Springer-Vize im Interview

Christoph Keese: "Jedes Werkzeug ist Waffe und Segen zugleich"

15.12.2016 - Daniela Steppe

Er ist Executive Vice President des Axel Springer-Verlags und hat im September 2016 das Buch "Silicon Germany" veröffentlicht. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, wie es Deutschland gelingen kann, die digitale Transformation zu schaffen. DAS MILIEU sprach mit einem führenden Verfechter der Digitalisierung über die Tragweite, Risiken, Möglichkeiten und den Menschen eines 'Digitalen Deutschland'.

DAS MILIEU: Herr Keese, in Ihrem Buch „Silicon Germany“ warnen Sie davor, dass Deutschland den Anschluss an die Digitalisierung verpassen könnte. Ist es nicht vielleicht doch besser, einen Gang herunterzuschalten und uns erst die Frage zu stellen, wie wir leben wollen und uns nicht von der Entwicklung diktieren zu lassen, wie wir leben sollen?

Keese: Sehr interessante, fast schon philosophische Frage. Im Umgang mit Technologie ist es wichtig Freiheit- und Entscheidungsräume zu gewinnen. Und in der Geschichte der technologischen Entwicklung hat sich gezeigt, dass Freiheitsräume immer dann zu gewinnen sind, wenn man den Entwicklungen ins Auge schaut und sie beherrscht, um dann Gestaltungen vornehmen zu können. Denken sie zurück an die Elektrizität. Die gesellschaftliche Entwicklung wurde von denjenigen Gesellschaften am besten bewältigt, die sich der Elektrizität gegenüber offen gezeigt und in ihr Alltagsleben integriert haben. Diejenigen, die neue Industrien und Wirtschaften um sich herum haben entstehen lassen, um daraus wiederum gesellschaftliche Entwicklungen abzuleiten. Die Gesellschaften, die sich der Elektrizität verweigert haben, haben kein erfolgreichesGesellschaftsmodell aufbauen können. So ist es heute auch mit der Digitalisierung. Die Gesellschaften, die sich am meisten der Digitalisierung stellen, versklaven sich nicht, sondern gewinnen ganz im Gegenteil Freiheitsräume dadurch, dass sie die Technologie beherrschen.

 

Technologie aufzugreifen bedeutet nicht ihr Sklave zu werden, sondern sie als Werkzeug einzusetzen, Intelligent zu benutzen, ihre positiven Seiten zu fördern und ihr Schlechtes zu bekämpfen. Wenn man sich dieser Herausforderung nicht stellt, wird man damit leben müssen, dass andere die Regeln aufstellen und man selbst gezwungen wird diese Regeln zu befolgen. Und genau das passiert ja heute. Unsere Vorstellung von Datenschutz und Urheberrecht beispielsweise können wir in der ‚real existierenden‘ Digitalen Welt nicht mehr durchsetzen, weil wir dort kein mächtiger Spieler sind. Asien und Amerika teilen diese Märkte zurzeit unter sich auf und wir stehen hilflos außen vor. Schon an diesem Beispiel sieht man, dass wir nicht gut damit fahren, weiter in einem Zustand der abwartenden, vorsichtigen Agnostik zu verharren anstatt uns den Herausforderungen zu stellen.    

DAS MILIEU: Digitalisierung scheint etwas zu sein, das sich durch alle modernen Lebensbereiche zieht, auch wenn wir dies oft nicht bemerken. Ist nicht ein Problem der Digitalisierung, dass die meisten Leute, vielleicht auch unsere Leser, sich gar nicht vorstellen können was Digitalisierung eigentlich ist und welche Reichweite sie hat. Könnten sie kurz erklären, was sie unter Digitalisierung verstehen?

