Déborah Rosenkranz: "Mein Arzt sagte, dass ich sterben würde"
15.06.2017 -Magersucht-Patienten werden immer jünger und zahlreicher. Kinder hungern sich in ihrem Schlankheitswahn in Todesnähe, um einem falschen Schönheitsideal gerecht zu werden. DAS MILIEU sprach mit der Sängerin Déborah Rosenkranz, die im Alter von 14 Jahren an Magersucht und später an Bulimie erkrankte, über ihre persönlichen Erfahrungen und der Rolle ihres Glaubens im Heilungsprozess.
DAS MILIEU: Mit 14 Jahren sind Sie an Magersucht erkrankt, später an Bulimie. Sie litten sieben Jahre daran. Ein Auslöser soll unter anderem die Aussage Ihres Schwarms gewesen sein, der Sie als „fett“ bezeichnete. Denken Sie heute, Sie wären auch ohne diese verletzende Aussage erkrankt?
Déborah Rosenkranz: Ich glaube wirklich, dass das für mich persönlich der Auslöser gewesen ist. Ich habe natürlich vorher schon immer wieder mal gehört: „Ach, Dickerchen kommt.“ Mir war bewusst, dass ich fülliger bin als andere Mädchen. Aber das hatte mich bis dahin nie gestört, weil ich mich immer geliebt gefühlt habe, gerade von meiner Familie. Ich habe eine fantastische Familie. Als allerdings ausgerechnet mein damaliger Schwarm diesen Satz gesagt hat, hat es mir in jener Zeit vermittelt, dass ich nicht als Frau wahrgenommen werde, dass ich nie einen Freund haben werde, wenn ich nicht aussehe wie die anderen. Ich glaube auch nicht, dass ich sonst in eine Magersucht gerutscht wäre – das ist eine ganz spannende Frage. Diese Kombination von Verliebtheit zu einem Jungen, den ich so bewunderte und dem ich gefallen wollte, und der Erkenntnis, dass das von meinem Äußeren abhängig ist, hat mich krank gemacht. In dem Alter versteht man da natürlich noch nicht, dass da ganz andere Werte eine Rolle spielen.
MILIEU: Obwohl Sie ein recht stabiles Umfeld hatten, also eine fürsorgliche Familie, gute Freunde und Bekannte, sind Sie erkrankt. Woran liegt es, dass einige Mädchen erkranken und andere nicht?
Rosenkranz: Der Grund ist so individuell, dass er nicht greifbar ist. Und das ist das Tragische an dieser Erkrankung, da man sonst natürlich viel schneller helfen könnte. Ich hatte damals alles. Ich war eine super Schülerin, ich wurde für meinen Sport, meine Leistung dort anerkannt. Aber genau das ist es ja: Ich kann es bei mir selbst nicht greifen. Es war tatsächlich „nur“ dieses Verliebtsein, dieses Erkennen, dass ich dicker bin als andere und dass man als Frau nur geliebt werden würde, wenn man schlank ist. Und zeitgleich war in den Medien Kate Moss zu sehen, die den Satz gesagt hatte: „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt.“ Und da dachte ich mir: „Okay, das wird jetzt mein Leitspruch für die nächste Zeit.“
Wir wissen ja, Worte haben Macht. Dieser eine Satz von meinem Schwarm hat mich fast mein Leben gekostet. Dieser Satz von Kate Moss war spannender Weise immer wieder, wenn ich in Versuchung kam, etwas essen zu wollen, präsent: „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt.“ Ich will lieber schlank sein. Dieser Satz hat mir geholfen. So schlimm das klingt.
MILIEU: In dieser Phase haben Sie zum Teil nur einen halben Apfel am Tag gegessen. Gab es Menschen, von denen Sie sich in dieser Zeit verstanden fühlten oder hatten Sie sich von Ihrem Umfeld komplett entfremdet?
Rosenkranz: Meine Mutter war natürlich verzweifelt. Sie hat versucht, mich zum Essen zu bringen. Das ist immer in Streit und Krise ausgeartet. Ich saß manchmal mit meiner Familie mit am Tisch, habe das Essen in den Mund genommen, mir den Mund mit der Serviette abgewischt und das Essen sofort wieder ausgespuckt. Keiner hat gemerkt, dass ich davon eigentlich gar nichts herunterschlucke. Von daher, nein, ich habe mich nicht verstanden gefühlt. Ich dachte: „Die wollen mich nur wieder fett machen.“ Die einzigen, denen ich vertraut habe, waren meine damaligen besten Freundinnen, Zwillinge. Die haben mich absolut in Ruhe gelassen. Ich konnte bei ihnen sein, wie ich war. Ich konnte einfach den ganzen Tag nichts essen. Die haben sich trotzdem Pizza und anderes Essen reingestopft. Und das hat mir das Gefühl gegeben, die finden mich in Ordnung, ich kann hier sein, wie ich bin und die wollen mich trotzdem als Freundin. Und das war wirklich sehr hilfreich. Als ich schlussendlich soweit war, darüber zu sprechen, bin ich als erstes zu ihnen und habe mit ihnen gesprochen.
