Wissenschaft

Depressionen: Kommen die Fakten endlich ans Licht?

01.11.2022 - Dr. Stephan Schleim

Neue ARD-Dokumentation zeigt Schattenseiten der millionenfachen Medikamentenverschreibung

In den 1980ern/1990ern wurden neue Medikamente entwickelt, die den Serotonin-Spiegel im Gehirn erhöhen. Diese heißen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (abgekürzt als SSRIs, aus dem Englischen) und werden heute allein in Deutschland millionenfach gegen Depressionen verschrieben. Gegenüber älteren Medikamenten wurden diese in der Fachwelt wegen ihrer Verträglichkeit – sprich: vergleichsweise milderen Nebenwirkungen – gelobt.

Schon als ich in den frühen 2000ern Vorlesungen in Klinischer Psychologe an der Universität Mainz besuchte, wurde uns die “Serotonin-Hypothese” der Depression nur unter Vorbehalt beigebracht. Vereinfacht gesagt beinhaltet sie, dass diese psychische Störung durch einen Mangel an dem Botenstoff Serotonin verursacht wird. Dann liegt die Behandlung auf der Hand: mehr Serotonin, weniger Depression.

Doch bereits damals gab es kritische Anmerkungen zur Wirkungsweise. Beispielsweise erleben manche Patientinnen und Patienten subjektive Effekte der Medikamenteneinnahme, wenn das neurowissenschaftlich gesehen nicht plausibel ist. Sprich: Das Gehirn reagiert anders, als es die Person selbst erlebt. Das lässt eher auf einen Plazebo-Effekt schließen: Durch die Behandlung achtet man anders auf seine Probleme, während man sich natürlich eine Verbesserung wünscht.

Zudem gab (und gibt) es in Fachkreisen die Diskussion, ob die Mittel mit Suiziden in Zusammenhang stehen. Gedanken an den Tod, einen Suizid oder konkrete Planungen und Versuche, solche Vorstellungen in die Tat umzusetzen, gehören zu den Symptomen von Depressionen. Es wäre natürlich dramatisch, wenn eine Behandlung diese Problematik vergrößern anstatt verringern würde.

2005 erfolgte in Deutschland ein offizieller Warnhinweis, dass SSRIs bei Kindern und Jugendlichen das Suizidrisiko und Aggressionen erhöhen. Bei Erwachsenen ist das Bild nach wie vor unklar.


Was sind Depressionen eigentlich?

Die offizielle Sichtweise hat sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert. Allein deshalb sollte man damit aufpassen, Depressionen (in der Fachsprache auch: Majore Depression oder englisch Major Depressive Disorder) als ein konkretes Ding zu begreifen, so wie beispielsweise eine Grippe, die von einem bestimmten Virus verursacht wird.

Pragmatisch haben sich Fachleute heute darauf geeinigt, dass zu zwei wesentlichen Elementen – das sind depressive Verstimmung und/oder Antriebslosigkeit – andere typische Symptome kommen müssen. Dazu zählen Schlafstörungen (zu viel oder zu wenig Schlaf), Gewichtsveränderungen (abnehmen oder zunehmen), Änderungen der körperlichen Aktivität (mehr oder weniger) und die bereits erwähnte Suizidalität.

Ohne hier in einen theoretischen Diskurs abgleiten zu wollen – mehr über die Hintergründe in den verlinkten Artikeln –, sei hier nur auf ein aktuelles Beispiel verwiesen: Die Fachwelt war längere Zeit geteilter Meinung, wo normale Trauer aufhört und eine Depression anfängt. Nach jahrzehntelanger Diskussion haben einflussreiche Psychiater in den USA jetzt schlicht Fakten geschaffen: Verlängerte Trauer ist im März dieses Jahres zur psychischen Störung geworden.

Bahnbrechende Studien

Während ich als Doktorand selbst in einer psychiatrischen Universitätsklinik arbeitete, kamen aus den USA bahnbrechende Befunde, die den Riss im Bild der SSRIs vergrößerten: Irving Kirsch, heute an der Harvard University, hatte sich mit Kollegen die Daten aus vielen pharmakologischen Studien kritisch angeschaut. Im Ergebnis halfen die Medikamente insbesondere bei leichten und mittleren Depressionen nicht besser als die Gabe eines Plazebos.

Aus meiner Sicht ist die 2008 erschienene und inzwischen in der Fachwelt tausende Male zitierte Fachpublikation aus anderen Gründen noch brisanter: Die für die Analyse nötigen Daten konnten die Forscher nämlich nicht aus wissenschaftlichen Zeitschriften beziehen. Stattdessen mussten sie Ergebnisse unveröffentlichter Studien mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes von den Behörden einfordern.