Keese: Ja, da sind Ihre Leser in guter Gesellschaft, ich weiß es auch nicht. Zur Digitalisierung gehört. Ich habe mal versucht durchzuzählen. Es gibt mindestens fünf unterschiedliche Definitionen von Digitalisierung, die alle sehr verschieden sind. Ich will hier ein konkretes Beispiel nennen. Ich traf kürzlich einen Unternehmer aus dem Schwarzwald, der mir sagte: „Unser Unternehmen ist ganz weit in der Digitalisierung, wir haben gerade unsere Bestellprozesse von Fax auf E-Mail umgestellt, jetzt sind wir voll digitalisiert, wir sind ein Digitales Unternehmen.“

DAS MILIEU: (lacht)

Keese: Da kann man leicht drüber lachen, aber dem Wortsinn nach hat dieser Unternehmer natürlich Recht. Fax ist analog und E-Mail ist digital, also hat er einen Prozess digitalisiert. In diesem Sinne kann jeder für sich behaupten, digital zu sein. In diesem Sinne kann auch die deutsche Industrie für sich in Anspruch nehmen, Industrie 4.0 eingesetzt zu haben. In der Organisation von Produktionsprozessen und Wertschöpfungsketten ist die deutsche Industrie sehr digital. Deutsche Autos zum Beispiel, könnten gar nicht produziert werden, wenn Lieferanten und Abnehmer nicht eng digital miteinander vernetzt wären. Also wer möchte, kann da schon einen Haken machen, sich zurücklehnen und sagen: Digitalisierung? Das haben wir schon lange geschafft.  Aber genau das ist mit dem, was wir landläufig zurzeit unter der Digitalisierungsdebatte verstehen, eben nicht gemeint. Digitalisierung bedeutet eine hohe zentrale Vernetzung, die Verbindung von bisher noch nicht miteinander Verbundenem und vor allem das Denken in exponentiellen Effekten. Das bedeutet wiederum denken in Geschäftsmodellen, die mit Grenzkosten 0 arbeiten, denken in Plattformmodellen aber vor allen Dingen, denken in Disruption. Dabei handelt es sich um neue konzeptionelle Ansätze, die mit dem Wort Digitalisierung semantisch schlecht beschrieben sind. Deswegen birgt das Wort Digitalisierung an sich schon eine Gefahr. Ich benutze es selbst ungern, da es zu Missverständnissen führt. Es wägt in falscher Sicherheit. Das, was uns im Augenblick wirklich herausfordert, hat mit Digitalisierung im engeren Wortsinne eigentlich nichts zu tun.

DAS MILIEU: Sie sprachen gerade davon sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Digitalisierung, wenn wir das Wort weiter benutzen möchten, scheint eine der größten ‚wirtschaftlichen Bedrohungen‘ unserer Generation zu sein. Aber wir fühlen uns ja gar nicht davon bedroht. Haben sie eine Idee woher das kommt?
 

Keese: Das kommt daher, dass wir mit den traditionellen Geschäftsmodellen sehr erfolgreich sind und einen Rekord nach dem anderen verbuchen. Auch hier muss man vorsichtig sein. Der Niedergang vieler Industrien hat mit einem Rekordjahr begonnen. Oft sind es gerade die Rekordjahre, die vorsichtig machen sollten. Denken Sie an die Plattenindustrie. Bevor die Digitalisierung einsetzte, hatte die Plattenindustrie Rekordumsätze an CDs und Vinylschalplatten zu vermelden. Dann kam jedoch Spotify und dann Napster. Jetzt ein auskömmliches Geschäftsmodell zu besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass man damit auch in Zukunft erfolgreich ist. Wenn Sie fragen: Woran liegt es, dass eine Generation das noch nicht erkennt? Es liegt meiner Meinung nach an dem Hang des Menschen analogisch zu denken. Analogisches Denken bedeutet verkürzt gesagt, weil es in der Vergangenheit so war, wird es auch in der Zukunft so sein. Hier bemerkt man schon den Denkfehler. Das ist vergleichbar mit einem Gang ins Kasino. Wenn sie viermal hintereinander die 6 gewürfelt haben, heißt das noch lange nicht, dass auch das fünfte Mal die 6 kommt, denn der Zufall beginnt bekanntlich bei jedem Würfelwurf neu. So ist es auch in den meisten Prozessen. Die Art und Weise, wie man sich denklogisch der Zukunft nähern muss, ist nicht der analogische, sondern der deduktive Schluss. Deduktiv bedeutet ableitend von Schlussfolgerungen aus empirisch bewiesenen oder methodisch sauber gewonnenen Grunderkenntnissen. Dabei können komplett andere Ergebnisse herauskommen. Wer nur analogisch denkt, der sieht die großen Eruptionen der Zukunft nicht vorher und wenn es einem Land dazu mit den traditionellen Geschäftsmodellen auch noch gut geht, ist die Verführung groß im analogen Denken zu verharren. Aber gerade eine junge Generation sollte ein gesteigertes Interesse an den neuen technologischen Entwicklungen haben, schließlich geht es um die eigene Zukunft.  Sich von diesem sehr bequemen Denken zu befreien und es ein stückweit wie Kant zu machen. Kant definiert die Aufklärung, als die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unwissenheit. Und als Hauptgrund für diese Unwissenheit hat Kant schon damals Faulheit und Bequemlichkeit angegeben. Sich aus dieser Denkbequemlichkeit zu befreien, führt zu einem besseren Umgang mit der eigenen Zukunft.