Die Freunde können auch gar nichts Richtiges sagen oder tun. Wenn die betroffene Erkrankte darüber nicht reden möchte, ist das unmöglich, sie umzustimmen.
MILIEU: Sie schreiben, dass es Sie früher aufgeregt hatte, wenn Menschen zu Ihnen sagten: „Iss doch was“. Was ist das größte Vorurteil gegenüber an Magersucht oder Bulimie erkrankten Mädchen?
Rosenkranz: Am meisten hat es mich wirklich gestört, dass ich ständig angesprochen worden bin und behandelt wurde, wie jemand, der keine Ahnung hat. Ja, so ein bisschen wie ein Dummchen. Dabei sind magersüchtige Menschen unglaublich nett und intelligent. Mir hat später mal ein Musikmanager gesagt, dass er mit mir arbeiten möchte, weil ich magersüchtig war. Das zeigte ihm, dass ich alles erreichen werde, was ich mir vornehme. Das war zwar eine sehr krasse Aussage, aber ich muss sagen, er hatte in gewisser Weise Recht. Man setzt sich als Magersüchtige sein Ziel und zieht es durch, komme was wolle. Das ist dann verbunden mit viel aggressivem Handeln, mit viel Türe-Zuschlagen und meinen Eltern sagen: „Ich hasse euch. Lasst mich endlich in Ruhe.“ Einfach weil ich hilflos war.
Ich habe sie natürlich nie gehasst, aber es war leichter, sie so auf Distanz zu halten. Das Vorurteil „Sie weiß nicht, was sie tut“, stört mich. Ich war unglaublich diszipliniert und ich wusste ganz ganz ganz genau, was ich tue. Und ich wusste, dass ich morgen noch ein paar Gramm weniger wiegen würde. Und genau das wollte ich. Ein gesunder Mensch denkt sich: „Oh Mann, du solltest echt mal zunehmen. Oder einfach das Gewicht halten, würde schon reichen.“ Aber das Ziel einer Kranken ist es ja, am nächsten Tag nochmal ein halbes Kilo abzunehmen. Das kollidiert und dann entstehen natürlich die Vorurteile.
MILIEU: Sie schreiben, dass Sie heute einen starken Kontakt zu Mädchen mit Essstörungen haben, um Ihnen da raus zu helfen. Im Kontext der Romanverfilmung „Die Stadt der Blinden“ fällt ein Satz, den ich besonders einprägsam fand. „Schlimmer als zu erblinden, ist es, als Einzige sehen zu können.“ Wie nehmen Sie als wieder Gesunde den Zustand der erkrankten Mädchen wahr?
Rosenkranz: An ein Erlebnis kann ich mich besonders gut erinnern. Ich war mit einer magersüchtigen Betroffenen in der Stadt, weil wir ins Kino wollten. Sie drehte sich zu mir und sagte: „Déborah, das ist für mich viel wertvoller als stundenlange Gespräche mit einem Psychologen. Weil ich dir nicht viel erklären muss. Du weißt genau, was ich meine, wenn ich nur einen Satz sage.“ Das stimmt.
Ich bin vollkommen geheilt, aber ich kann nach wie vor die gesamten Gedankengänge nachvollziehen. Ich habe mich von diesen kranken Gedankengängen absolut distanziert, weil sie mich nicht nur sieben Lebensjahre gekostet haben, sondern auch sehr viel Freude, sehr viele wertvollen Momente. Das war die Zeit, in der man eigentlich den ersten Freund hat. Diese ganze Phase habe ich absolut verpasst. Im Gegenteil, ich musste mit meinem Körper kämpfen, ich wusste nicht, ob ich je Kinder bekommen könnte, weil ich meine Tage nicht mehr hatte. Und ich musste sehr viel erwachsener reagieren.
Ich habe mittlerweile täglich mit magersüchtigen Mädchen zu tun. In meinen Auftritten singe ich Songs über das Thema und erzähle meine Geschichte. Das sind sehr emotionale Abende und ich bekomme daraufhin sehr viele Zuschriften. Das ist unglaublich. Es gibt Momente, in denen ich auch nicht stark bin, in denen ich in meinem Bett liege, weine und denke: Da sitzt jetzt ein Mädchen und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Und ich weiß noch wie das war, als ich das nachts gemacht habe und dachte: Mich sieht keiner, mich hört keiner, am besten bringe ich mich um.
