Kolumne: Lupus Oeconomicus

Das Corona-Beraterproblem und die Lockdown-Einbahnstraße

01.04.2021 - Nicolas Wolf

Corona als Thema wird langsam nervig. Ich hoffe daher, dass ich künftig wieder vermehrt über das schreiben kann, was mich am meisten interessiert: Wirtschaft. Allerdings gibt es da eine Frage in Sachen Covid-19, die mich nicht locker lässt: Wieso sind wir, das heißt unsere Politiker, bei der Pandemiebekämpfung eigentlich so einfallslos? Eine mögliche Erklärung: Mangelnde disziplinäre Vielfalt unter den von den Regierenden konsultierten Experten und Beratern.

Als es im März letzten Jahres in den Lockdown ging, hatte ich wie viele andere viele Fragen: Wie gefährlich ist dieses Corona-Virus, wie lange wird der Lockdown wohl andauern, was passiert danach? Allerdings hatte ich auch auf einmal viel Zeit (oder eher: mehr als üblich) und konnte mich auf die Suche nach Antworten zu eben jenen Fragen begeben. Glücklicherweise gibt es ja das Internet, wo ich als Normalbürger die Möglichkeit habe auf Blogs, in Podcasts oder auf Twitter den Gedanken und Analysen von Wissenschaftlern, Intellektuellen oder generell Menschen, die intelligenter und besser vernetzt sind als ich, zu folgen. Aus dem Studium dieser Quellen formte ich im Frühjahr 2020 dann folgendes Bild der Situation:

·         Das Coronavirus ist gefährlicher als die Grippe und breitet es sich zu schnell aus, kann es zu einer Überforderung des Gesundheitssystems kommen

·         Die Pandemie ist erst ausgestanden, wenn Herdenimmunität erreicht ist

·         Herdenimmunität kann entweder durch „natürliche Durchseuchung“ oder durch Impfung erreicht werden

·         Lockdowns und Kontaktbeschränkungen verhindern zwar Todesfälle und einen Zusammenbruch der gesundheitlichen Versorgung in der kurzen Frist, sind aber extrem kostspielig und zögern das Erreichen von Herdenimmunität auf natürlichem Weg heraus

Dementsprechend, so meine Schlussfolgerung, wäre es Aufgabe der Politik ein „Optimierungsproblem“ zu lösen, das man wie folgt formulieren könnte: „Wie erreicht man Herdenimmunität, ohne einen Kollaps des Gesundheitswesen herbeizuführen, mit möglichst wenig Corona-Toten und zu möglichst geringen wirtschaftlichen wie sozialen Kosten?“

Aus der Antwort auf diese Fragestellung wiederum würde sich dann eine grundsätzliche Corona-Strategie, ein langfristiger Umgang mit dieser Pandemie ergeben.

 

Zwölf Monate Corona und noch immer keine Strategie

Wie eine solche Strategie dann aussehen würde, das stand nicht zuletzt aufgrund der großen Unsicherheit, die zu derzeit bezüglich der tatsächlichen Fall-und Todeszahlen herrschte, zur Debatte. Schweden entschied sich dafür das Virus gewähren zu lassen und setzte auf natürliche Herdenimmunität. Ich persönlich wünschte mir, dass die Politik einen anderen Ansatz verfolgen würde, für den sich zum Beispiel der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Romer stark machte: Massives Testen, idealerweise so, dass die gesamte Bevölkerung einmal alle zehn Tage „durchgetestet“ würde. Seine Vision war es, Coronatests so selbstverständlich und einfach zugänglich zu machen, wie Limonade in Dosen. Zugegeben, das mag zwar eine etwas zu ambitionierte Forderung gewesen sein, aber an der Notwendigkeit einer Langfrist-Strategie ändert dieser Einwand jedoch nichts.