DAS MILIEU: Da Sie gerade unsere junge Generation ansprechen. Eine der größten Hindernisse für junge Unternehmer und die erfolgreiche Gründung von Start-up Firmen sehen sie in dem langwierigen Prozess der Unternehmensgründung in Deutschland und dem damit verbundenen hohen Verwaltungsaufwand. Um dies zu verdeutlichen, berichten Sie in Ihrem Buch davon, wie sie sich mit ein paar Freunden an einem Sonntagnachmittag getroffen und eine lange geplante Firma kurzerhand über das Internet gegründet haben. Allerdings in Amerika. Wie hat sich das angefühlt?

Keese: Das war unglaublich. Also ich wusste, dass das so einfach geht, ich hatte es bloß noch nie selber ausprobiert. Wenn man dann beim Mittagessen, so in etwa fünf Minuten eine Firma gegründet hat und dann den offiziellen Handelsregisterauszug, mit einer Unterschrift des Secretary of State von Delaware in diesem Falle, 36 Stunden später per Kurierpost in seinem Briefkasten vorfindet und parallel aber zur gleichen Mittagsstunde die Gründung einer kleinen GmbH, einer UG in Deutschland vorantreibt, und vier Monate vergehen bis der Auszug aus dem Handelsregister im Briefkasten steckt. Da sieht man, dass wir was öffentliche Verwaltung angeht oft noch in vordigitalen Zeiten verharren und damit natürlich auch demotivierend arbeiten. In den vier Monaten, die in Deutschland vergehen bis eine Firma offiziell ins Handelsregister eingetragen ist, gilt ein sogenanntes Vorgründungsrisiko. In dieser Zeit haftet der Vorgründer privat, wohingegen bei der schnellen digitalen Gründung, wie wir sie in Delaware vornehmen können, das Risiko für den Gründer wesentlich überschaubarer ist. Deswegen muss man die deutsche Politik auffordern, dieses enorme Modernitätsdefizit so schnell wie möglich abzuschaffen.

DAS MILIEU: Da die Möglichkeit einer schnellen Unternehmensgründung in anderen Ländern den Angriff auf traditionelle Firmen und Geschäftsmodelle stark begünstigen, raten Sie in ihrem Buch vielen Unternehmen dazu, in ihre eigenen Kannibalen zu investieren. Das ist wirklich eine sehr interessante Formulierung. Könnten Sie uns sagen, was sie damit meinen?