Dann sitze ich vor meinem Computer und die Mädchen schreiben mir genau das. Und ich bin in dieser Situation mit ihnen drin. Es fällt mir natürlich schwer, nicht zu antworten, aber es ist unmöglich, allen zu antworten und da bin ich ab und zu in diesem Kampf. Und teilweise denke ich mir: „Och Mann, jetzt iss doch einfach.“ So wie andere früher mit mir gesprochen haben, auch wenn ich weiß, dass das absolut falsch ist. Ich bin so geheilt, dass ich manchmal echt denke: „Es wäre so leicht.“ Bei manchen Mädchen spüre ich, dass es hilft, wenn ich mich etwas mehr um sie kümmere und mache es dann.
Besonders effektiv ist die Unterstützung von Mädchen, die ich per WhatsApp begleite. Also einfach so. Die schreiben mir: „Was hast du damals zum Frühstück gegessen?“ Und dann schreibe ich ihnen zurück. Die machen das und das sind Mädchen, die mittlerweile gesund sind. Ein Mädchen, das in der Schule missbraucht wurde, hat sich in der Garage versteckt, ist nicht mehr in die Schule gegangen, hat sich die Arme aufgeritzt und ist magersüchtig geworden und ins Koma gefallen. Im Krankenhaus hat ihr jemand mein Buch geschenkt und sie hat mir daraufhin geschrieben. Mit einem anderen Mädchen hatte ich einen Auftritt mit mir organisiert und drei Tage später schrieb sie mir: „Wärst du nicht gekommen, hätte ich mir das Leben genommen. Aber an diesem einen Tag habe ich die Entscheidung getroffen, gesund werden zu wollen.“
Das ist jetzt eineinhalb Jahre her, sie hat zugenommen und ist total gesund. Meine Message ist: Ich war genau wie ihr, ihr könnt das auch schaffen.
MILIEU: Es ist also mit einer sehr großen Verantwortung verbunden, wenn man selber „blind“ war und dann „sehen“ kann. Auf der anderen Seite hat das ja auch etwas Schönes, dass man zu anderen einen besonderen Zugang besitzt und helfen kann.
Rosenkranz: Genau. Mein Traum von einem Ort, an dem Mädchen die gleiche Hilfe bekommen, habe ich durch die Gründung von Power2Be verwirklicht.
MILIEU: Viele Menschen, insbesondere junge Frauen, haben ein Problem damit, sich und ihren Körper zu lieben. Studien zufolge fragen sich Frauen sehr häufig am Tag, wie ihr Äußeres auf andere wirkt. Ist es möglich, authentisch zu sein, wenn wir perfekt wirken wollen? Mussten Sie da auch erkennen, dass es wichtig ist, dass wir nicht perfekt sein können?
Rosenkranz: Ich war nie so unglücklich wie zu dem Zeitpunkt, als ich dachte: „Jetzt habe ich das Gewicht erreicht, was ich will.“ In dem Moment damals sind mir die Augen geöffnet worden. Ich dachte: „Ja, aber das bin ich ja gar nicht!“ Als ich mit meinen 47 kg vor dem Spiegel stand, habe ich losgeheult und gedacht: „Was ist, wenn du (das Thema Männer oder Jungs war ja in dem Alter sehr aktuell) jetzt deinen Traummann kennenlernst, der wird ja gar nicht die wahre Déborah kennenlernen.“ Auch meine Mutter hat gesagt: „Wo ist meine Tochter hin? Ich sehne mich nach der echten Déborah.“ Und ich wusste, dass sie da wirklich die Wahrheit ausspricht, weil ich – und ich bin ja eigentlich ein sehr lebensfroher, lauter Mensch – förmlich das Gefühl hatte, meine Seele hätte gar keinen Platz in diesem abgemagerten Körper.
Das hat mich so unglücklich gemacht, dass ich dachte: Eigentlich wäre ich wieder lieber „Ich“. Ich habe immer fülligere Frauen angeschaut und mir gedacht: Wenn die wüssten, was für ein Glück die haben. Die können sie selbst sein, lachen und wir Dünnen müssen immer darauf achten, dass wir dünn bleiben. Das waren meine Gedankengänge. Es war ein riesiger Kampf für mich. Ein Kilo zuzunehmen, war für mich unglaublich schlimm. Und wenn ich dann ein Kilo mehr wog, empfand ich mich als fülliger und dachte mir, wieder abzunehmen wäre nicht mehr schlimm. Solche Gedanken hatte ich.
