Rezension

Das Experiment sind wir

01.04.2021 - Nikolai Luber

"Unsere Welt verändert sich so atemberaubend schnell, dass wir von Krise zu Krise taumeln. Wir müssen lernen, diese enorme Beschleunigung zu lenken." (aus dem Covertext des Buches)

Ein Blick in die Umschlaginnenseiten des Buches zeigt, worum es geht: Dort sind 24 farbige Diagramme abgebildet. Jedes Diagramm stellt die Entwicklung einer bestimmten Messgröße in den letzten 270 Jahren als Kurve dar. Die Messgrößen sind z.B. Weltbevölkerung, Energieverbrauch, Verkehr oder Fischfang. Und die meisten Kurven entwickeln sich erstaunlich ähnlich: Von 1750 bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändern sie sich kaum, verharren nahe bei Null. Danach steigen die meisten Kurven zunächst mäßig und seit 1950 plötzlich sprunghaft, ja geradezu explosionsartig an. Mit diesen Diagrammen will Stöcker verdeutlichen, was unsere jüngste Vergangenheit und unsere Zukunft bestimmt: Die Exponentialfunktion.

 

Die Exponentialfunktion

Durch Corona ist die Exponentialfunktion zwar aus der Ecke der Wissenschaft stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Aber Stöcker bescheinigt dem Menschen ein erstaunliches Defizit, exponentielle Entwicklungen kognitiv zu erfassen. Was sie bedeuten, geht nicht in unsere Köpfe. Stöcker versucht es mit zwei Gedankenexperimenten: Die berühmte Geschichte vom Erfinder des Schachspiels, der als Lohn vom König für das erste Feld des Schachbretts ein Reiskorn und für jedes weitere Feld doppelt so viele Reiskörner erbat. Der König mag zunächst gelächelt haben – zu bescheiden klang der Wunsch. Doch für die Berechnung der gesamten Menge Reis benötigten seine Mathematiker Tage: Auf dem letzten Feld hätten mehrere hundert Milliarden Tonnen Reis gelegen. Ähnlich unbegreiflich ist die Vorstellung, was passiert, wenn ein Mensch „exponentielle“ Schritte macht: Wie weit käme jemand, dessen Schrittlänge sich mit jedem Schritt verdoppelt mit nur 30 Schritten? Ergebnis: Er hätte den Erdball fast 30 Mal umrundet!

Für Stöcker ist die Exponentialfunktion das zentrale Prinzip, das wir verstehen, lenken und formen müssen, um zu überleben - und im Idealfall allen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Stöcker ist Professor für „Digitale Kommunikation“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und schreibt für den Spiegel in seiner Kolumne „Der Rationalist“ mit Überschriften wie „Die Natur kennt keine Kompromisse“.

 

Science-Fiction und Nerds

„Das Experiment sind wir“ ist spannend zu lesen und es gibt Stellen, da kommt einem das Buch eher als Science-Fiction denn als Sachbuch vor. Das ist kein Zufall, denn Stöcker selbst hält viele Ideen der Science-Fiction für wegweisend. Er erläutert, dass führende Unternehmer wie der Tesla-Gründer Elon Musk Ideen des Science-Fiction-Autors Iain M. Banks nicht bloß als interessante Lektüre ansehen, sondern als Gebrauchsanleitung für die Zukunft. Und nicht nur für Nerds hat Science-Fiction realweltliche Konsequenzen, sondern für uns alle: Wir sprechen zum Beispiel mit Alexa und Siri heute wie Captain Kirk in der TV-Serie „Raumschiff Enterprise“ mit dem Bord-Computer. Nach Ansicht von Stöcker sind es die Nerds, die Zukunftstechnologien gestalten und damit maßgeblich bestimmen, wie unser Leben morgen aussehen wird.

Welche Zukunftstechnologien schon heute verfügbar sind und wie sie unser Leben verändern können, beschreibt Stöcker immer wieder anschaulich – teils in kurzen Exkursen, teils in ganzen Kapiteln. So erläutert er, dass es mittels CRISPR/Cas9 möglich ist, DNA-Stränge in lebenden Organismen zu ändern. DNA ist Code und Code kann zu DNA werden - eine durchaus beunruhigende Entwicklung. Ebenso wie die Idee einer künstlichen Superintelligenz. Im Kapitel „Erwachende Götter“ erzählt er, wie es in überraschend kurzer Zeit gelang, selbstlernende Programme zu entwickeln, die den Menschen im Brettspiel Go schlagen - obwohl das erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt erwartet wurde. Stöcker sieht durchaus  das Risiko, dass wir uns auf Maschinen verlassen, auf Algorithmen, deren Funktion wir nicht mehr verstehen. Doch: Schlecht muss das für ihn nicht sein, im Gegenteil: Wenn Maschinen uns zeigen können, wie wir besser Go spielen, können sie uns vielleicht auch zeigen, wie wir Klimawandel und Krebs bekämpfen. Das klingt gut aber ganz so positiv lässt Stöcker die selbst lernenden Maschinen doch nicht stehen. Er verweist auf Experten, wie Bill Gates oder Stephen Hawkings, die die Idee einer gottgleichen künstlichen Intelligenz als plausibles Zukunftsszenario betrachten – und als Bedrohung, welche die Menschheit dominieren oder auslöschen könnte. Es klingt ein wenig wie in den Science-Fiction-Filmen „Terminator“ oder „Matrix“.