Doch eine solche Strategie war damals während der ersten Covid-Welle nicht einmal im Ansatz zu erkennen, was ich dann schließlich in der Juni 2020-Ausgabe [Lupus Oeconomicus: Was ist eigentlich Deutschlands Corona-Strategie? - DAS MILIEU] von „Das Milieu“ thematisierte. Das Traurige ist, dass sich an diesem Zustand bis heute knapp ein Jahr nach Beginn des ersten Lockdowns nicht viel geändert hat. Erst jetzt, mit reichlich Verzögerung, geschehen all diese Dinge, die man spätestens im Oktober oder November letzten Jahres hätte forcieren müssen: Konzepte für Schulen, umfängliches Testen, um etwas mehr Normalität zuzulassen, Schutzmaßnahmen für die vulnerabelen Gruppen. Ja, die Schnelltests waren damals noch nicht in großen Mengen verfügbar, wie der Virologe Christian Drosten kürzlich klarstellte [Drosten kritisiert „Dreck“ aus Talkshows zu Corona - WELT]. Aber dann baut man halt Stationen auf Werksgeländen und in Sporthallen auf, um dort dann PCR-Tests für Industriebetriebe und Schulen durchzuführen. Das kostet zweifelsohne Zeit und Geld und benötigt ausreichend geschultes Personal. Doch günstiger als Lockdowns wäre es allemal und in Abwesenheit anderer Ideen daher einen Versuch wert gewesen.

 

Ein intellektuelles Vakuum

Die Frage, die ich mir nach wie vor stelle, ist, warum es nie eine erkennbare Initiative gab, eine solche Strategie zu entwickeln. Es ist eine Sache, etwas zu probieren und dann zu scheitern, vor allem wenn es um solche schwierigen Unterfangen wie „das Leben mit einem Virus“ geht. Erst jetzt, inmitten der dritten Welle, gibt es vereinzelt Projekte (so zum Beispiel in Tübingen), in denen erprobt wird, wie man durch häufiges Testen möglichst viel Alltag wieder zulassen kann. Doch warum erst so spät und nur auf Initiative einiger findiger Bürgermeister?

Zwölf Monate sind verstrichen und noch immer werden von Bund und Länder innerhalb der Ministerpräsidentenkonferenz nur zweierlei verhandelt: Lockern und Verschärfen. Das Resultat ist hinlänglich bekannt, nämlich ein Hin-und-Her zwischen mal milderen, mal strengeren Maßnahmen.

Dass es außer dem keinerlei Ideen oder Initiativen gibt, wie man dieser Pandemie Herr wird, zeugt nicht nur von Unvermögen oder Bräsigkeit (ein Wort, dessen Verwendung sich in den letzten Wochen gehäuft hat), sondern lässt auf ein konzeptionelles und intellektuelles Vakuum schließen.

Für mich als Außenstehender ist das nur schwer zu begreifen. Seit Beginn wurden so viele verschiedene Vorschläge gemacht, wie wir ein möglichst normales Miteinander mit diesem Virus herbeiführen könnten, doch nichts von alledem scheint bei dem politischen Verantwortlichen anzukommen. Dies ist kein rein deutsches Phänomen, wie David Wallace-Wells in einem lesenswerten Artikel mit dem Titel How the Europe and the United States Lost COVID-19 (nymag.com) nachgezeichnet hat. Der Westen, sprich Nordamerika und Europa, hat sich ja insgesamt sehr hilfs- und einfallslos während dieser Pandemie präsentiert. Doch woran liegt dies? An der Politik? Am Staatsapparat? An zu viel Bürokratie und behördlicher Bequemlichkeit?

 

Schlecht beraten?