Auch der Gedanke, dass schlanke Frauen nur für ihren Körper geliebt werden, war da. So sehe ich das heute auch, mit dem Gewicht, das ich haben sollte, mit dem ich mich absolut wohlfühle. Ich habe heute wieder das, was man als Kind über mich gesagt hat: „Boah, dein Lächeln! Deine Ausstrahlung kommt von innen, das sieht man nicht so oft.“ Das ist mir mehr wert, als dass Leute zu mir sagen: „Boah, ich finde deinen Körper toll.“
Ich glaube, mein verändertes Denken gehört auch zur persönlichen Reife und Lebenserfahrung. Sich als Frau selbst zu finden, ist natürlich etwas sehr Wichtiges. Es ist wichtig zu sehen, dass es nichts mit dem Körper zu tun hat. Und wenn irgendein Mann dir so etwas einredet, dann ist er nicht der Richtige.
MILIEU: Kinder schaffen es oft, sich vom Blick der Anderen freizumachen. Was haben sie, was wir nicht haben?
Rosenkranz: Es ist sehr wichtig, was man als Kind von seinem Umfeld mitbekommt, gerade von seinen Eltern. Jemand, der überschüttet wurde mit Liebe und mit Worten wie: „Du bist gut, so wie du bist und du bist so gewollt, du musst dich gar nicht verändern“, hat es gut. Ich konnte mit der Note 5 nach Hause kommen und es war kein Drama. Ich sollte einfach versuchen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Mit dieser Prägung bin ich aufgewachsen.
Viele Betroffene sagen mir: „Meine Eltern haben mir noch nie gesagt, dass sie mich lieb haben.“ Mädchen, die missbraucht wurden und Mädchen, die einfach nicht wissen, dass sie wertvoll sind. Ich glaube, dass man das als Kleinkind noch öfter mal von den Eltern hört und Eltern dann im Teenie-Alter überfordert sind oder ihre eigenen Probleme haben.
Auch Kinder untereinander sind bis zu einem gewissen Alter sehr gehässig und achten nicht darauf, wie sie andere verletzen: „Oh die ist fett, die passt mir nicht, mit der spiele ich nicht.“ Dass Kinder an Essstörungen erkranken, passiert meist erst so mit 11/12. Ist ja auch früh genug. Ich gehe auch oft in Schulen und früher war das erst ab 14/15 ein Thema. Heute spreche ich mit 12-jährigen. Das ist schon echt traurig. Ich glaube, dass es sehr viel damit zu tun hat, was man von klein auf mitbekommt. Wir zum Beispiel haben immer zusammen gegessen, mittags und abends. Das passiert heute nicht mehr in Familien. Viele wissen gar nicht mehr, was richtiges Essen ist. Und dann fangen sie an Schokolade in sich reinzustopfen, wundern sich, dass sie dick werden und denken dann: Dann darf ich halt gar nichts mehr essen. An wen wendet man sich dann? Das ist die große Frage.
MILIEU: Fällt es Menschen, die sich selbst nicht lieben können, schwer, Lob und Liebe von anderen anzunehmen?
Rosenkranz: Es gibt zwei verschiedene Sorten von Menschen. Es gibt die einen, die – ich merke es gerade nach meinen Auftritten, wo ich über meine Zerbrochenheit spreche und darüber, wie ich herauskommen konnte – nur eine Umarmung wollen.
Ich bin immer überrascht, wenn die Mädchen an meinen Verkaufstischen Schlange stehen und den Eindruck vermitteln, sie würden die Tische leer kaufen, aber dann wirklich nur eine Umarmung möchten. Dann stehe ich da und umarme ein Mädchen nach dem anderen. Die weinen in meinen Armen und sagen: „Das habe ich schon so lange nicht mehr bekommen.“ Sie gehen danach mit einer Stärke und einem Wissen nach Hause, dass sie etwas an ihrem Leben ändern müssen. Sie haben auch die Kraft dazu und lassen sich in eine Klinik einweisen oder ändern sich anderweitig.
Und dann gibt es die Sorte von Mädchen, die zwar immer kommen, denen ich auch versuche Komplimente zu machen und ähnliches, die aber nichts annehmen können. Die saugen einen ganz bewusst aus, weil es ihr Schrei nach Aufmerksamkeit ist. Sie suchen in den Sozialen Medien immer meinen Kontakt, meine Aufmerksamkeit. Nicht, weil sie jetzt wirklich Hilfe suchen, sondern weil sie wollen, dass alle irgendwie reagieren. Das ist als schreit jemand: „Ich bringe mich um.“
Dieser Mensch möchte, dass alle reagieren, dass alle sie sehen und merken: Okay, durch meine Krankheit bekomme ich Aufmerksamkeit. Ich werde nicht gesund, sondern behalte mir das. Diese Sorte von Menschen sind sehr gefährlich. Es ist sehr hart, dort etwas Gutes herauszuholen.
