Kriegsfolgen

Der lange Schatten des Krieges

01.06.2022 - Roland Rottenfußer

Schwere Waffen für Selinskyj oder gar eine Flugverbotszone über der Ukraine: Die friedensmüden Deutschen wollen es mal wieder wissen und scharren schon mit den Hufen. Da wird auch eben mal ein Dritter Weltkrieg herbeigeredet. Und wehe, ein Politiker wirft sich — wie Olaf Scholz — nicht mit der notwendigen Inbrunst ins Getümmel. Dann gilt er als Zauderer, der unser früher doch so robust agierendes Vaterland zum Gespött einer kriegslüsternen Weltöffentlichkeit macht. Anderswo schaut man dagegen über Kriegsverbrechen der russischen Armee großzügig hinweg, als handele es sich um lässliche, aus dem historischen Kontext heraus sehr gut verständliche Sünden guter Kumpels. Beide Extrempositionen sind Folgen ein und desselben Fehlers: Im Frieden aufgewachsene Menschen können sich häufig nicht mehr vorstellen, was es eigentlich bedeutet, wenn Krieg herrscht. Das unfassbare Grauen verleitet allzu leicht dazu, wegzuschauen und es zu bagatellisieren. Daher ist es wichtig, so genau wie möglich hinzusehen, nicht weil dies angenehm wäre, sondern weil es uns vor folgenschweren Fehlern bewahren kann. Der Krieg ist nämlich noch lange nicht vorbei, wenn die Waffen ruhen. Wer einen Krieg beginnt, mit herbeiführt oder auch nur durch unbedachtes Verhalten riskiert, erschafft Massentraumata, von denen noch das Leben mehrerer Nachfolgegenerationen überschattet sein wird.

 

 

Es gibt viele Möglichkeiten, sich dem Thema Krieg zu nähern. Mithilfe historischer Erfahrungsberichte, durch realitätsnahe Romane wie „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque oder Filme, die einen direkt in eine Situation hineinkatapultieren — man denke etwa an die Anfangssequenz von Steven Spielbergs „Der Soldat James Ryan“.

Die Schmerzen, die Todesangst, den Gestank von Schweiß, Pulver und eiternden Wunden können diese Sekundärquellen nur sehr schwer vermitteln. Und auch nicht das Gefühl von Schuld, das einen Soldaten vielleicht anfällt, wenn vor ihm ein Mensch — ein Fremder — zusammenbricht, als Folge eines Schusses aus dem eigenen Gewehr. Wir können es uns nur sehr bedingt vorstellen — auch ich nicht, obwohl ich hier an alle appelliere, es zu versuchen. Wenn wir uns an die schlimmste Angst erinnern, die wir kennen, an die schlimmsten Schmerzen, die härtesten Strapazen, bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon.

Ein anderer Weg, sich dem Thema zu nähern, besteht schlicht darin, in der eigenen Seele zu forschen. Ich stelle dazu einmal eine ganze einfache, scheinbar irrelevante Frage: Wie geht es Ihnen?

Wenn Sie zum Beispiel mindestens 80 Jahre alt sind, werden Sie bestimmte Dinge erlebt haben und wahrscheinlich Spuren davon in Ihrem Gedächtnis bewahrt haben. Von Bombennächten zum Beispiel, die einem Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen und ihm das Gefühl von „Urvertrauen“ vielleicht für immer rauben. „Flashbacks“, Albträume, eine scheinbar unmotivierte Nervosität könnten zu den Spätfolgen gehören.

Sollten Sie dagegen etwa 50 bis 60 Jahre alt sein, haben Sie wahrscheinlich gar nichts dergleichen erlebt — jedenfalls nichts, was mit Krieg zu tun hat. Trotzdem kann es sein, dass Sie versehrt sind — in einer Weise, für die es normalerweise kein Mitgefühl und nicht einmal viel Aufmerksamkeit gibt. Denn es ist Ihnen ja immer gut gegangen. Oder?