Mit anderen Worten: Studien, die SSRIs (sowie vielen anderen Medikamenten) positive Effekte bescheinigten, wurden vielfach in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht. Zeigten Versuche aber nicht das gewünschte Ergebnis, wurden sie schlicht nicht publiziert. Das führt natürlich den Sinn von Wissenschaft ad absurdum. Gut zu wissen: Pharmafirmen behalten sich bei solchen Kooperationen oft die Letztentscheidung darüber vor, was mit den Daten geschieht.

“Ist doch egal!”, haben sich viele Ärztinnen und Ärzte vielleicht gedacht: Die Medikamente wurden fröhlich weiter verschrieben, häufig auch von Medizinern, die dafür gar nicht spezifisch qualifiziert waren (zum Beispiel Hausärzten).

Erst im Juli dieses Jahres sorgte eine neue Übersichtsarbeit für Wirbel: Das, was viele Wissenschaftler nur hinter vorgehaltener Hand einräumten, haben Joanna Moncrieff, Psychiatrieprofessorin am University College London, und Kollegen noch einmal ins Reine geschrieben: Es gibt keine überzeugenden Beweise für die Serotonin-Hypothese der Depression.

Auffälliger als dieses Ergebnis ist für mich die Fachzeitschrift, in der es erschien: Molecular Psychiatry ist gewissermaßen die Höhle des Löwen der Biologischen Psychiatrie – also derjenigen, die der Welt seit den 1980ern weismachen wollen, psychische Störungen seien Erkrankungen im medizinischen Sinn, ja sogar Gehirnstörungen (dazu auch eine neue Veröffentlichung aus meiner Hand).

Nebenbei sei erwähnt, dass an Moncrieffs Arbeit auch Michael P. Hengartner von der Fachhochschule in Zürich beteiligt ist. Er kommentiert die Forschungsdaten zu den SSRIs seit vielen Jahren kritisch, auch gegen Widerstand aus der Fachwelt. Schon 2018 war er hier bei MENSCHEN-BILDER als Interviewpartner zu Gast (Teil 1Teil 2).

Neue Dokumentation im ARD

Die erwähnte neue Publikation von Moncrieff und Kollegen wird seitdem international herauf und herunter diskutiert. Der Bruch zwischen wissenschaftlichem Wissen und klinischer Praxis lässt sich nicht länger verbergen. Plötzlich redet jeder vom sprichwörtlichen Elefanten im Zimmer. Und auf einmal will niemand mehr die Serotonin-Hypothese ernst genommen haben.

Leider ist es nicht nur so, dass SSRIs bei den allermeisten Patientinnen und Patienten nicht besser wirken als ein Plazebo. Dem stehen nämlich auch Nebenwirkungen gegenüber. Und schlimmer noch: Entzugserscheinungen beim Absetzen der Mittel.

Eine neue Dokumentation im ARD – Tabletten gegen Depressionen: Helfen Antidepressiva? – thematisiert nun diesen Streit in der Fachwelt und was er für die Betroffenen bedeutet. Hengartner ist einer der interviewten Wissenschaftler. Ähnlich kritisch äußert sich der Psychiatrieprofessor Tom Bschor, der schon 2018 ein Buch über Antidepressiva veröffentlichte.

Professor Ulrich Hegerl, Sprecher der Deutschen Depressionshilfe, verteidigt die Psychopharmaka hingegen nach wie vor. Mit seinen Standpunkten setzte ich mich vorher kritisch auseinander (Teil 1Teil 2). Seiner Meinung nach überschätzen die Deutschen den Beitrag schlimmer Lebensereignisse zu Depressionen. Meiner Ansicht nach sehen viele Laien den aktuellen Forschungsstand aber genau richtig.

Stimmen

Im Folgenden will ich ein paar Kommentare aus der Dokumentation ansprechen. Ich empfehle aber allen, sich ihr eigenes Bild zu machen. Am Ende fasse ich ein paar Empfehlungen zusammen.

“…obwohl Studien einen Serotoninmangel bei Depressiven noch nie nachgewiesen haben. Die Wahrheit ist: Man weiß nicht, was bei einer Depression im Gehirn passiert und auf welche Weise Antidepressiva die Psyche beeinflussen. Die Serotonynhypothese aber ist wissenschaftlich längst widerlegt.”
ARD-Dokumentation vom 12.9.2022

Hinweis: Der folgende Text enthält persönliche und möglicherweise konfrontierende Informationen. Wenn Sie das nicht möchten, lesen Sie bitte nicht weiter.