MILIEU: Wie kann man das da schaffen? Ist es als außenstehende Person nicht möglich
Rosenkranz: Am besten ist es wirklich, diese Aufmerksamkeiten nicht mehr zu geben, wenn sie deine Hilfe nicht annehmen. Es gab Mädchen, zu denen ich gesagt habe, dass sie gar nicht mehr zu meinen Auftritten kommen brauchen: „Ich werde nicht mehr mit euch reden, ich gebe euch keine Aufmerksamkeit mehr. Entweder holt ihr euch Hilfe oder ich werde nichts mehr für euch tun.“ Ich habe aktuell so ein Mädchen, mit dem ich in Kontakt bin.
Es ist endlich in eine Klinik gereist und schrieb mir von dort aus, dass ich richtig reagiert habe, dass es das war, was sie gebraucht hat. Ich war ziemlich überrascht, das zu sehen, weil es mir schwer fällt, so hart zu sein. Ich heule dann selber innerlich, aber es wichtig zu sagen: „Von mir kriegst du die Aufmerksamkeit nicht.“ Andererseits schade ich ihr nur. Sie wird sich weiter den Finger in den Hals stecken und das ganze Spiel geht dann endlos weiter.
MILIEU: Sie sagen, dass Sie besondere Gotteserfahrungen gemacht haben, die für Ihre Genesung wichtig waren. Was genau ist passiert?
Rosenkranz: Zu der Zeit war ich einen Tag vorher beim Arzt. Ich hatte körperlich bereits gespürt, dass es bei mir absolut bergab geht. Mir sind die Haare ausgefallen, ich habe auch im Hochsommer fünf Pullover tragen müssen, weil mir immer eiskalt war. Wie gesagt, meine Tage hatte ich nicht mehr. Ich war extrem depressiv. Und Kopfschmerzen hatte ich non-stop. Mein linkes Bein konnte ich nicht mehr bewegen. Da wurde es ganz dramatisch und ich habe jeden Tag Spritzen bekommen. Und eines Tages bin ich dann nochmal beim Arzt gewesen – okay ich war ständig beim Arzt – aber an dem Tag wollte er nicht mit mir persönlich sprechen, sondern nur mit meiner Mutter. Dann blieb ich draußen, aber die Tür blieb einen Spalt weit offen und ich habe gehört, wie mein Arzt zu meiner Mutter sagte: „Es tut mir wirklich Leid, Frau Rosenkranz, aber aus medizinischer Sicht müssen wir hier aufgeben. Wir können ihrer Tochter nicht mehr helfen und sie wird in den kommenden Wochen sterben.“ Und das war natürlich ein Satz, den ich nicht hören wollte.
Da habe ich gemerkt, dass er wohl Recht hatte, mit dem, was er sagt, weil ich es einfach körperlich gespürt habe. Ich bin dann zwei Wochen darauf verbotenerweise nachts auf ein Konzert gegangen. Meine Eltern haben mich ja nicht mehr aus dem Haus gelassen. Ich wurde ständig ohnmächtig, wenn ich raus bin. Ich habe mich dann heimlich rausgeschlichen. Das Konzert war schrecklich, was man sich vorstellen kann. Ich war wie ein Skelett, stand da und jeder hat mich angerempelt. Es war furchtbar. Als ich gegen 2:00 Uhr morgens nach Hause kam, wollte ich mich natürlich am Schlafzimmer meiner Eltern vorbeischleichen und da habe ich gehört, dass sie wach waren und laut weinten. Ich habe zuerst gedacht, irgendjemand wäre gestorben. Und dann höre ich meine eigene Mutter sagen: „Wir können ja schon einen Sarg für Déborah bestellen. Unsere Tochter wird sterben.“ Das traf direkt ins Herz. Ich bin vor der Tür zusammengebrochen, weil ich wusste, dass sie Recht hat. Ich habe so geheult und dann hat mein Vater geantwortet: „Nein. Wir müssen weiter für unsere Tochter beten. Unsere Tochter wird leben.“
Das war für mich so unglaublich. Wie konnte er so was sagen? Der Arzt hat doch gesagt, dass ich sterbe. Ich wusste es ja auch, ich habe es gespürt. Und dann haben sie angefangen, in diesem Zimmer zu beten und das war etwas Wunderschönes und so authentisch. Sie haben Rotz und Wasser geheult und da waren lauter Fragezeichen für mich in ihrem Gebet: Gibt es Gott überhaupt, hört er unsere Gebete? Und wieso hat Er das überhaupt zugelassen? Und gleichzeitig diese Gedanken: Wir wollen glauben, dass Wunder geschehen. Wir wollen glauben, dass es Gott gibt. Und irgendwie habe ich das alles verspürt. Das war wie so ein Waschmaschinen-Schleudergang und es kam so eine Hoffnung, gerade eben, weil alle mich zuvor aufgegeben hatten. Und dann liegen deine Eltern mitten in der Nacht weinend im Bett und beten für dich. Das war so eine Liebe.