Generation der „Wiedergutmacher“

Der Sachbuchautor Raymond Unger geht in seinem Buch „Die Wiedergutmacher“ der Frage nach, wie viele Deutsche durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen schwere Traumata erlitten haben. Er nennt 6,4 Millionen Tote und 12 bis 14 Millionen Vertriebene, weiter etwa 2 Millionen Mädchen und junge Frauen mit Vergewaltigungserfahrungen im Zusammenhang mit dem Krieg. Man muss zudem berücksichtigen, wie viele Menschen an Kriegshandlungen beteiligt waren, ohne darin umzukommen.

1939 umfasste die deutsche Wehrmacht rund 4,5 Millionen Soldaten. Deren Zahl wuchs 1944 auf etwa 9 Millionen. Das waren sicher teilweise in jedem Jahr dieselben Personen, teilweise rückten neue, meist jüngere nach. Wer nicht gestorben war, konnte als schwer traumatisiert gelten. Jedem gefallenen oder psychisch beeinträchtigten Soldaten sind mehrere Angehörige zuzuordnen, deren Leben durch die Kriegsbeteiligung des Sohnes, Bruders, Ehemanns oder Vaters nachhaltig überschattet wurde. Hinzu kommt die Traumatisierung durch Todes- und Existenzängste, zum Beispiel während der Bombenangriffe auf deutsche Städte in der Spätphase des Krieges.

Zum Vergleich: Die Bevölkerungszahl in Deutschland betrug 1933 „nur“ etwa 66 Millionen. Wir dürfen uns den Zweiten Weltkrieg also nicht vorstellen, wie Schlachten in Filmen über die Ära Napoleons dargestellt werden, in denen ein paar Hundert Soldaten auf jeder Seite in Formation auf einer großen Wiese gegeneinander anrennen. Hier geht es um Millionen Menschen, um schwere Traumatisierung als Massenphänomen.

Raymond Unger macht in seinem Buch deutlich, dass es ihm nicht um die Relativierung der deutschen Kriegsschuld und um das Aufrechnen von Toten gegeneinander geht. 6 Millionen getötete Juden und 26 Millionen Kriegsopfer auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion sprechen für sich. Unger:

„Mir geht es schlichtweg darum aufzuzeigen, dass bei der Generation der deutschen Babyboomer — im Vergleich zu anderen westlichen Staaten — eine statistisch ungleich höhere Wahrscheinlichkeit besteht, aus einer durch Gewalt vorbelasteten Familie zu kommen.“

Ob unsere Vorfahren an ihren Kriegserfahrungen „selbst schuld“ waren, hält er in diesem Kontext für weniger relevant. Ihm geht es vielmehr darum, die transgenerationale Belastung von Menschen deutlich zu machen, denen man definitiv nicht vorwerfen kann, für Hitler verantwortlich gewesen zu sein: den Nachkommen.

Unger hält fest, „dass es innerhalb der betroffenen Generation eine kaum zu bemessende Anzahl geleugneter Täterschaft gibt, das heißt, eine saubere Trennlinie zwischen ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ lässt sich in einem Gewaltraum so gut wie niemals ziehen.“ Er legt Wert darauf, „Deutschland bis 1945 als ebendiesen Gewaltraum zu erkennen, in dem sowohl durch Opferschaft als auch durch Täterschaft eine nahezu flächendeckende Betroffenheit der Bevölkerung gegeben war.“

Nachkriegsidylle mit Rissen

Es gibt erfreulicherweise mittlerweile viel Literatur über die Nachwirkungen von Krieg und Vertreibung sowie des Lebens in der Nazidiktatur auf nachfolgende Generationen. Grob kann man zwischen Kriegskinder- und Kriegsenkelliteratur unterscheiden. Kriegskinder haben in ihrer Kindheit noch selbst Kriegshandlungen — etwa Bombardierungen — oder Vertreibung miterlebt. Kriegsenkel sind die Nachfahren dieser Kinder, eine Altersgruppe also, der kaum jemand das Recht zugesteht, „sich zu beschweren.“

Meist sind damit die Geburtsjahrgänge zwischen 1955 und 1970 gemeint. Viele unserer Leserinnen und Leser dürften — wie auch ich selbst — davon betroffen sein. Es handelt sich zudem um starke Jahrgänge, „Babyboomer“. Deren Lebensthema ist meist nicht die Auseinandersetzung mit schwerer Schuld ihrer Väter in der Nazizeit — dies betrifft eher die klassischen Kriegskinder, häufig typische „68er-Jahrgänge“, deren Vertreter heute über 70 sind. Vielmehr erlebten Kriegsenkel ihre Eltern als Menschen, die selbst früh zu Opfern geworden waren und denen sie daher ihre Solidarität nicht verweigern durften. In einigen Fällen steigerte sich dieses Bemühen um Verständnis bis zur partiellen Selbstaufgabe.

