Ausgabe #167

Das Leben ist ein Nebel

01.11.2021 - Olivia Haese

Liebe Autorinnen und Autoren, liebe Leserinnen und Leser,

wo befindet sich das Glück, das Sie suchen?

In meinem Leserbrief vom letzten Juli hatte ich mich darüber beklagt, dass mir das gesellschaftlich allgegenwärtige und unterbewusst-einprogrammierte "Streben nach Glück" wie ein leeres Versprechen vorkommt. Eine zielorientierte Sichtweise, die dafür sorgt, dass wir unser ganzes Leben lang im Verfolgungsmodus stecken bleiben. Was genau verfolgen wir eigentlich, wenn wir morgens aufstehen und in den Tag gehen? Wo suchen wir es, warum wollen wir es und vor allem, ist die Suche es wert?

"Alles ist vergänglich und vergeblich, sagte der Prediger, nichts hat Bestand, ja, alles ist vergebliche Mühe!" heißt es im alttestamentlichen Buch der Prediger. Das Leben wird dort mit dem hebräischen Wort הָ֫בֶל ("Hebel") beschrieben, das so viel wie Dunst oder Nebel bedeutet. Das Leben sei also wie etwa der Rauch einer Zigarre: schwer zu fassen, undefinierbar; außerdem vergänglich, unzuverlässig.

Nichts in dieser Welt ist beständig genug, dass wir uns darauf stützen können. Beziehungen können von einem Tag auf den anderen auseinanderbrechen. Menschen können von heute auf morgen diese Welt verlassen. Unsere Gesundheit und unser Besitz kann von uns reguliert, aber schlussendlich niemals kontrolliert werden. Sollten wir Erfolg erreichen, kann uns dieser innerhalb kurzer Zeit zu Kopf steigen, uns gierig, arrogant und noch unzufriedener machen.

In jedem weltlichen Erfolg liegt ein gewisser Fluch: Nicht nur sind die Anstrengungen, die wir in diesem Leben unternehmen, letztendlich nicht erfüllend, sondern wohnt ihnen auch auch der Beigeschmack inne, dass alles, was wir in unseren Händen halten, jederzeit wieder verschwinden könnte.

Der Überlebensimpuls, den wir für uns selbst und unsere Familienmitglieder haben, überschattet oft die grundlegende Frage nach dem Sinn unseres täglichen Strebens. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er sich an seine Umgebung und die Erwartungen, die er an die Zukunft stellt, klammert.

Sicherlich ist es mehr als bedauerlich, dass der ständige Kampf des Menschen, sich selbst zu erhalten und im Leben voranzukommen, genau das ist, was andere Menschen und größere Systeme zu ihrem egoistischen Vorteil ausnutzen können. Es ist zu beobachten, dass Unternehmen versuchen, uns glauben zu machen, dass das Glück "da draußen" liegt, zum Beispiel in unserem bevorstehenden Urlaub, in unserer nächsten beruflichen Beförderung oder in unserem "optimierten" Selbst. So bleiben wir auf diese Weise nützlich für mächtigere Personen, die von der menschlichen Schwäche anderer profitieren. Wie könnte dieser Kreislauf durchbrochen werden?

Liegt also nicht eine gewisse Freiheit darin, zu erkennen, wie sinnlos dieses weltliche Spiel ist? Wenn wir alle zu Staub werden, wenn wir nichts zu verlieren haben, gibt uns das nicht die Chance, Mut zu fassen und über das hinauszublicken, was hinter dieser Welt liegt?

Das Leben ist wie ein Nebel, es lässt sich nicht fassen, nicht beherrschen. Es nimmt von allein andere Formen an, ohne uns jemals wahren Rückhalt zu gebieten. Und so scheint es mir, dass wir Bedeutung und Ziel unserer Existenzen nur finden können, wenn wir uns die Unbeständigkeit dieser Welt eingestehen.

Die Artikel unserer neuen Ausgabe befassen sich wieder mit einem breiten Spektrum der für das menschliche Dasein relevanten Themengebiete. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und einen segensreichen neuen Monat.

Beste Grüße,
Olivia Haese

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