Da dachte ich: „Okay. Wenn sie das glauben können, will ich das auch glauben. Das ist meine letzte Hoffnung.“ Und da habe ich wohl die wertvollste Entscheidung meines Lebens getroffen, nämlich die Tür aufzumachen. Man kann sich ja vorstellen, nach jahrelangem: „Ich hasse euch. Lasst mich in Ruhe“, stand ich plötzlich im Zimmer mitten in der Nacht und habe gesagt: „Mama, Papa, ich will gesund werden. Ich brauche eure Hilfe.“ Das war echt krass. Es war mein absolutes Schlüsselerlebnis. Ab da habe ich am nächsten Tag natürlich nicht ein Kilo mehr gewogen, aber es begann der Prozess des Gesundwerdens. Ich hörte: „Wir holen uns Hilfe, wir kochen anders, wir sind für dich da.“ Da waren sie unglaublich, meine ganze Familie war 24 Stunden am Tag für mich da. Und das war natürlich keine leichte Phase. Schon allein ein Glas Wasser am Stück zu trinken, war für meinen Magen viel zu viel. Da hatte ich tagelang Schmerzen, aber sie haben mir alle geholfen.
MILIEU: Wir leben in einer Zeit, die von Philosophen auch als Postmoderne bezeichnet wird. Das bedeutet, Werte werden zunehmend austauschbar, der Glaube an Gott und an ein klar definiertes Gut und Böse hätten rapide abgenommen. Nach zwei Weltkriegen sei es zu einem negativen Menschen- und Weltbild gekommen. Haben Sie ähnliche Beobachtungen gemacht? Wie kommt es, dass Sie ihren Glauben an Gott dennoch so selbstbewusst thematisieren
Rosenkranz: Der Glaube war ein sehr großer Bestandteil meiner Genesung. Ich habe tatsächlich angefangen, in der Bibel zu lesen. Ich wusste erst gar nicht, was man in der Bibel liest. Das ist doch so ein altes Buch, langweilt mich – es ist ja nicht so, dass Mose mit einer Essstörung da rumgerannt wäre. Aber ich habe damals nach Gott und Essstörungen gegoogelt und kam auf Bibelverse, die mich wirklich berührt haben. Und der erste war: „Ich bin dein Herr, der Arzt.“ Und das war für mich: Krass, mein Arzt hat mich aufgegeben. Hätte mir nicht jemand anders sagen können, dass es Gott interessiert, wie es mir geht?
Und: „Du bist mein geliebtes Kind. Ich habe dich im Mutterleib schon gesehen und geformt und habe Pläne des Heils und nicht des Unheils für dein Leben.“ Das bedeutete für mich: Da will jemand etwas Gutes. Das hat mich berührt. Ich habe ganz banal angefangen, diese Verse überall aufzuschreiben, selbst in Schulbüchern, auf dem Spiegel, und habe sie mir immer, wenn ich vor dem Spiegel stand und mich hässlich gefühlt habe, vorgelesen. Dann habe ich mir gesagt: „Nein, ich bin sein geliebtes Kind und ich bin wertvoll und er hat gute Pläne für mich.“ Und das hat mir Kraft gegeben. In der Bibel steht: „Die Wahrheit wird euch freisetzen“ und das ist so ein krasser Vers, weil das ist ja das, was ich erlebt habe.
Die Wahrheit über mich selbst ist, ich muss nicht perfekt aussehen, um geliebt zu werden. Das zu verstehen, hat mich frei gemacht. Plötzlich hatte ich keinen Drang mehr mir einen Finger in den Hals stecken zu müssen. Wieso auch? Wenn mein Körper von Gott so erschaffen worden ist, wieso sollte ich den kaputt machen? Er macht ja nichts Unperfektes, das heißt, ich bin auch perfekt. Und ich habe angefangen, so ganz banale Dinge zu verstehen.
