Buchauszug

Der Blinde und der Lahme

01.10.2019 - Dr. Lars Jaeger

Dr. Lars Jaeger vertritt die These, dass wir den rapiden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der Gegenwart positiv gestalten können. Wir brauchen demnach keine Angst zu haben vor Digitalisierung, Nano- und Quantentechnologie oder dem Bioengineering. Im Gegenteil: Dieses Neue bedeutet nicht das Ende der Welt, sondern die Zukunft der Menschheit. Allerdings wird der welthistorische Umbruch, vor dem wir stehen, nicht nur unser Menschenbild und unser Sinn- und Daseinsverständnis massiv verändern, sondern auch den Menschen selbst. Es gilt also, die Veränderungen zu kennen und sie zu gestalten. Im Folgenden handelt es sich um einen Auszug aus dem neusten Buch von Dr. Lars Jaeger: "Mehr Zukunft wagen! - Wie wir alle vom Fortschritt profitieren", erschienen am 23.September im Gütersloher Verlagshaus.

Seit der Aufklärung haben wissenschaftliche und technologische Revolutionen immer wieder die Neujustierung politischer, gesellschaftlicher, ethischer, spiritueller und religiöser Normen erforderlich gemacht. Sie verschoben Wahrheiten, zerstörten Weltbilder und schufen wieder neue. Zuerst verlor im Zuge der Aufklarung Gott seine Stellung als letzte und absolute Instanz der Wahrheit. Seine Rolle übernahm sukzessive die Wissenschaft. Doch auch die Wissenschaftler blieben nicht verschont: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts mussten sie den Verlust ihrer universellen Wahrheitskriterien verkraften – je weiter sie beispielsweise in das Reich der Quantenphysik vorstießen, desto mehr losten sich philosophische Gewissheiten, die über Jahrtausende Gültigkeit besessen hatten, im Nichts auf.

Und nun ist auch Otto Normalverbraucher dran: Auch für ihn verschwinden die Komfortzonen absoluter Gewissheiten. Früher hatte jeder seinen festen, oft lebenslangen Arbeitsplatz. Gesellschaft und Familie waren klar hierarchisch strukturiert. Jeder wusste, welche Geburtsrechte er in seiner Nation in Anspruch nehmen durfte und welchen Platz in der Gesellschaft er einnahm. Diese stutzenden Gewissheiten haben sich heute aufgelöst. Kein Wunder, dass sich die meisten Menschen durch die politischen, ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen überfordert fühlen. Es gibt für sie keine Wohlfühlzone mehr. Der Wegfall von absoluten Wahrheiten und unverrückbaren Prinzipien betrifft zuletzt auch unsere Spiritualität, unser ≫inneres Leben, unsere Geistigkeit≪, wie der Duden Spiritualität definiert, und daher einen großen Teil dessen, was den Menschen zum Menschen macht.

Wo ehemalige absolute Gewissheiten verloren gegangen sind, herrscht existenzielle Unsicherheit.

Weder Gott noch eine andere transzendente Grundstruktur erklärt uns heute unsere Rolle in der Welt. Es gibt auch keine unverrückbaren Naturgesetze oder gültige ökonomische, gesellschaftliche oder historische Gesetzmäßigkeiten mehr, an die wir uns halten und die uns einen Rahmen für das alltägliche Leben bieten konnten. Der kalte Pragmatismus des wissenschaftlichen Forschungsprogramms und das evolutionär-naturalistische Menschenbild ohne höheren Sinn und Zweck ist kein ausreichender Ersatz für eine spirituelle Heimat. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang vom ≫Bewusstsein, dass etwas fehlt≪. Mit anderen Worten: Wir befinden uns in einer spirituellen (Meta-)Krise. Nun liegt die Herausforderung unserer Zeit offen vor uns: Um die einzige echte und existenzbedrohende Krise unserer Zeit, die Human-Krise, zu bewältigen, müssen wir transzendente (≫über das direkt Erfahrbare hinausgehende≪) Fragen beantworten. Transzendente Fragen lassen sich nur unter Einbeziehung spiritueller Dimensionen beantworten.

• Unsere Spiritualität ist uns abhandengekommen.
• Wir müssen eine neue Form der Spiritualität entwickeln.

Human-Krise und spirituelle Krise sind die eigentlichen epochalen Wirkungskräfte. Bewältigen wir sie, werden wir auch alle anderen Probleme – von Klimaerwärmung bis zur Überbevölkerung – mehr oder weniger leicht lösen.
Leider gibt es ein gravierendes Hindernis, das es uns schwer macht, auf die existenzbedrohende Krise der Umformung des Menschen angemessen zu reagieren und uns der dafür notwendigen, gewaltigen Aufgabe zu stellen, angesichts der ≫Großen Fragen≪ zu einem Konsens zu kommen, mit dem sich Menschen und Gesellschaften identifizieren können: unsere Vorliebe für einfache Wahrheiten sowie unser Hang zu Lüge und Selbstlüge.


Bildergebnis für mehr zukunft wagen

 

 

 

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