Einige der Betroffenen in der Dokumentation sprechen von erheblichen Einschnitten im Leben, die den Depressionen vorangingen. Eine Frau nennt beispielsweise mehrere Todesfälle in der Familie. “Ich konnte nicht mehr fröhlich sein.” Eine andere erwähnt den Suizid der eigenen Mutter und dass sie danach im Heim aufwuchs.

Solche prägenden Erfahrungen werden beiläufig, in ein paar Sekunden erwähnt. Dann geht die Sendung schon wieder weiter. Es ist Fernsehen. Hier könnte man aber einmal innehalten und sich überlegen, was solche Erfahrungen für einen Menschen, mitunter für ein Kind oder einen Jugendlichen bedeuten mögen. Ich glaube nicht, dass man das als Außenstehender wirklich verstehen kann.

Aus meiner eigenen Perspektive als jemand, der die ersten zehn Lebensjahre in einer Umgebung mit großer Unsicherheit und viel körperlicher Gewalt aufwuchs, die nächsten zehn unter Bedingungen extremer Vernachlässigung und Verwahrlosung, gezeichnet von vielen Selbstverletzungen und institutionellem Versagen, kann ich nur sagen:

Das Trauma versteht man meist nicht einmal aus der Innenperspektive. Als Kind/Jugendlicher fehlt einem schlicht der Vergleich. Man hält das für “normal”, was man am eigenen Leib erfährt (im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne). In meinem Fall bedurfte es dreier langfristiger Psychotherapien (bei einer kam es selbst zu Grenzüberschreitungen durch die Therapeutin), um die früheren Erfahrungen – und wie sie einen auch 20-30 Jahre später noch prägen – zu sortieren.

Biologie gegen Psychologie

Darum sehe ich die größte Gefahr in der Dominanz der Biologischen Psychiatrie darin, die Menschen ihrer Subjektivität zu berauben. Wer ihre Probleme schlicht als Neurotransmitterstörung im Gehirn interpretiert, entmenschlicht sie gleichzeitig, dehumanisiert sie. Wie soll man so sein Trauma dann ins Leben integrieren?

Dazu passen die Beispiele in der Sendung, dass Menschen die Medikamente für zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre und länger verschrieben bekommen. Depressionen treten oft episodisch auf. Nach einigen Wochen oder Monaten geht es vielen schon wieder besser. Wie es Bschor in der Dokumentation erklärt, sollte eine medikamentöse Behandlung in der Regel nicht länger als ein Jahr dauern.

Bei meinen Stammlesern fällt jetzt vielleicht der Groschen, warum es hier in bald 15 Jahren so oft um die Beschränkungen und Gefahren des “Neuro-Reduktionismus” ging. Und woher der Name MENSCHEN-BILDER rührt.

Deutungshoheit

Wenn der pharmafreundliche Psychiater Hegerl aber in der Sendung sagt: “Erst wenn man kapiert: Hat auch etwas mit dem Gehirn zu tun”, könne man sich für die beste Therapie entscheiden, verbreitet er eine Tautologie. Auch das Lesen dieses Artikels jetzt “hat etwas mit dem Gehirn zu tun”. Ist es darum eine Störung, eine Erkrankung gar? Nein!

Und Hegerl weiter über Menschen mit Depressionen: “Sie haben einfach das Pech, die Veranlagung zu dieser saublöden Erkrankung zu haben.” Komisch nur, dass man auch nach jahrzehntelanger Suche und Forschung mit Daten von zum Teil über 100.000 Personen immer wieder zum selben Ergebnis kommt: Die Gene erklären so gut wie nichts im Bereich psychischer Störungen.

Damit wird übrigens nicht bestritten, dass bestimmte körperliche Erkrankungen mit einer depressiven Symptomatik einhergehen können. Im Gegenteil: Bei unerklärlichen psychischen Problemen sollte man sich auch ärztlich-medizinisch untersuchen lassen, um bestimmte Krankheiten auszuschließen.

Wenn heute schon, laut der Dokumentation, allein in Deutschland 1,7 Millionen Tagesdosen von Medikamenten zur Behandlung von Depressionen verschrieben werden, rund achtmal so viel wie vor einigen Jahren, doch das laut Hegerl immer noch nicht genug ist – wie viel mehr Menschen sollen die Mittel dann überhaupt bekommen? Und wieso scheinen mit der Zeit Depressionen gesamtgesellschaftlich ein immer größeres Problem zu werden, wenn SSRIs und andere Medikamente angeblich so gut wirken?