Obwohl ich vorher dachte, die Bibel ist so langweilig, hat sie plötzlich für mich Sinn gemacht. Und das ist genau das, was ich heute während meiner Auftritte auch erzähle. Ich selbst kann für diese Mädchen nicht die Bibel aufschlagen oder immer an ihrer Seite sein, um ihnen das zu sagen. Das müssen sie persönlich machen. Weshalb ich das Ganze heute noch glaube, liegt einfach daran, dass ich verschiedenste Wunder in meinem Leben erlebt habe, dass meine Gebete angenommen wurden.
Gebete zu sprechen ist etwas ganz Einfaches, das man überall machen kann. Ich bekomme auch Feedback von vielen Mädchen, die sagen: „Hey Déborah, ich habe es so versucht wie du und das ist ja unglaublich. Ich bete und plötzlich geht es mir besser. Plötzlich schickt mir Gott Freunde, die ich brauche, um mich zu begleiten. Und da muss ja etwas Wahres dran sein.“
Dann gehen sie ihren Weg und ich muss gar nicht immer an ihrer Seite sein. Sie haben den gleichen Weg gefunden wie ich. Denn ich habe ja auch keine andere Quelle, an der ich festhalte, als meinen Glauben, dass es Gott gibt und dass er mich liebt wie ich bin. Und das ist das Wertvollste, was ich weitergeben kann. Heute mache ich vielleicht andere Phasen in meinem Leben durch, in denen ich Hilfe brauche, in denen ich genauso bete und genauso erlebe, wie Gott eingreift.
Und ich bin gerade sehr oft in Amerika unterwegs. Dort ist das Thema Glaube und Kirche sehr öffentlich. Jeder geht irgendwie in die Kirche. Jeder weiß Bescheid. Ich finde es sehr spannend, hier zu erleben, wie das Wachstum in den Kirchen stattfindet. Es sind oft diese freien evangelischen Kirchen, die ein bisschen moderneren Kirchen. Ich habe dort auch viele Auftritte. Aber ich finde es sehr spannend, weil ich dort sehe, wie die Kirchen wachsen und aus allen Nähten platzen, mit sehr jungem Publikum. Ich glaube, der Mensch sehnt sich wieder nach der Wahrheit, die einfach da war. Die damals da gewesen ist, die so normal war. Unsere Großeltern haben uns das beigebracht. Und das ist ein Wert, der verlorengegangen ist. Und ich glaube, das merkt man auch über die Generationen. Man will wieder positiv bewertet werden. Man will wieder etwas Gutes aus dem Menschen herausholen. Und man ist doch bestrebt danach, eben die Welt ein bisschen zu einem besseren Ort zu machen.
MILIEU: Sie sind Sängerin und oft auch in Amerika auf Tour. Die Amerikaner sind für ihren anderen, positiveren Umgang mit Gott und Glauben generell bekannt. Dennoch gibt es eine verbreitete Oberflächlichkeit in der Gesellschaft, eine grassierende Dekadenz und Konsumfreude. Wie ordnen Sie diese scheinbaren Widersprüche ein?
Rosenkranz: Ich kann diese Antwort natürlich nicht für alle Menschen geben. Ich kann aber die Verantwortung für mein Umfeld tragen, indem ich bestimme, wen ich in mein näheres Umfeld lasse und wen nicht. Ich denke, das ist der Schlüssel für jeden, egal was er durchmacht. In Amerika merke ich, dass ich sehr vorsichtig sein muss, mit wem ich zusammenarbeite. Gerade weil ich mit meiner Story und meiner Message dort unterwegs bin, könnten andere denken: Das könnte nur ein Business sein. Aber ich achte darauf, dass der Wert und Inhalt meiner Auftritte nicht verloren gehen. Es stimmt dennoch, dass ich mich in Amerika stärker bemühen muss, die richtigen Leute zu finden als hier. Gleichzeitig findet man sehr viel schneller Unterstützung für gemeinnützige Arbeit, gute Themen und Zwecke. Da helfen die Amerikaner sehr gerne und sehr schnell, und das ist es, was mich hier begeistert. Aber der gewöhnliche Amerikaner ist sehr kurzlebig, in dem, was ihm gerade gefällt, was er gerne macht. Dennoch ist er auch sehr begeisterungsfähig. Ich finde es hier in Deutschland sehr viel sicherer, wenn man eine Existenz aufbauen möchte. Ist gibt in Amerika eine größere Zerbrochenheit, viele Frauen, die sich sehr viel schneller operieren lassen, sehr viel mehr an ihrem Aussehen zweifeln, deswegen bin ich mit meiner Message wohl auch am richtigen Ort (lacht).
