Rezension

Demokratie braucht Religion

01.01.2023 - Dr. Hans-Georg Kelterborn

In anschaulicher Weise analysiert der renommierte Soziologe Hartmut Rosa unsere Krisen-Moderne mit ihrem aggressiven Wachstumszwang und wagt das Gedankenspiel: Was würde geschehen, wenn das Ideenreservoir und die rituelle Praxis jahrtausendealter Religionen in einer hochmodernen, aber auch irrationalen Gesellschaft verloren gehen? Mit seinem leidenschaftlichen Plädoyer nimmt Rosa insbesondere die religiöse Praxis der katholischen Kirche in den Blick, denn der Text beruht auf einem Vortrag, den Rosa beim Würzburger Diözesanempfang Januar 2022 hielt

Was treibt Rosa dazu, so unbekümmert auf die Religion zu setzen, wenn es um das Wohl unserer Demokratie und Gesellschaft geht? Haben die Kirchen angesichts ihres Mitgliederschwunds doch selbst ein massives Akzeptanzproblem. Die Veröffentlichung seines Vortrags als Buch hat ein starkes mediales Echo in Feuilleton und Diskussionsforen ausgelöst.

Rosa stellt eingangs fest, dass die Jahreslosung 2022 der katholischen Kirche „Gib mir ein hörendes Herz“ (1. Könige 3,9) resonanzförderlich sei und einem politischen Kontext entstammt. Der junge König Salomo bittet Gott um ein hörendes Herz, damit seine Regentschaft in Weisheit gelinge.

Anschließend begründet Rosa seine These, dass Demokratie Religion braucht, mit einer Diagnose der modernen Gesellschaft, wie er sie bereits differenziert 2016 in seiner Resonanztheorie entfaltet hat. Die moderne Gesellschaft ist auf permanente Steigerung, auf Wachstum, Innovation und Beschleunigung angewiesen, um sich zu reproduzieren und ihren institutionellen Status quo zu erhalten. Sie muss das tun, darin ist sie unterschieden von vor-modernen Gesellschaften, die bedarfsdeckend wirtschafteten. Dass demgegenüber unsere Gesellschaft immer mehr Energie aufwenden muss, sei letztlich irrational. Denn niemand der Wirtschaftsführer oder auch der Politiker der Ampelkoalition könne auf die Gretchenfrage „Wo wollen Sie denn genau wachsen?“ tragfähig antworten: Etwa mehr SUVs und LKWs verkaufen? Oder mehr Flugzeuge? Nicht sinnvoll, angesichts der Klimakrise. Dann vielleicht mehr Häuser bauen? Dagegen steht die Flächenversiegelung. In der Computerbranche? Da drohen begrenzte Ressourcen. Vielleicht bei den Nahrungsmitteln? Die das wollen, sind sowieso schon übergewichtig. In der Kleidungsindustrie? Wir werfen es weg, nur weil das Kleid nicht mehr modisch ist - „Jede Kultur vor uns würde uns schon allein deshalb für geisteskrank halten.“ (S. 37)

Doch ein abrupter Systemausstieg verbiete sich ebenfalls. Ohne Wachstum hätten wir jede Menge Arbeitslose und geschlossene Firmen. Dann sänken auch die Steuereinnahmen, aber gleichzeitig würden die Ausgaben für die Arbeitslosen und Renten steigen. Das Gesundheitssystem und der Pflegesektor würden noch dramatischer unterfinanziert, die Kultureinrichtungen könnten nicht mehr bezahlt werden. Insofern ist es konsequent, dass wir in jedem Jahr schneller, effizienter, innovativer werden müssen, damit wir das Bestehende erhalten können. Dafür muss immer mehr Energie investiert werden, nicht nur physische, sondern auch politische, psychische Energie, denn es sind doch wir Menschen, die nächstes Jahr noch schneller laufen müssen als in diesem Jahr (S. 41). Nach Rosa ist es diese Logik der gesellschaftlichen Einrichtungen, die systematisch ein Aggressions-Verhältnis zur Welt stiftet. Unser Verhältnis zur Welt ist aggressiv! Im privaten Bereich explodieren unsere To-do-Listen. Jedes Jahr müssen wir mehr schaffen. Und im Großen agieren die Industrien weiter aggressiv auf Kosten des Öko-Systems und verpesten uns damit.