Hegerl hält auch die Diskussion von Entzugserscheinungen beim Absetzen der Mittel für überzogen. Warum berichten dann aber mitunter mehr als der Hälfte der Patientinnen und Patienten von solchen Problemen?

Gespaltene Psychologie

Nicht ganz ohne Ironie ist das Auftreten der promovierten Psychologin in der Sendung. Diese war einst selbst Therapeutin in einer Klinik und nahm die Berichte von Patientinnen und Patienten über Entzugserscheinungen nicht ernst. Im Gegenteil: “Ich habe einfach gedacht, das ist überspannter, neurotischer Quatsch. Von Leuten, die irgendwie psychisch krank sind und für die es einfacher ist, das Medikament zu diffamieren, anstatt bei sich selber zu gucken, warum sie etwas nicht hinkriegen.”

Hier sieht man, wie der Umgang mit psychischen Problemen auf einmal eine moralische Komponente bekommt: Wem es schlecht geht, der arbeitet nicht hart genug an sich selbst. Und jeder ist doch seines eigenen Glückes Schmied. Oder nicht? Die Psychologin leidet heute selbst unter den Entzugserscheinungen von Medikamenten, die ihr gegen Depressionen verschrieben wurden.

Sie berichtet, dass ihr die Serotoninhypothese in der Ausbildung kritiklos beigebracht worden sei. Zum selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten, das man mit der Doktorarbeit nachweisen soll, gehört meiner Ansicht nach aber auch die Suche nach Antworten jenseits der herrschenden Meinung. Wenn wir alle nur nachplappern, was andere vor uns gesagt haben, gibt es kaum Erkenntnisfortschritt.

Mir geht es aber nicht darum, den Pfeil der Verantwortlichkeit einfach umzudrehen, beispielsweise von der Patientin zur Therapeutin. Es ist auch ein Stückchen Wahrheit darin enthalten, dass für den Umgang mit psychischen Problemen die eigene Einstellung wichtig ist. Nicht alle Menschen haben aber dasselbe Wissen oder dieselben Möglichkeiten, ihr Leben zu verändern, es selbst in die Hand zu nehmen.

Wir sind alle biologisch verkörpert – und gleichzeitig Individuen in einem größeren, sozialen Ganzen. Psychologie und Psychiatrie sind politisch, wenn sie Probleme prinzipiell nur im Individuum (oder gar nur im Gehirn) erkennen und behandeln.

Soll es wirklich an den Genen liegen, dass Menschen mit schweren Lebensereignissen und viel Stress, beispielsweise alleinerziehende Eltern, sehr viel häufiger psychische Probleme haben? Und wenn ja, warum finden die führenden Fachleute diese Gene trotz intensiver Suche nicht?

Systemsicht

Mein letztes Buch hatte nicht ohne Grund den Titel: Gehirn, Psyche und Gesellschaft. Und aus der Systemsicht ist der Status quo keineswegs überraschend:

Zwar ist den Journalisten hoch anzurechnen, dass sie Ulrich Hegerl vor laufender Kamera zu seinen finanziellen Verbindungen mit der Pharmaindustrie befragen. Dieser laviert etwas herum und scheint sich selbst nicht recht zu erinnern. Waren es zu viele? Aber auch ob Honorare nun wirklich “nur” 500 Euro betrugen oder doch vielleicht 5000 – jemand wie er hat aufgrund der verfügbaren Gelder für die Biologische Psychiatrie Karriere gemacht und sieht auch gegen Ende seiner Laufbahn keine Notwendigkeit zum Umdenken.

Wer unabhängige Wissenschaft will, darf Forscherinnen und Forscher nicht von den Töpfen der Industrie abhängig machen; hier insbesondere einer Industrie, die Jahr für Jahr Milliarden mit den Medikamenten verdient. Und er darf auch den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht zum Opportunismus zwingen.

Das Abschaffen von Theoretischer Psychologie – wir in Groningen haben die letzte Abteilung für Theorie und Geschichte der Psychologie in ganz Europa – oder Kritischer Psychiatrie – Joanna Moncrieff ist eine seltene Ausnahme – spricht zudem Bände. Das Forschungsgeschehen wird vom Pragmatismus beherrscht. Zum kritischen Nachdenken bleibt schlicht keine Zeit.