Ich durfte Tourneen begleiten von Weltstars. Nicole Scherzinger zum Beispiel hatte sich auch als Bulimie-Kranke geoutet. Ich hatte sie davor auch kennengelernt und sie hat mir das genau erzählt und mich gefragt, wie ich das mache. Ich meinte zu ihr: Therapien sind super, aber für mich war der Glaube der Schlüssel und sie hat zugehört und sie war nicht die Einzige. Ich habe mit vielen geredet, die wir eigentlich bewundern, und letztendlich ist es bei allen das Gleiche. Alle sehnen sich nach etwas, das Halt gibt. Keiner hat gesagt: „Du mit deinem Glauben, du spinnst doch!“ Bis heute habe ich Kontakt zu ihnen. Sie schätzen mich gerade dafür, als wäre das mein Reichtum.
MILIEU: Kann es sein, dass der Glaube in Amerika zwar oberflächlich weit verbreitet und selbstverständlich ist, aber eine gelebte, tiefe spirituelle Beziehung zu Gott, die im Alltag verankert ist, dennoch oft fehlt?
Rosenkranz: Ganz genau, und zwar weil das eine persönliche Entscheidung ist. Einige rennen zwar in die Kirche, weil es immer lustig ist, unterhaltsam und spannend, aber dafür ist der Weg zu einer persönlichen Beziehung zu Gott viel schwieriger, weil diese Entscheidung jeder selber treffen muss. Ich glaube diese Hürde ist bei uns in Deutschland kleiner, weil bei uns die Kirchen auch langweiliger sind. Da muss man schon wirklich zu Gott wollen, sonst setzt man sich nicht damit auseinander. Es ist leider so in Amerika: „Ach, ich gehe mal für mein Entertainment in die Kirche“ und dann geht man rein und wieder raus. Dort ist die Gefahr groß, dass es zu keiner persönlichen Beziehung zu Gott kommt. Menschen, die in Europa in die Kirche gehen, tun das meist bewusster, weil sie es wirklich wollen, weil sie Gott suchen.
MILIEU: In einem Interview kritisieren Sie Formate wie Germanys Next Topmodel, weil Sie Mädchen teils unerreichbare und krank machende Ideale vorzeigen. Wenn Sie ein alternatives TV-Format für junge Frauen anbieten dürften, wie würde es aussehen?
Rosenkranz: Ein Format, das auf echten Talenten basiert: Komm mit deiner Begabung, deinem Talent, zeig, was kannst du besonders gut? Es würde nicht darum gehen, wie schlank du bist, sondern darum, wer du bist, was dich ausmacht, was dein Markenzeichen ist. Das kann eine Begabung sein, auch was Optisches. Es wäre so eine Mischung aus „Was macht dich aus?“ Ich würde das Format vermutlich: „Wer bist du?“ nennen. Wenn man das herausfindet, beflügelt es einen. Es ist wie bei mir mit der Musik. Ich denke Tag und Nacht darüber nach. Dann gehe ich mit Lebensfreude in den Tag. Vielen Menschen fehlt das, die Antwort auf die Frage: Was mache ich eigentlich gerne und wer bin ich? Sie suchen ihre Identität nur in ihrem Aussehen.
MILIEU: Ihr aktuelles Buch wird von einem Schmetterlingsmotiv verziert. Es soll sagen: „Lauft leicht durchs Leben.“ Andererseits ist dieser enorme Leistungsdruck und das gesellschaftliche Konkurrenzdenken Alltag. Wie können wir mehr Gelassenheit in unser Leben bringen?
Rosenkranz: Über sich selbst lachen können, ist was Gutes (lacht). Man sollte herausfinden, was einem ein gutes Gefühl gibt im Alltag, was man gerne macht. Und das sollte man als Hobby oder sogar zum Beruf machen, wenn es möglich ist. Ich persönlich stehe morgens auf und – das hat mit meinem Glauben zu tun –beginne ich den Tag mit schönem Input, mit Texten, wo vielleicht auch ein Bibelvers da ist: „Du bist nicht alleine“, „Da ist jemand, der mit dir durch den Tag geht“, so wie ich auch mein letztes Buch geschrieben habe. Das lese ich mir kurz durch, das geht 3-5 Minuten. Und dann starte ich den Tag mit einer großen Tasse Kaffee (lacht).
Viele erwarten nicht von mir, dass ich an Gott glaube. Aber man muss nicht bieder sein, um zu glauben. Der Glaube gibt mir so viel, er ist was Schönes, was absolut Cooles und er ist umsonst (lacht).