Sabine Bode geht in ihrem Standardwerk „Kriegsenkel — die Erben der vergessenen Generation“ von einer verbreiteten psychischen Beeinträchtigung der Jahrgänge aus, denen es eigentlich von Beginn ihres Lebens an „gut ging.“ So schreibt Bode:

„Haben Eltern ihre seelischen Verletzungen nicht verarbeitet, dann kann es (…) zu einer ‚transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Erfahrungen führen, auch wenn die nachfolgende Generation selbst keinen derartigen Traumata ausgesetzt war.‘“

Viele in den betroffenen Altersgruppen werden das kennen: Die heute 50- bis 60-Jährigen verfügen über reichlich Therapieerfahrung, deren Eltern hatten das nicht nötig. Sie wirkten stabil, waren häufig sogar ausgesprochene „Zupacker“, die die übermäßige Zartheit ihres Nachwuchses nicht verstehen konnten. Schließlich hatten sie selbst weit Schlimmeres mit weit weniger Gejammer überstanden. Dennoch schwelte in Nachkriegsfamilien häufig etwas Drückendes, nicht Aufgearbeitetes, ja nicht einmal leicht Auszusprechendes. Eine Biedermeieridylle mit Rissen.

Mit angezogener Handbremse durchs Leben

Für Sabine Bode waren ihre Interviews mit Kriegsenkeln augenöffnend, etliche von ihnen kamen erst durch den Prozess der bewussten Aufarbeitung auf die Idee, was mit ihnen „nicht stimmte“.

„Es war für die meisten ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihr verunsichertes Lebensgefühl könnte von Eltern stammen, die sich nicht von ihren Kriegserlebnissen erholt hatten.“

Die Kriegsenkel machten deutlich, „wie stark Mutter und Vater, ehemalige Flüchtlingskinder, durch Vertreibung und durch den Neubeginn in einer größtenteils feindseligen Umgebung zeit ihres Lebens belastet blieben.“ Bode analysiert:

„Kinder sind äußerst feinfühlig. Sie spüren selbst jenes Grauen, das ihre Eltern tief in sich vergraben und deshalb nicht mehr in ihrem Bewusstsein haben.“

Viele Menschen, die den Krieg noch erlebt hatten, hatten bewusst nicht einmal das Gefühl, „etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben.“ Ihnen fehlte „der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen.“

Diese Haltung — eine Mischung aus Verdrängung, Verleugnung und gesundem Selbstschutz — hatte auf die Generation ihrer Kinder eine unbewusst belastende, ja lähmende Wirkung. Diese zeigte sich sogar in den Bereichen der Karriere und des privaten Lebensglücks.

„Diese Kriegsenkel haben alle geistigen Voraussetzungen, um ein erfolgreiches Leben zu führen, doch bei der Mehrzahl vermittelt sich der Eindruck: Sie sind emotional blockiert, sie stehen privat und beruflich auf der Bremse.“

Bode präzisiert:

„In den meisten Familien hatten keine Dramen stattgefunden. Stattdessen war die Rede von ‚Nebel‘ und von ‚Unlebendigkeit‘.“

Dieses Phänomen führte oft zu einem empfundenen Rollentausch. Da die Eltern derart versehrt waren, fühlten sich die Kinder aufgerufen, sich andauernd um sie zu sorgen und auf sie Rücksicht zu nehmen.

„Von klein auf hatten sie die Bedürftigkeit der Erwachsenen gespürt und versucht, es ihnen ‚leicht‘ zu machen. Damit war das Fürsorgeprinzip zwischen Eltern und ihren Kindern auf den Kopf gestellt.“

Die schuldlosen Schuldigen

Typischerweise nehmen die Eltern aber „keine eigene Beteiligung am Unglück ihres Kindes“ wahr. Dies ist teilweise verständlich, weil meist weder ein aktives schuldhaftes Handeln noch auch nur ungewollt fehlerhaftes Verhalten vorlag. Vielmehr war die Bedrückung, die Kinder spürten, atmosphärischer Natur. Und Eltern mit Horror-Lebenserfahrung fehlte vielfach das Verständnis für die vergleichsweise kleinen Wehwehchen ihrer Sprösslinge.

