Das Autoren-Duell: Hamed Abdel-Samad vs. Khola Maryam Hübsch

15.05.2014 - Tahir Chaudhry

Teil II: Drei Thesen - "Unter dem Schleier die Freiheit"

DAS MILIEU: Frau Hübsch schreibt auf Seite 56 ihres Buches: 'Die gesamte Lehre des Islam zielt darauf ab, den Menschen zu vervollkommnen, ihn von einem primitiven Zustand in einem moralischen zu erheben und ihn von einem moralischen Zustand in einen geistig-spirituellen zu führen. Alle Gebote und Weisheiten, die im Koran erwähnt sind, haben das Ziel, den Menschen zu wahrer Gotteserkenntnis zu verhelfen, indem er sein Ego überwindet, die Attribute Gottes in sich verwirklicht und eine lebendige Beziehung zu Gott führt.'
Herr Abdel-Samad, haben Sie gegen dieses Ziel des Islam etwas einzuwenden?


Abdel-Samad: Nein, es gibt in der Tat im Islam dieses Ziel. Es gibt auch die geistige Kraft, die spirituelle Kraft im Islam, die Charakterstärke und Vervollkommnung des Menschen. Aber wenn ich den Begriff, die Vervollkommnung des Menschen höre, dann denke ich an politische Ideologien, die genau dieses Ziel verfolgen und den Menschen im Namen der Vervollkommnung verführt haben. Der Mensch ist nun mal nicht vollkommen und kann nicht vollkommen sein, denn der Mensch hat eine ganz irdische Natur, irdische Bedürfnisse. Er ist nicht gemacht, um geistig vollkommen zu sein. Diese Schwäche des Menschen ist etwas Großartiges. Der Islam und andere Religionen erkennen diese Schwäche des Menschen nicht an, sondern greifen diese an oder ignorieren Sie. Sie leben nach einem moralischen Ideal, das eigentlich menschenfremd ist. Deshalb leben auch viele streng religiöse Menschen, ob christlich, jüdisch oder muslimisch in einer Doppelmoral, weil sie gegen die Natur des Menschen leben.

Hübsch: Also gerade der Islam nimmt für sich den Anspruch, eine Religion zu sein, die der Natur des Menschen entspricht. Es geht aber darum, dass der Mensch nach Höherem streben soll. Das ist auch die Bedeutung des Dschihad. Das heißt alles nicht, dass der Mensch keine Schwächen hat. Der Koran spricht davon, dass der Mensch Fehler hat, dass er streitsüchtig ist und Mängel hat. Aber Allah ist der Vergebende, der Barmherzige, der Gnädige. Es ist also ein Entwicklungsprozess, der auch zur Freiheit führt. Dadurch, dass der Mensch lernt, seine Triebe kontrolliert mit der Vernunft einzusetzen, sie aufgrund ihrer Bestimmung nicht zu unterdrücken oder abzulehnen, sondern sie mit Vernunft einzusetzen, erreicht er einen moralischen Zustand, um frei zu werden. Damit wird der Mensch nicht zum Spielball seiner Triebe, sondern setzt Sie gezielt ein. Diesen Zustand erreicht man erst, wenn eine gewisse Gottesnähe erlangt ist. Gottesnähe bedeutet Freiheit und dass man nicht durch weltliche Dinge in Abhängigkeit versetzt wird. Das sind spirituelle Gesetzmäßigkeiten, die angesprochen werden, die aber durchaus praxisnah sind. Es ist nicht etwas, was in der Realität nicht umzusetzen wäre. Das erfährt auch jeder spirituell-praktizierende Muslim. Schon in diesem Leben bringt es Zufriedenheit, inneren Frieden, Liebe zum Menschen und zu Gott. Es beschränkt sich also nicht nur auf das Jenseits. Auch der Dienst an dem Menschen ist der Dienst an Gott. Es ist wichtig, dieses Konzept ganzheitlich zu verstehen und nicht alles auf einzelne Aspekte zu reduzieren.

Abdel-Samad: Einer der Schwächen des Islam für mich ist, dass er Zweifel nicht zulässt. Zweifel ist der Motor des Fortschritts und des Denkens. Von Anfang an vorgefertigte und verpackte Wahrheiten zu verkaufen, diese dann als Realität und absolute Wahrheit zu akzeptieren, hindert die jungen Menschen daran, kritisch zu denken und für sich eine gewisse persönliche Entwicklung zuzulassen. Die Religion, die Zweifel nicht zulässt, betreibt eigentlich eine Selbstamputation.