Ein Aspekt, den besagter Artikel anspricht und der meiner Meinung nach in der öffentlichen Debatte zu kurz kommt, ist die Rolle jener, die die Politik beraten. Jede Regierung hat ihren Stab an Medizinern, Virologen und Epidemiologen, mit dem sie in regelmäßigen Abständen vor die Kamera tritt, einen Lagebericht abliefert, sich journalistischen Fragen stellt, und verkündet, was von der Exekutive hinsichtlich Lockerungen und Verschärfungen so beschlossen wurde. Doch wer sind jene Berater? Und vielmehr noch: Sind sie für ihre Rolle in dieser Pandemie geeignet? Schaut man sich an, wer beispielsweise die Bundesregierung berät [Coronavirus: Diese acht Fachleute beraten Bundesregierung und Länderchefs - DER SPIEGEL], so stößt man auf reichlich medizinische und virologische Expertise gepaart mit ein wenig Psychologie und Physik, letzteres hauptsächlich zu Modellierungszwecken. Es ist eine Auswahl, die – so mein Eindruck – in erster Linie für einen Zweck bestimmt ist: Das Infektionsgeschehen zu beobachten und vorherzusagen, um dann der Politik darzulegen, was man an Kontakten und Öffnungen zulassen kann und unter welchen Umständen Maßnahmen wieder verschärft werden müssen. Was zu fehlen scheint: Eine Stimme, die fragt, was man außer Lockdowns denn noch so alles machen könnte. Eine Stimme, die kontinuierlich daran erinnert, dass das abwechselnde Verschärfen und Lockern und Warten auf den Impfstoff eben keine Langfrist-Strategie ist.

Um es pointierter zu formulieren: Ich glaube, dass es dem Beratergremium der Bundesregierung an intellektueller Diversität mangelt. Zur Veranschaulichung eine Analogie zu einem anderen Thema: Nehmen Sie, liebe(r) LeserIn, einmal an, Sie müssten einen Expertenstab einrichten, um geeignete Maßnahmen gegen den Klimawandel zu erarbeiten. Würden Sie ausschließlich Meteorologen und Klimaforscher in ein solches Gremien berufen? Würden nicht auch Ingenieure, die sich mit Energietechnologien auskennen, und Ökonomen, die ihr Wissen hinsichtlich der Lenkungswirkung von CO2-Steuern oder -zertifikaten beisteuern können, einer solchen Klima-Task-Force gut tun?

 

Ein Plädoyer für mehr intellektuelle Vielfalt

Man kann nur spekulieren, aber vielleicht hätte die Berufung zum Beispiel eines Wirtschaftswissenschaftlers in den Pandemiestab zu einer grundsätzlich anderen Herangehensweise geführt. Denn blickt man auf die wenigen, „westlichen“ Erfolgsgeschichten dieser Pandemie – die Impfstoffbeschaffung in den USA und Großbritannien -, so stellt man fest, dass sie das Resultat von Interdisziplinarität waren. Die „Operation Warp Speed“ der US-Regierung wurde von Ökonomen beraten und von Armeegenerälen und dem ehemaligen Chef der Impfstoffentwicklung des Pharmariesen GSK geleitet. Die Johnson-Regierung entschied sich bewusst dagegen, den Vakzin-Einkauf dem Gesundheitsministerium zu überlassen und beauftragte stattdessen eine Venture-Capital-Expertin damit. 

Dies soll nicht bedeuten, dass ich der Auffassung bin, dass die Wielers, Drostens und Faucis dieser Welt ihre Regierungschef  grundlegend falsch beraten würden, oder dass ich ihre Expertise anzweifele. Ein solches Urteil steht mir nicht zu. Ich stelle lediglich fest, dass der Maßnahmenkatalog zur Pandemiebekämpfung bisher äußerst kurz ausgefallen ist und wir weiterhin von Lockdown zu Lockdown driften, in der Hoffnung, dass es die Impfkampagne schon richten wird. Gleichzeitig gibt es allerdings schon seit Beginn der Pandemie reichlich Ideen und Vorschläge, wie wir uns langfristig mit Sars-Cov-2 arrangieren könnten, ohne das Gesundheitssystem zu überfordern, ohne schwindelerregende Todeszahlen in Kauf zu nehmen und mit möglichst geringen sozialen und wirtschaftlichen Kosten aufgrund von Kontaktbeschränkungen.

Diese Ideen (eine wurde eingangs erwähnt) sind keine Selbstläufer und sicherlich nicht einfach in der Umsetzung. Dass sie anscheinend nicht einmal erwogen werden, deutet daraufhin, dass die Politik und ihre Berater sich auf einer gedanklichen Einbahnstraße befinden. Mehr intellektuelle Vielfalt würde sicherlich nicht schaden.

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