„Wahrscheinlich konnten diese Eltern nur wenig auf die psychischen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und erwarteten, dass diese angesichts der eigenen bedrückenden Biografie mit ihren so durchschnittlichen Problemen und Konflikten in Kindheit und Pubertät selbstständig zurechtkamen.“

Die Kriegseltern wurden von ihren Erinnerungen gejagt und kreisten somit bewusst oder unbewusste ständig um die Schwere ihrer Erfahrungen. Die Lebenswelt der Jüngeren, die von ihnen ja bewusst nach dem Motto „Meine Kinder sollen es mal besser haben“ gestaltet wurde, blieb ihnen im Grunde fremd. Bode diagnostiziert, „dass sie kein Sensorium für die seelischen Leiden ihrer eigenen Kinder hatten, die im Unterschied zu ihnen selbst in den besten aller Zeiten aufwuchsen“. Eine von Bodes Interviewten, Monika genannt, zitiert ihre Mutter wie folgt:

„Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Du weißt gar nicht, wie schlimm damals alles war — auch die Ankunft in Westdeutschland, wo uns keiner haben wollte.“

Eine andere schwere Belastung, die Kriegskindern vererbt wurde, bestand in quasi vererbtem Konformismus. Da der Nazistaat — und teilweise auch die Besatzungsmächte nach dem Krieg — mit absoluter Brutalität gegen jede Regung von Widerspruch und Rebellion vorgingen, war Anpassung für das physische Überleben essenziell. Eine Interviewpartnerin Sabine Bodes erzählt:

„Mutters Botschaft dagegen lautete: Bloß nicht auffallen. Bloß keine Veränderung. Bloß nichts riskieren. Bloß nicht sich wehren. Andere sind immer stärker. Man kann ja doch nichts machen.“

Der Effekt einer derartigen Erziehung ist bis in die Coronakrise hinein spürbar.

Die größte Hypothek, die Kriegsenkel von ihren Eltern und Großeltern mitbekommen haben, besteht jedoch in ererbten kollektiven Schuldgefühlen. Der heute 50- oder 60-Jährige hat mindestens 40 bewusst erlebte Jahre hinter sich, in denen ihm die Gräuel der NS-Zeit permanent vor Augen gehalten wurden. Während die mit Schuld beladene Großelterngeneration und die massiv vom Krieg betroffene Elterngeneration zum großen Teil schon verstorben und somit der Aufarbeitungspflicht entronnen sind, während auf der anderen Seite die Urenkel aufgrund ihrer späten Geburt gar nicht erst so tiefgreifend von dieser Dynamik betroffen waren, haben die Enkel bis heute daran zu knabbern. „Was konnte ich dafür, dass ich Deutsche war?“, berichtet eine der von Sabine Bode interviewten Frauen.

„Ich konnte nicht akzeptieren, dass uns die Lehrer — was ich damals diffus empfand — ihre eigenen unverdauten Schuldgefühle, die sie anstelle ihrer Eltern mit sich herumschleppten, rüberdrücken wollten.“

Vereinfacht gesagt, hatten die Großeltern Schuld, die Eltern empfanden sie — meist ohne selbst Verbrechen begangen zu haben — und die Enkel trugen beziehungsweise bearbeiteten sie. An sie wurde das Schuldgefühl weitergereicht wie eine heiße Kartoffel, an der sich zu verbrennen die Älteren für unzumutbar hielten. Dies alles lief natürlich unbewusst und ohne böse Absichten ab.