Hübsch: Der Koran selbst beschreibt, wie Propheten anfingen, am Aberglauben ihrer Vorväter zu zweifeln. Zweifel und das Hinterfragen gehören dazu und sind wichtig. Vor allem aber das Hinterfragen seiner eigenen Motive. Der Islam fordert zur permanenten Selbstreflexion auf, zum Nachdenken über das eigene Handeln, über die Verantwortung sich und anderen gegenüber. Sich selbst in Frage stellen ist elementarer Bestandteil des großen Jehads, der Kampf gegen das Ego. Wer aber nicht bloß glaubt, sondern weiß, wer Gott real erfahren hat und Gotteserkenntnis besitzt, der zweifelt natürlich nicht mehr an der Existenz Gottes.

DAS MILIEU: Auf Seite 60 schreibt Frau Hübsch: „Es ist offensichtlich, dass die Vorstellung des Paradieses als ein Ort, in dem 72 Jungfrauen und Bäche von Milch und Honig auf den Gläubigen warten, in höchstem Maße infantil ist und bar jeglichen Wissens über die spirituelle Lehre des Islam. Sie zeugt von einer buchstabengläubigen Lesart des Koran in der Logik fundamentalistischer Fanatiker, die nichts vom Islam begriffen haben.“
Herr Abdel-Samad, übernehmen Sie die Logik fundamentalistischer Fanatiker, wenn Sie die angebliche Belohnung für Märtyrer kritisieren?

Abdel-Samad: Nein, ich übernehme die Logik der vier Rechtsschulen des Islam, für die das Paradies ein wahrer Ort und keine Metapher ist. Das, was Frau Hübsch beschreibt, ist wunderschön und es wäre wünschenswert. Aber es tut mir auch leid, das in aller Deutlichkeit sagen zu müssen, das ist die Al-Ahmadiyya Art und Weise den Islam zu verstehen und nicht Mainstream-Islam. Ahmadiyya, die übrigens von anderen überall dort unterdrückt werden, wo sie sind.

Hübsch: Es ist aber der Koran selbst, der von Gleichnissen spricht. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat argumentiert aus den Quellen des Islams heraus. Wenn es im Koran um Paradiesbeschreibungen geht, dann heißt es ganz deutlich, dass es sich um Gleichnisse handelt (Sure 47:16). An einer Stelle heißt es: 'Dies sind Gleichnisse, die Wir für die Menschheit aufstellen, doch es verstehen sie nur jene, die Wissen haben' (29:44). Es ist also nicht etwas, das frei erfunden wäre, sondern dieses Verständnis gab es auch schon bei Gelehrten des Mittelalters. Der Koran selbst bietet die Grundlage dafür, das Paradies als einen Ort zu begreifen, der zwar real ist, aber im Koran metaphorisch beschrieben wird. Alles andere ist Buchstabengläubigkeit. Es ist auch eine sehr primitive Vorstellung, dass gewisse Dinge, die hier nicht erlaubt sind, Muslime im Jenseits bekommen – was wäre dann der Sinn hinter den Verboten? Der Kern der islamischen Lehre wird dadurch nicht begriffen. Der Zustand des Menschen nach dem Tode ist nicht ein völliger neuer, sondern er ist eine vollkommene Wahrnehmung und ein klares Abbild der Zustände im irdischen Leben. Es wird offenkundig und sichtbar, wie es um den Seelenzustand des Menschen steht, also eine Verkörperung der inneren Zustände.
Es ist sehr leicht zu sagen, dass das eine Minderheitenposition ist. Sollte es aber mittlerweile so sein, dann ist das immer noch kein Argument dagegen, sondern erst recht sollte man dann inhaltlich darüber nachdenken, wie diese Verse interpretiert werden können und wer das bessere Argument hat.

Abdel-Samad: Ich habe etliche Exegesen des Korans gelesen. Von Ibn Kathir bis Sayyid Qutb und alle im sunnitischen Mainstream-Islam gehen davon aus, dass Paradies und Hölle wahre Orte sind. Es ist richtig, wenn Frau Hübsch sagt, dass diese Vorstellung von Paradies infantil ist. Aber so ist es natürlich, weil es aus einer Männerfantasie geboren ist. Wer kommt auf die Idee, dass die Belohnung für einen Moslem nicht die vollkommene Vereinigung mit Gott ist, sondern das ein Moslem in einer Pornotopia lebt, wo er jederzeit Sex mit mehreren Frauen hat.

Hübsch: Das ist absurd, das steht nirgends im Koran.

Abdel-Samad: Dann lesen Sie doch die Exegese! Die Tatsache, dass es Randinterpretationen gibt, wie die der Al-Ahmadiyya und des Sufi-Islam bedeutet nicht, dass das die Interpreten des Mainstream-Islam genauso sehen. Das Paradies entspricht den Männerfantasien der Bewohner einer Wüste. Deshalb heißt es auch im Koran, dass es im Paradies weder Sonne noch Kälte gibt. Für Nordeuropäer ist es dann schrecklich, wenn man ihnen sagt, dass es keine Sonne gibt. Aber für jemanden, der in der Wüste lebt und unter der Hitze leidet, kann das sehr attraktiv sein.

