmal sind wir auch die Lieben und Coolen, mit denen du gerne abhängst.

Wir sind Chamäleons.
Wir haben zu allem eine Antwort und eine Position, denn wir müssen alles wissen, wir sind Experten für jeden Krieg oder jede Katastrophe in „unseren“ Ländern und „unserer“ Religion.
Wir wissen alles und du weißt ganz genau, dass wir da sitzen und dich beklatschen,
doch alles durchblicken und deswegen hast du Angst, dass wir dich eines Tages heimlich wegklatschen,
denn wir sind sauer und wütend und du weißt,
wir haben das Recht dazu.

Wir sind Chamäleons.
Hybride Identitäten,
wir gehören zu Allem und gleichzeitig zu Nichts,
wir haben keine Heimat,
aber wir nehmen uns das Recht, zu all dem zu gehören, in dem wir uns sehen.

Wir sind Weltenwandler und Brückenbauer,
sind die Lässigen und die Heraufbeschwörer,
wir sind die Händchen-haltenden dir zunickende Gutmenschen,
wir sind ein Gedicht an Facetten und Eigenschaften,
unsere Eigenheiten checkst du nicht,
wir sind Straßenkinder und akademische Frauen auf Sphären die dir unkenntlich sind.
Wir sind das, was du dir nicht zutraust, weil du feige bist.
Wir sind das, was du nicht sein willst, das Gegenbild von dir, als Gegenteil deiner Selbst konstruiert.
Und vor allem, sind wir das, was du niemals sein kannst.

Aber egal was du denkst.

Wir sind Chamäleons
Wir wechseln die Farbe, bei Licht
Wir wechseln die Farbe, bei Nacht
Wir wechseln die Farbe, denn wir können wechseln die Farbe, denn wir verändern uns wirklich
Oder nur die Form
Und glaubst du wirklich
Wir sind Chamäleons?
Oder warum werden wir ständig übersehen?

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