Die wachsende Aggressivität erleben und erleiden wir auch im öffentlichen Bereich: Der politisch Andersdenkende ist nicht mehr der Dialogpartner, mit dem man sich auseinandersetzt, sondern ein böser Feind, den man zum Schweigen bringen muss. So in den USA, so beim Brexit, so auch bei uns im Corona-Konflikt zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern. Dieses Aggressionsverhältnis zur Welt übersetzt sich in die Politik und es übersetzt sich auch in die individuelle Lebensführung.  

Das spiegelt sich nach Rosa auch in der Angst vor dem Burn-out wider, bei Studierenden, bei Berufstätigen, ja sogar bei Rentnern. Das Gefühl „Lange geht das nicht mehr gut“ dominiert inzwischen. Wegen des höheren Energieverbrauchs steigt in der Atmosphäre die Temperatur, aber auch die Psyche hat nun ein Energieproblem. Denn der globale Konkurrenzkampf wird angesichts der Klimakrise noch schärfer, und die Ressourcen werden knapper. Verständlich, dass nun die existentiellen Unsicherheiten zunehmen:

Was soll oder darf ich noch essen? Wir sehen, dass die Angst vor dem Gebären zunimmt, je mehr wir darüber medizinisch wissen. Aus der Überzeugung, dass die Menschen für eine bessere Zukunft arbeiten („Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“) ist inzwischen die Sorge der Eltern getreten, dass sie alles daransetzen müssen, damit es ihren Kindern nicht schlechter geht. Den Mentalitätswandel beschreibt Rosa bildstark: „Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir gehen auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt.“

Er nennt das den rasenden Stillstand. Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der hinter uns immer näher kommt, nicht zuletzt wegen der Klimakrise (S. 52f.), ein geradezu apokalyptisches Szenario.

Hier nun greift seine These von der Demokratie, die hörende Herzen brauche, denn Demokratie funktioniere nicht im Aggressionsmodus. Für die politische Auseinandersetzung reiche es nicht, wenn jeder eine Stimme habe, sondern es gehörten auch Ohren und hörende Herzen dazu, die die anderen Stimmen hören und ihnen antworten wollen. Demokratie bedeute, dass sich die Bürger/innen als solche begegnen, die einander etwas zu sagen haben, und während dieses Dialogs eine wechselseitige Veränderung stattfinde; Rosa bezeichnet diesen Prozess im Rahmen seiner Resonanztheorie als Transformation, die uns befähigt, immer wieder neu anzufangen. „Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen.“ (S. 54f.) Aber ein solches hörendes Herz fällt nicht vom Himmel, schon gar nicht in unseren aggressiven politischen Kampfzonen. Deshalb braucht es die Kirche, die über Erzählungen, Räume und Riten verfügt, in denen ein hörendes Herz eingeübt und erfahren werden kann. Rosa konstatiert hier eine Krise der Anrufbarkeit, sowohl in der Glaubenskrise der Kirchen als auch in der politischen Demokratiekrise. Denn um sich anrufen zu lassen und hinzuhören, braucht es das Aufhören, raus aus dem Hamsterrad, um auf eine andere Stimme zu hören als auf das Muss der To-do-Liste.

Die Fähigkeit, sich anrufen zu lassen, hat Rosa mit der Metapher der Resonanz zu fassen versucht. Darin verwirklicht sich ein anderes Weltverhältnis, z. B. wenn einen Musik ergreift, das verändert mich als Hörenden sogar körperlich. Das ist das 1. Element, die Anrufung, eine inwendige Affizierung. Etwas bringt mich zum Auf-hören, mich erreicht eine andere Stimme und ich trete in eine Beziehung ein, so z. B. zwischen dem Ruf des Säuglings und seiner Mutter, die darauf antwortet. Das 2. Element von Resonanz ist die Erfahrung der Selbstwirksamkeit: Das, was ich tue, schafft zu jemand Anderen eine Verbindung. Eine Verbundenheit entstehe zwischen Ich und Du, durch Hören und Antworten, durch einen Blick oder Klang, „und genau da fühlen wir uns lebendig.“ (S. 61)