DAS MILIEU: Auf Seite 176 schreibt Frau Hübsch: „Jeder zweite Deutsche hat Angst vor dem Islam. 60 Prozent der Deutschen sind der Meinung, man solle die Religionsausübung für Muslime in Deutschland erheblich einschränken. […] Es kann nichts sein, dass wir die Deutungshoheit über den Islam buchstabengläubigen Fanatikern, schrillen Vögeln und fundamentalistischen Islamkritikern überlassen.“
Herr Abdel-Samad, wer sollte Ihrer Meinung nach die Deutungshoheit über den Islam besitzen?


Abdel-Samad: Keiner! Kein Mensch! Der Islam eignet sich auch nicht dafür, dass irgendjemand die Deutungshoheit übernimmt. Der Islam hat keine Kirche oder einen zentralen Klerus. Wenn die Religion privatisiert ist, kann jeder Muslim für sich aufgrund seines kritischen Denkens und seiner persönlichen Bedürfnisse seine eigene Interpretation suchen. Wir werden es nie schaffen eine Einheit herzustellen.

Hübsch: Meinungsfreiheit, Gedanken- und Gewissensfreiheit sind im Koran verankert. Ich glaube, wichtig bei der Auslegung des Koran ist, selbst den Koran als wichtigstes Zeugnis dafür anzusehen, wie die Verse interpretiert werden können. Die Verse können sich gegenseitig bestätigen, aber sie können sich nicht widersprechen. Die Auslegung und Praxis des Propheten ist wegweisend. Da gibt auch sehr viel, was für Toleranz und aufgeklärtes Handeln spricht. Man muss im Hinblick auf die Lehre mit reinen Absichten die Vernunft gebrauchen. Das ist gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig. Sicherlich haben wir da eine schwierige Situation. In dem Zusammenhang spricht man auch vom sogenannten Google-Islam oder Patchwork-Islam. Vor dem Hintergrund, dass wir nun viele merkwürdige Islam-Interpretationen haben, die teilweise – wie Sie sagen - zum Mainstream geworden sind. Das zeigt auch, dass Muslime eine Reform nötig haben. Der Prophet Muhammad hatte selbst für unsere Zeit angekündigt, dass ein Messias und Mahdi kommen wird. Für mich ist eben diese Figur Mirza Ghulam Ahmad, der eine Koranexegese vorgenommen hat, die sehr erfrischend ist und von einem ganzheitlichen Verständnis des Islam geprägt ist. Er legte einen spirituellen und intellektuellen Weg vor. Seine Schriften haben uns für die heutige Zeit sehr viel zu sagen. Diese müssen auch als wichtiger Impuls begriffen werden und es tut sich hier auch sehr viel. Wir müssen also inhaltlich argumentieren und die Reformbestrebungen für einen aufgeklärten Islam ernst nehmen.

Abdel-Samad: Diese Ping-Pong-Interpretationen werden uns nicht weiterhelfen. Es wird immer Menschen geben, die den Koran eigensinnig oder auch politisch interpretieren. Ich finde es immer lobenswert, wenn es Menschen gibt, die neue Ansätze suchen, die eine menschlichere Interpretation des Korans suchen. Aber ich finde, im 21. Jahrhundert sollte unser Leben nicht davon abhängen, was der Prophet gemeint haben könnte oder was im Koran steht. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Für das Zusammenleben sollten aber ganz andere Regeln gelten: Humanismus, Demokratie, Menschenrechte. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Es sollte eigentlich keine Rolle mehr spielen, ob etwas mit dem Islam kompatibel ist oder nicht. Wir werden immer nette Muslime finden, die versuchen an den Versen des Koran herumzuschrauben bis sie an die moderne Zeit angepasst sind. Wir werden auch die schrägen Vögel haben, die sagen: Nein, das ist unislamisch! Wir sollten endlich einen postkoranischen Diskurs anfangen, egal was im Koran steht. Wir müssen im 21. Jahrhundert leben und nicht im 7. Jahrhundert!

 

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Teil III: Abschlussdiskussion über Islamkritiker und gläubige Muslime

 

 

 

 

Khola Maryam Hübsch: "Unter dem Schleier die Freiheit. Was der Islam zu einem wirklich emanzipierten Frauenbild beitragen kann"
Patmos Verlag, 192 Seiten, 2014, Hardcover, 16.99 Euro

ISBN: 978-3-8436-0473-4

 

 

Hamed Abdel Samad: "Der islamische Faschismus"
Droemer HC, 224 Seiten, 2014, Hardcover, 18.00 Euro
ISBN: 978-3-426-27627-3

 

 

 

Das Gespräch moderierte Tahir Chaudhry am 25. April 2014.

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