 

Zerstörung und Erkenntnis

Vieles, was Stöcker beschreibt, macht Angst. Angefangen bei den eingangs beschriebenen bunten Diagrammen streut Stöcker immer wieder beunruhigende Fakten ein, wie sehr wir unseren Planeten bereits zerstört haben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Menschheit sich mit zunehmender Geschwindigkeit auf die selbst verursachte Zerstörung zubewegt. Stöcker zeigt zwar auch einige positive Entwicklungen auf: Die Kindersterblichkeit ist gesunken und die Zahl der Menschen, die lesen können, gestiegen. Aber diese Beispiele klingen ein wenig wie der Tropfen auf dem heißen Stein. Insgesamt hält Stöcker fest: Unsere zerstörerische Macht wächst stets schneller als die wissenschaftliche Erkenntnis, dass wir selbst die Zerstörer sind – bis heute.

Und genau in dieser Erkenntnis sieht Stöcker eine große Chance: Die Zerstörung hat uns Menschen im reichen Westen der Welt für lange Zeit Wohlstand und Bequemlichkeit gebracht. Aber Stöcker sieht den Zeitpunkt gekommen, das wir uns vom Dogma des immer Mehr verabschieden müssen und auch können. Die Annahme, dass Menschen grundsätzlich immer mehr wollen, war nach Stöcker in den letzten 250 Jahren ein durchaus tragfähiges Konzept, denn mehr zu haben bedeutete grundsätzlich bessere Überlebenschancen. Doch in der Gegenwart ist das immer mehr haben wollen mittlerweile zum Selbstzweck verkommen und vielen dämmert die Erkenntnis, dass man sich nicht glücklichen kaufen kann.

 

Zauberer und Propheten

Um uns zu retten, brauchen wir nach Stöcker Zauberer und Propheten zugleich. Wir müssen mehrere Änderungen in Angriff nehmen. Wir sollten vorsichtiger werden aber nicht weniger innovativ.

Propheten: Wir müssen ein Welt- und Selbstbild entwickeln, das nicht durch immer mehr Konsum und Besitz definiert wird, sondern durch Bildung, Zufriedenheit, Kultur und gesellschaftliche Teilhabe. Dann können wir uns auch auf niedriges oder sogar schrumpfendes Wachstum einstellen und gut damit leben. Für die Menschen im Weltnorden sieht Stöcker gute Chancen: Hier wünschten sich inzwischen die meisten statt des Immer Mehr Habens lieber Gesundheit, Sicherheit, einen gewissen Wohlstand und Zeit.

Zauberer: Stöcker sieht großes Potential durch wissenschaftlich-technische Innovationen. Nur die Exponentialfunktion kann uns retten – so sein letztes Kapitel. Und meint damit das exponentielle Wachstum von Wissen und Erkenntnis. Mit Innovationen könnten wir dafür sorgen, dass für alle Menschen ein lebenswertes Leben möglich ist – mit geringem Ressourcenverbrauch und wenig CO2-Ausstoß. Er führt eine Fülle von Beispielen an, wie gentechnisch optimierte Pflanzen, die einerseits CO2 speichern, andererseits eine Weltbevölkerung von 11 Milliarden ernähren, oder Photovoltaik-Zellen, die durch maschinelles Lernen zukünftig weit effizienter sein würden.

 

Faszination und Sorge

Stöckers Buch fasziniert und beunruhigt zugleich. Es liest sich spannend und erkenntnisreich. Die vielen Beispiele und Exkurse geben einen guten Einblick in aktuelle wissenschaftlich-technische Entwicklungen. Stöcker lässt uns durch sein Buch verstehen, wie sehr wir uns selbst gefährden. Und er zeigt Ansätze, wie wir uns vielleicht auch selbst retten können. Die Sorge um unsere Zukunft vermag er aber auch mit Zauberern und Propheten nicht zu zerstreuen. Vieles, was er beschreibt klingt, als sei es für eine Umkehr schon zu spät, ebenso sein Schlusswort: Die Evolution wird uns Menschen nicht retten, allenfalls aussortieren. Retten müssen wir uns selbst. Ob das gelingt?

 

Christian Stöcker: Das Experiment sind wir. Blessing Verlag, München, 384 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-89667-677-1

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