Keese: Da muss man zunächst zwischen den beiden Arten der Innovation unterscheiden. Zwischen der erhaltenden Innovation, die darauf abzielt die nächste Generation eines Produkts immer ein Stückchen besser zu machen als die vorherige, das ist die klassische Form der Innovation. Und der disruptiven Innovation, dem Gegenteil davon. Disruptive Innovation zielt darauf ab, bestehende Geschäftsmodelle und etablierte Industrien zu zerstören. Etwa Wertschöpfungsketten, wie wir sie als solche kennen zu zerschlagen. Das bedeutet nicht einfach nur ein Konkurrenzprodukt auf den Markt zu bringen, sondern den Markt als solchen abzuschaffen. Traditionelle Firmen sind meistens sehr stark was erhaltende Innovationen angeht, aber sehr schwach bei den disruptiven. 99 Prozent der Versuche von Unternehmen sich selbst disruptiv anzugreifen gehen schief. Disruptive Energien kommen eigentlich immer von außen. Wenn die disruptiven Angriffe von außen erfolgreich sind und das sind sie in der Digitalisierung, wenn wir dieses Wort an dieser Stelle nochmals verwenden wollen, sehr häufig. Daraus folgt, dass man sich mit den disruptiven Angreifern zusammentun muss, um die Zukunft des Unternehmens zu sichern. Denn wenn der Angriff von außen kommt, und das wird er im Rahmen der Digitalisierung eher schnell tun, hat man, wenn man sich mit seinen Kannibalen verbündet, zumindest eine gute Chance an dem Kannibalismus selbst noch Teil zu haben. Man kann sogar, wie etwa mein Arbeitgeber Axel Springer zeigt, mit destruktiven Modellen, die das alte Geschäftsmodell weitestgehend zerstört haben, viel mehr und auch nachhaltiger Geld verdienen, als mit den überwundenen Geschäftsmodellen.

DAS MILIEU: Wenn Sie gerade von neuen Geschäftsmodellen sprechen... Die größten Taxifirmen der Welt besitzen keine Taxen (Uber). Der größte Anbieter von Übernachtungen besitzt keine Immobilien (Airbnb). Auf viele Menschen wirkt es paradox, dass solche Firmen ohne, ich nenne es jetzt mal ,eigentlichen Besitz‘ Erfolg haben können. Wie funktioniert das?

Keese: Ja, das klingt nur für denjenigen paradox, der sich nicht damit beschäftigt. Wenn ich an der Stelle etwas polemisch zuspitzen darf: derjenige der in der Schule nicht verstanden hat, wie Gewitter entstehen, der findet es paradox, dass plötzlich Strom aus dem Himmel kommt und der Baum am Boden verbrennt. Wenn man sich hingegen aus der selbstverschuldeten Unwissenheit befreit und sich aufklärt, sprich die dahinterstehenden Mechanismen und Naturgesetze versteht, dann ist es überhaupt nicht paradox. Dieses Gefühl, ich verstehe nicht was passiert, hat nichts damit zu tun, dass die Welt plötzlich unüberschaubar geworden wäre. Es ist nur Ausdruck des eigenen Unwissens. Was Sie gerade beschrieben haben, dass Plattformen keine eigenen Güter besitzen die sie vermitteln, ist nicht nur ein absurder Funfact, sondern eine Naturgesetzlichkeit der Digitalisierung.  Das hängt damit zusammen, dass wir es hier mit einer Ökonomie zu tun haben, bei der man die entscheidenden Produktionsfaktoren, in diesem Fall Server und Cloudfarmen, nicht mehr selber besitzen muss und die Grenzkosten gegen Null gehen. Neue technologische Entwicklungen machen das Speichern und Verarbeiten von Daten immer preiswerter. Dadurch können Plattformen sich völlig darauf konzentrieren zwei Marktseiten zusammen zu bringen, nämlich Angebot und Nachfrage und dabei Ineffizienzen in der Vermittlung zwischen diesen beiden Seiten abzuschaffen. Der entscheidende Wert bei dieser neuen Verbindung von offline und online Ökonomie entsteht durch die Abschaffung von Ineffizienzen. Der wertschöpfende Teil ist nicht mehr die Anbietung der Hotelübernachtung, sondern deren ‚Problemfreie‘ Vermittlung. Wir befinden uns am Übergang von der physischen ‚realgebundenen Wirtschaft‘ zur Informationswirtschaft und der Wertschöpfungshebel der Informationswirtschaft ist deutlich größer als der der physischen Wirtschaft.

