Corona-Virus

Der Lackmus-Test

01.12.2020 - Martin Renghart

Ein Lackmus-Test ist in der Chemie eine Messung des pH-Werts einer Substanz mit Hilfe des Farbstoffs Lackmus. Vieles spricht dafür, dass Corona so ein Lackmus-Test sein könnte. Für Menschen, Gesellschaften, politische Systeme.

1. Der Corona-Mensch ist vereinsamt. Da fragt man sich: Ist der moderne Mensch nicht ohnehin ein Einzelgänger – und muss es sogar sein – ein/e self-made-(wo)man, ein unabhängiges und frei entscheidendes Individuum? Im Allgemeinen offensichtlich nicht. Am ehesten mag das noch auf den Intellektuellen, den Genie-Künstler zutreffen, der sich zumindest so stilisiert. In Wahrheit sind die meisten von uns, ganz gleich, ob in Ost oder West, in Nord oder Süd, gern der Masse nachlaufende Herdentiere. Die Abkehr von der Geborgenheit vermittelnden Familie begünstigt ein nomadisierendes Dasein, das uns aber – nicht nur durch Superspreading-Events in Corona-Zeiten – äußerst verwundbar macht. Der Virus legt auch die mentale, die innere Verwundbarkeit des vereinzelten und damit umso mehr nach Kontakten suchenden modernen Individuums nahe.

Es sind denn auch die modernen europäischen und amerikanischen Gesellschaften, die dem Virus die meiste Angriffsfläche bieten. Aber auch Südeuropa ist überdurchschnittlich betroffen, wo das in-die-Nacht-hinein-Feiern eine länger zurückgehende Tradition hat. Die islamischen Länder scheinen bisher eher glimpflich davonzukommen, während streng religiös geprägte jüdische Viertel eher betroffen sind. Es kann jeden treffen, und vielleicht wird die Lage in einem halben Jahr ganz anders aussehen. Wer weiß.

2. Die Corona-Gesellschaft ist kulturell verarmt. Immer wieder hört man, die Kultur sei die Haupt-Leidtragende der Pandemie. Kultur im weitesten Sinn: von E bis U und wieder zurück, inklusive der Kneipen und Konsumtempel, die noch am ehesten Aussicht auf staatliche Zuwendungen haben. Kulturschaffende werden zur Untätigkeit und zum persönlichen Ruin verdammt, bisher allerdings ohne viel kritische Resonanz vom Publikum. Wo wir der Kultur nicht ohnehin schon entwöhnt sind, haben wir uns längst an Produktionen aus zweiter Hand gewöhnt. Notfalls lassen wir einfach die Videos noch einmal abspielen, die uns besonders gefallen haben. Berieselung ohne Begeisterung, die wir anscheinend aber nicht entbehren können. Retorten-Kultur auf niedrigstem Niveau, trotz allem Gerade vom modernen unverwechselbaren Individuum. Aber Corona hat viele Seiten: Hat man jetzt nicht endlich auch einmal selbst Zeit zum Musizieren, zum Basteln, allgemein zur Kreativität? Sind wir nicht doch alle immer schon heimliche Künstler gewesen? Gelingt es uns, ein Buch nicht nur zu lesen, sondern es vielleicht laut weiterdenken und weiterschreiben? Wer weiß. Zumindest der Konsum an Literatur scheint während der Pandemie nicht abgenommen zu haben. Aber wir sollten über das Gekaufte nachdenken, auch über die Krise hinaus.

3. Das Corona-System ist staatszentriert, zentralistisch und einheitlich. So sehr auch die Staaten und ihre Politiker unterschiedlich sind, so sehr sich Trump im Verdrängen und Herunterspielen der Pandemie hervorgetan hat, so sehr auch der schwedische Chefvirologe dem Land eine Extratour verordnete, so sehr ähneln sich die Bestimmungen landauf und landab. Selbst der Blick auf die islamische Welt zeigt: Soviel Einheit war nie. Wir haben aus Asien die Masken importiert und profitieren vom Export unserer Beatmungsgeräte. Auch die gegenseitige Abschottung kann uns irgendwie näherbringen. Ist geteiltes Leid nicht halbes Leid? So nähern wir uns auch innerlich an. Hier aber regt sich dann doch der Protest, von dem niemand weiß, ob er noch demokratisch ist oder nicht: Ist es der Staat, der uns durch die vermeintlich zu strengen Vorschriften bedroht oder sind es die Verschwörungstheoretiker, die zusammen mit Rechtsradikalen die mittlerweile wichtigste außerparlamentarische Opposition bilden und Fridays-for-Future den Rang oder den Platz abgelaufen haben? Wer weiß. Von den Globalisierungsgegnern, die eigentlich über die Entwicklung froh sein sollten, höre ich kein Wort mehr. Was waren denn ihre Thesen wirklich wert, wenn sie die Pandemie kaum überstehen? Corona tötet nicht nur Veranstaltungen und Unternehmen. Sind es gerade die Diktaturen, die weltweit profitieren? Seltsamerweise sind sich auch die über die Krise kaum einig. Aber die Menschen dort sind an staatliche Restriktionen gewöhnt. Das erleichtert es ihnen, sich an die neuen Vorschriften zu halten. Die westliche Vernunft kann da bisher nicht mithalten, sonst hätten wir jetzt keinen zweiten Lockdown. Staatlich verordnete Vernunft kann in dieser Zeit nicht schaden, individuelle Verantwortung mit den entsprechenden Konsequenzen wäre mir persönlich aber lieber.

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