Empfehlungen

Insofern kann ich der Psychologin in der Sendung zustimmen, die nicht gegen das System kämpfen will: Die Gesellschaft hat das System, das sie selbst einrichtet. Die Frau selbst will nur noch von den Medikamenten loskommen. Ich habe damit nie angefangen.

Und dass man mich nicht falsch versteht: Ich gönne allen Menschen diejenigen Mittel, die sie im Leben weiterbringen. In der Sendung lernt man eine Frau kennen, die ganz offen sagt, dass sie nicht ohne die Medikamente leben will. Das sollte man respektieren. Man sollte die Menschen aber vorher auch ausführlich und ehrlich darüber aufklären, worauf sie sich einlassen.

In der Dokumentation werden alternative Therapien vorgestellt, die auf Medikamente verzichten. Überhaupt halte ich die Bezeichnung “Antidepressiva” für irreführend: Wie wir sahen, wurde deren spezifische Wirkung gegen Depressionen nie belegt; umgekehrt werden sie beispielsweise auch bei Angststörungen verschrieben. Im Internet ist es zudem einfacher geworden, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und über Alternativen zu informieren.

“Ich sehe das so, dass mir hier zu viel in Richtung Medikamente gemacht wird. Ich würde mir wesentlich mehr wünschen, dass Themen wie Spiritualität, Meditation […] – da würde ich mir schon wesentlich mehr Aufklärung wünschen. Und das fand ich heute Morgen relativ schwach. […] Das ist sehr eindimensional. Das ist sehr ‘Pro-Medikamente’ und die Kontra-Seite kommt mir da definitiv zu kurz.”
Ein Teilnehmer einer Informationsveranstaltung der Deutschen Depressionshilfe, ARD-Dokumentation vom 12.9.2022

Menschenleben

Depressive Episoden gehören für viele zum Leben dazu. Früher nannte man Menschen mit einer Neigung zum Trübsinnigen “melancholisch” und schätzte sie mitunter für ihre Kreativität in den Künsten, Musik, Literatur. Und leider erfahren viele Menschen Traumata, manche mitunter mehrfach.

Viele Probleme durch Stress (zum Beispiel alleinerziehender Eltern) und Ausgrenzung (zum Beispiel von Immigranten) wären vermeidbar, sind aber leider Teil unserer Gesellschaftsform. Die erstgenannte Gruppe hat ein höheres Risiko für Depressionen und andere psychische Störungen; die letztgenannte für die Diagnose einer Schizophrenie. So sieht man, wie durch genetisches Gedankengut soziale Probleme hinter Biologie verschwinden und wir an Handlungsmöglichkeiten verlieren können.

In einer Hochleistungsgesellschaft, in der Produktivität und Effizienz ein Muss sind, steht man mit depressiver Problematik schnell unter Generalverdacht (Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?). Alle sind angeblich gegen “Stigmatisierung” – aber stigmatisieren Menschen mit psychischen Problemen dann selbst: indem sie ihnen medizinisch daherkommende psychologisch-psychiatrische Diagnosen geben. Haben sie wirklich vergessen, woher das Wort “Stigma” kommt?

Aber in einer bürokratisch organisierten Medizin brauchen alle ihre Behandlungscodes. In der Medizinischen Soziologie wird seit Jahrzehnten erforscht, wie deren Bedeutung immer weiter gefasst wird, Stichwort “Medizinalisierung” der Gesellschaft. Ist das wirklich Fortschritt? Die neu in Gang gekommene kritische Diskussion über Medikamente gegen Depressionen legt den Verdacht nahe: wahrscheinlich nicht.

Hinweis: Der Artikel kritisiert das bestehende Forschungs- und Gesundheitssystem und bestreitet ausdrücklich nicht die Problematik depressiver Symptome. Suchen Sie Hilfe bei psychischen Problemen. Und lassen Sie sich erst beraten, bevor Sie die Einnahme von Psychopharmaka unterbrechen.

 

Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). Zuvor war er Professor für Neurophilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit großer Leidenschaft informiert er seit über 15 Jahren ein breites Publikum über Fortschritte in den Wissenschaften vom Menschen. Seine Artikel wurden in mehrere Sprachen übersetzt und er schrieb unter anderem für die FAZ, Gehirn&Geist, Psychologie Heute, Spektrum der Wissenschaft, Spiegel Online und Telepolis. Mehr Informationen: https://www.schleim.info

Erstveröffentlung des Artikels auf dem scilogs-Blog von Dr. Schleim: scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/

 

 

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