DAS MILIEU: Wenn wir gerade von der Abschaffung von Ineffizienzen sprechen. Momentan stellt es sich für viele ja so dar, dass digitale Technologien sich schneller entwickeln und verändern, als es im Vergleich Geschäftsstrukturen und Arbeiter bzw. der Mensch kann. Welche Möglichkeiten haben wir, wenn die Digitalisierung immer mehr Wirtschaftszweige zerschlägt und alte Jobs schneller verschwinden oder nicht mehr lukrativ werden lässt, im Unterschied zu neuen? Woran können wir uns orientieren?

Keese: Ich würde diesem Satz nur bedingt zustimmen. Sie haben das Hilfsverb 'können' verwendet, ich würde es gerne mit dem Hilfsverb 'möchten' ersetzen. Die Entwicklung passiert schneller, als die Menschen sich mit ihr auseinandersetzen möchten. Wenn sie wollten, dann könnten sie. Damit bin ich wieder bei dem Bild der Holschuld. Es ist nicht die Aufgabe einer irgendwie gearteten Institution den Menschen die Digitalisierung, auch gegen ihren inneren Wiederstand, ‚beizubringen‘. Es gibt in diesem Sinne keine Bringschuld, sondern die Holschuld des Einzelnen. Unser momentanes Gesellschafts- und Menschenbild basiert auf dem eines selbstverantwortlichen mündigen Bürgers und damit sind wir wieder bei Kant. Es ist unsere eigene Aufgabe uns aus der selbstverschuldeten, nicht der fremdverschuldeten, Unwissenheit zu befreien. Ich will damit nicht ausschließen, dass es nicht auch eine gewisse Bringschuld gibt. Natürlich sollten Universitäten, Schulen und Autoritätspersonen wie etwa die Eltern, den Nachwuchs in die Lage versetzen, die kognitiven Leistungen, also den Verstand, so nutzen zu können, dass sie verstehen was um sie herum geschieht. Hierin liegt aber auch der Unterschied. Man kann einem Menschen zwar das nötige Werkzeug vermitteln, aber um innerhalb dieser Entwicklung eine eigene Position zu finden, muss man sie für sich selber  verstehen. Ich glaube, dass eine paternalistische und rein von Oben nach Unten organisierte, vorsorgende Gesellschaft, völlig überfordert wäre diesen Prozess zu organisieren. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er sich in einem traditionellen Arbeitsverhältnis oder als Clickworker verdingen möchte. Schon das Wort Clickworker wirkt ja herabsetzend, als würde man in einer halbillegalen, halbverwerflichen Beschäftigungsform tätig sein. Clickworking kann ganz im Gegenteil jedoch eine viel größere Freiheit und ein besseres Einkommen mit sich bringen. Darin liegen ein unglaubliche Potentiale, aber auch große Gefahren und genau das können der Staat und die Gesellschaft nicht alleine lösen.

DAS MILIEU: Gut, dass Sie gerade das Thema Freiheit ansprechen. Wie glauben Sie, wird sich das Selbstbild des Menschen im Rahmen dieses Wettrennens entwickeln?