Wo uns das geschenkt wird, wo uns das gelingt, kommt es zu einer Transformation, Rosas 3. Element der Resonanz. Meine Stimmung, meine Gedanken ändern sich: „Ich fange an, die Welt anders zu sehen…. ich bin nicht mehr der Gleiche.“ Allerdings lässt sich dieser Moment nicht planen oder erzwingen, eine solche Resonanzerfahrung ist unverfügbar, das 4. Element. Da entsteht etwas Neues, aber niemand vermag zu sagen, ob es geschieht oder wann, auch nicht, „was dann dabei herauskommt. Zur Unverfügbarkeit der Resonanz gehört daher ihre Ergebnisoffenheit.“ (S. 65)

Für Rosa ist die Resonanzerfahrung der Ort der Entstehung des Neuen. Unsere Gesellschaft braucht die Rückbesinnung auf diese Fähigkeit der Anrufbarkeit und die Erfahrung der ergebnisoffenen Selbstwirksamkeit. Dazu braucht es aber auch Menschen, die sich berühren lassen, die sich verletzbar machen. Eine solche nichtaggressive Haltung ist in unserer Konkurrenzgesellschaft riskant, sie benötigt deshalb entsprechende soziale und materiale Räume, damit Resonanz möglich werden kann. Und die Religion verfügt über solche Räume und Chancen. Schon ihr Zeitkonzept des Kirchenjahres ist ein heilsamer Rhythmus, ohne Innovation, ohne Steigerung, ohne Wachstum. Auch das Raumkonzept, beim Besuch einer Kirche verschwindet die Aggressionshaltung, für einen Moment kann man zur Ruhe kommen. Die katholische Kirche verfügt über leibliche Resonanzqualitäten, das Kreuzzeichen machen, die Fingerspitzen ins Weihwasser tauchen, die vielen Heiligen anzurufen, Verbindung zu einer anderen Welt zu eröffnen. Die Religion gewinnt daraus ihre große Kraft, dass sie eine Art vertikales Resonanzversprechen gibt. Am Grund meiner Existenz liegt nicht das kalte und gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (Jesaja 43,1b)  Und die Kirchen geben diese eine Antwort, dieses Versprechen: Da ist einer, der dich meint, der dich hört, auch wenn er nicht im Hier und Jetzt verfügbar ist. Und so steht der betende Mensch in einer Beziehung zum umgreifenden Anderen (Jaspers), auch bei der Feier des Abendmahls.

Rosa geht es nicht um theologische Positionen, sondern einzig um die Frage, welche Art der Weltbeziehung aus der religiösen Praxis entsteht. Sein Schlussplädoyer lautet daher: „Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, Gesten, Räume, Traditionen und Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen. Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“

Mit seinem aktuellen Plädoyer bestätigt und entfaltet Rosa ganz praktisch das Diktum des Staatsrechtlers Böckenförde aus dem Jahre 1964: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das ist auch im Sinne der Katholischen und Evangelischen Kirchen in der BRD, die mit ihrem Gemeinsamen Wort von 2019 das „Vertrauen in die Demokratie stärken“ wollen. Doch muss man dann nicht auch die Frage nach dem Demokratie-Defizit der katholischen Kirche stellen? Diese absolutistische Monarchie (Papst/Bischof) mit ihrer anachronistischen Ständegesellschaft (Priesterschaft/Laien) soll demokratieförderlich wirken können? Es kann daher nicht verwundern, dass nach einer aktuellen Umfrage des Forsa-Instituts (1/2022) nur noch 12 % der Bundesbürger Vertrauen in die katholische Kirche haben.

Dessen ungeachtet entfaltet Rosa seine Argumentation vehement zugunsten eines Lebens in gelingenden Resonanzbeziehungen, in „horizontaler“ mitmenschlicher und „vertikaler“ religiöser Dimension, womit sein Konzept anschlussfähig bleibt sowohl für Kirchgänger als auch für religiös „unmusikalische“ Dialogpartner.

Dieses Buch liefert einen überzeugenden Impuls für das eigene Nachdenken in unserer unbestreitbar dramatischen Weltsituation. Zugleich eignen sich Rosas Thesen hervorragend dafür, den Austausch in interessierten und engagierten Leseforen und Gesprächsgruppen zu befördern, im wohlverstandenen Interesse an einem gelingenden Leben in demokratischen Verhältnissen. Darum kann das Buch der interessierten Leserschaft nur wärmstens empfohlen werden.

 

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion, Kösel-Verlag. 75 Seiten. 2022. 12.-€

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