Ausgabe #171

Damit wir unsere Tage weise nutzen

01.03.2022 - Olivia Haese

Liebe Autorinnen und Autoren,
liebe Leserinnen und Leser,

es ist nicht der erste Krieg in den letzten Jahren und auch nicht der erste Krieg innerhalb Europas in den letzten drei Jahrzehnten, und doch scheint die aktuelle Krise in der Ukraine die Berichterstattung der deutschen Medien im Moment fast gänzlich übernommen zu haben. Ich vermute, dass dies einiges mit der existenziellen Angst vieler von uns zu tun hat, die durch so etwas Unbegreifliches wie nukleare Bedrohungen inmitten eines unberechenbaren und rücksichtslosen Angriffs auf eine unschuldige Zivilbevölkerung ausgelöst wird.

Ich habe bei Menschen in meinem Umfeld beobachtet, dass die nicht absolut unmögliche Aussicht auf einen dritten Weltkrieg andere Dinge in ihrem Leben für sie merklich relativiert hat. Bei der aktuellen Nachrichtenlage, die uns ins Gedächtnis ruft, wie plötzlich dieses Leben vorbei sein könnte, erscheinen alltägliche Vorgänge wie zur Arbeit gehen oder sich Notizen für eine Prüfung merken nicht besonders zielführend. Dazu tägliche Bilder der Unzähligen, die in größter Eile aus ihrem Heimatland fliehen oder verzweifelt versuchen, sich und ihre Familie zu schützen – diese Bilder gehen uns nicht nur nahe, sondern machen uns auch die Kürze und Tragik des Lebens bewusst. Väter, die ihre Kinder zurücklassen müssen und nicht wissen, ob sie sie jemals wiedersehen werden, oder die Geschichte eines jungen Paares, das auf die Schnelle geheiratet hat, um sich am nächsten Tag gemeinsam dem Krieg zu stellen, mit dem Versprechen, den anderen nicht zurückzulassen – Berichte wie diese können uns dazu bringen, unser eigenes Verhältnis zu unserem Leben, unserer Gesundheit und unseren Nahestehenden zu hinterfragen.

Diese Form von Angst und Tragik war und ist für Millionen andere Menschen, insbesondere im Nahen Osten, auch in jüngster Zeit bereits Realität, selbst wenn geografische Entfernung, kulturelle Unterschiede und politische Ambitionen diese Geschehnisse in den westlichen Medien weniger zugänglich gemacht haben. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass verschiedene Teile der Welt – namentlich westliche und nicht-westliche Regionen – von den Medien uneinheitlich behandelt werden und in unterschiedlichem Maße Mitgefühl und Unterstützung erhalten. Man kann diese Ungereimtheiten schwer thematisieren, ohne gleichzeitig zu erwähnen, dass die Berichterstattung über Kriege in verschiedenen Regionen kein Wettbewerb ist und ein Krieg nicht schlimmer als der andere. Jedes Vergießen von unschuldigem Blut ist ein unentschuldbares Verbrechen, ob es nun durch Luftangriffe auf Jemeniten im Januar oder durch Angriffe auf Ukrainer im Februar verursacht wird.

Es gibt in solchen Situationen nichts Positives zu sagen, man kann lediglich eine Anpassung der eigenen Perspektive vornehmen, um die Wirksamkeit seiner Taten zu erhöhen. Wir alle wissen, dass es keinen Zweck hat, panisch zu werden oder nachts vor Angst wach zu liegen. Obwohl wir alle unsere individuellen (und zumeist gerechtfertigten) Nervensystemreaktionen und Bewältigungsmechanismen haben, bleibt uns in schwierigen Situationen normalerweise – solange wir nicht in unmittelbarer Gefahr sind – die Fähigkeit, das Gesamtbild unserer Realität mit ihren Möglichkeiten zu betrachten und herauszufinden, welche Handlung nun am effektivsten wäre. Selbst in Zeiten des Krieges ist es nur sinnvoll, unsere Energie auf die Dinge zu verwenden, in denen wir gut sind: Der Bäcker backt Brot, der Politiker verhandelt, der Therapeut beruhigt, der Mediziner verarztet, der Korrespondent berichtet, der Priester betet. Zeiten der Verzweiflung können uns Aufschluss darüber geben, welche Form von Hilfe wir anderen anbieten können, wie wir zweckmäßig agieren können.

Wenn es etwas gibt, das wir aus diesen Umständen mitnehmen können, dann vielleicht uns daran zu erinnern, dass Unbehagen und Vergänglichkeit die grundlegende Realität des Lebens auf dieser Erde sind. Tragödie und Tod sind immer möglich, der Unterschied besteht nur darin, dass wir sie manchmal als mehr und manchmal als weniger wahrscheinlich wahrnehmen. „Mach uns bewusst, wie kurz das Leben ist, damit wir unsere Tage weise nutzen!" Eventuell gibt es einen Weg, der Unbeständigkeit unseres Daseins ins Auge zu sehen und sie somit besser zu verstehen. Und eventuell erkennen wir dann das Ziel unseres Daseins deutlicher.

Ich bin sehr froh, dass wir in dieser Ausgabe zwei informative Beiträge zum Thema haben: „Die Macht des Friedens. Eine Rede wider den Krieg“ von Dr. Christoph Quarch und „Die Waffen nieder auf allen Seiten!“ von Peter Nowak. Vielen Dank an beide Autoren und an alle anderen, die zu dieser März-Ausgabe beigetragen haben.

Ich bete für alle unschuldigen Menschen, die von Krieg, Unrecht und Gewalt betroffen sind, und ich bete, dass wir alle unsere Aufgabe in diesen Umständen finden.

Herzliche Grüße
Olivia Haese

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