Keese: Ich glaube, wir sind freiere und selbstbestimmtere Menschen, wenn wir die Entwicklung mitprägen. Es ist ja nicht einfach eine Verdammnis die über uns hereinbricht. Es handelt sich hier ja nicht um die sieben biblischen Katastrophen. Das ist weder ein Einfall von Heuschrecken noch eine Flut und auch nicht wie Pest und Cholera, sondern die aufregendste Entwicklung an der man teilhaben kann. Wir sind alle privilegiert, dass wir diese Entwicklung miterleben. Wir haben alle Glück diese Entwicklung mitzuerleben und mitprägen zu dürfen. Wer seine Lebenszeit vergeudet ohne hier mitgestalten zu wollen, der hat nicht wirklich verstanden welches Potential und auch welchen Spaß das Leben bieten kann, wenn man sich in Unsicherheiten bewegt. Um dies ganz konkret mit einem Beispiel auszudrücken. Die Menschen die ich kennen gelernt habe, die sich dieser Herausforderung stellen, sind überhaupt nicht von Angst geprägt. Die glücklichsten Gesichter, die ich von arbeitenden Menschen kenne, sind die in Start-Up Unternehmen. Das sind Menschen, die ein anderes Wertesystem haben. Da geht es nicht um Geld, Karriere, Macht oder nach ‚oben buckeln und nach unten treten‘, wie es zum Teil in klassischen pyramidalen Strukturen der Fall ist. Da steht an erster Stelle etwas Sinnvolles tun zu wollen. An zweiter Stelle steht mit interessanten Menschen zusammenzuarbeiten und an dritter Stelle eng mit ihnen zusammenzuarbeiten. Nicht nur über zwei Meter Abstand, hinter der Zimmerpflanze mal den Arbeitspartner zu erspähen, sondern in eine ganz intensive soziale Beziehung einzutreten. Erst an Platz 4 oder 5 kommt Geld. Macht spielt gar keine Rolle. Wenn wir nach dem Funkelfaktor in den Augen gehen, sehe ich die meisten funkelnden Augen da, wo sich Leute dieser Herausforderung stellen. Ich bin Menschen aus diesen neuen Umgebungen und Menschen, die eher aus traditionelleren Umgebungen kommen, begegnet und wenn man in die Augen der Teilnehmer aus traditionellen Strukturen schaut, sieht man da immer so eine Mischung aus Unglaube, ein bisschen Skepsis und auch einer Spur Neid. Viele verspüren, wenn sie in Kontakt mit diesen neuen Welten und Strukturen kommen, eine Revitalisierung ihrer eigenen Person, einen Aufbruch zu neuer Tatkraft.

DAS MILIEU: Das heißt, Sie haben eher das Gefühl, dass sich die Individualität und die Willensfreiheit durch die Digitalisierung verstärken lassen, zumindest, wenn man es richtig angeht, anstatt sich davon überrollen zu lassen?

Keese: Ja, klar. Technologischer Fortschritt ist ja keine Bedrohung, sondern eine riesige Chance. Das soll nicht heißen, dass man die Bedrohungen die auch damit einhergehen, ignorieren soll. Das wäre die erste Technologie der Welt, die keine Bedrohungen mit sich bringt. Selbst der Hammer ist eine bedrohende Technologie. Wenn Sie sich auf den Daumen schlagen oder Ihren Nachbarn damit töten, dann ist auch ein Hammer eine Bedrohung. Es gibt kein Werkzeug des Menschen, dass nicht gleichzeitig Waffe und Segen ist. Das gilt natürlich auch für das Internet, sogar in gesteigerter Weise. Aber wir benutzen ja trotzdem Hämmer und Flugzeuge. Zivilisation besteht darin, im Unterschied zur Anarchie, die positiven Effekte von Technologien in den Vordergrund zu stellen  und die negativen zu beherrschen. An der Neuentstehung einer technischen, digitalen, vernetzten Zivilisation mitzuwirken, also das Gute zu fördern und das Schlechte einzudämmen, dass ist die Aufgabe nicht nur einer neuen Generation, sondern aller Menschen, die heute Leben.

DAS MILIEU: Gibt es etwas, das Sie unseren Lesern noch zusätzlich mitgeben wollen? Ein letzter Hinweis?

Keese: „Il faut etre absolument moderne“ (Es muss absolut modern sein) hat Arthur Rimbaud gesagt. Das ist mein Motto und hat nichts mit dem Alter zu tun. Man sollte immer absolut modern sein. Das gilt für jeden und macht glücklich.

 

DAS MILIEU: Vielen Dank für das spannende Gespräch, Herr Keese!

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