Väter und Söhne

Nun werde ich noch etwas persönlicher und berichte über meinen Vater, der — Jahrgang 1926 — sowohl Krieg als auch Kriegsgefangenschaft noch selbst erfahren hatte. In seiner Autobiografie „Ein Musikerleben“ beschrieb er sein erstes Fronterlebnis:

„Ausgestreckt liegend, presste ich mich an den vorderen Grabenrand, weil dann der Flugwinkel der Geschosse über mich hinweg gehen musste. In meiner Todesangst griff ich nach einem kleinen silbernen Kreuz, das mir meine Mutter bei unserem letzten Zusammensein um den Hals gehängt hatte. Ich hielt es fest in der Faust vor meinem Gesicht und betete: ‚Bitte, lieber Gott, verschone mich, beende diese schreckliche Hölle!‘

Es schien mir, als ob dieses Martyrium kein Ende nehmen wollte. Plötzlich eine totale Stille, jedoch fast gleichzeitig das hundertfache fanatische Gebrüll heranstürmender russischer Soldaten. Ich versuchte, den Graben entlang zu krabbeln, er war jedoch vollkommen verschüttet, sodass sein Verlauf kaum mehr zu erkennen war.

Plötzlich traf ich auf einen Kameraden, der mich mit weit aufgerissenen Augen ansah und auf dem Rücken, mit zerfetzten Beinen in seinem Blut lag. ‚Bitte nimm mich mit!‘, flehte er. Von Todesangst erfüllt, stürzte ich mich jedoch aus dem Graben, da das Gebrüll der Russen jetzt in meiner unmittelbaren Nähe erklang. Wie von Sinnen taumelte ich durch den Pulverdampf in eine unbestimmte Richtung.“

So weit die Erinnerungen meines Vaters. Ich betone hier, dass es mir nicht darum geht, speziell sowjetische Soldaten in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Wir wissen alle, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, und es war sicher ebenso beängstigend, wenn deutsche Soldaten heranstürmten. Aber so ist Krieg. So kann er sich anfühlen.

Am 2. Mai 1945 geriet mein Vater im eingekesselten Berlin am Bahnhof Friedrichstraße in russische Kriegsgefangenschaft. Der Transport in Richtung Gomel, Weißrussland, erfolgte teils durch erbarmungslose Fußmärsche, teils mit Eisenwagenwaggons, in denen die Gefangenen wie Vieh gehalten wurden, sodass sich der Boden der Waggons rasch mit Fäkalien bedeckte. Im Kriegsgefangenenlager Gomel wurden sie zu harter körperlicher Arbeit abgestellt. Mein Vater überlebte nur mit viel Glück. Als begabter Geiger gelang es ihm, seine russischen Bewacher mit einer selbst gegründeten Lagerkapelle zu deren Zufriedenheit zu unterhalten, was ihm Extraportionen Essen einbrachte.

Verbotene Unbeschwertheit

Ich bin froh, dass wir diese schriftliche Autobiografie, die mein Vater 2006 mit fast 80 Jahren zu Papier brachte, jetzt in Händen halten. Es ist nicht selbstverständlich, dass Kriegsbeteiligte überhaupt in so offener, teilweise drastischer Weise über ihre Erlebnisse reden.

Was da vor unserem inneren Auge vorbeizieht, ist nicht gerade ein „Feel-Good-Movie“. Es geht an die Nieren. Letztlich ist es ein „Film“ mit vielen extrem spannenden Momenten, an denen das Leben der Hauptfigur am seidenen Faden hängt. Ein negativer Ausgang der Geschichte hätte sozusagen meine Nicht-Existenz zur Folge gehabt, denn ich würde ja gar nicht existieren, hätte mein Vater eine der vielen gefährlichen Situationen nicht überlebt.

Ohne dass damit die Kriegsschuld Deutschlands geschmälert wird, macht der Bericht meines Vaters einigermaßen anschaulich, wie es sich angefühlt haben mag, Soldat gewesen zu sein. In der Nachkriegszeit war allerdings eher eine allgemeine Verweigerung von Mitgefühl beziehungsweise Selbstmitgefühl üblich, wenn es zum Beispiel um — auch seelisch — Kriegsversehrte, ehemalige Flüchtlinge und Kriegsgefangene geht. Dieses Verbot, darüber zu „klagen“, führte dazu, dass Betroffene das Erlebte noch mehr in sich hineingefressen haben, was wiederum nicht gut war für die Atmosphäre in Nachkriegsfamilien.

Deutsche der Kriegsenkelgeneration schienen indes zur Nichtwahrnehmung eigener Versehrtheit und zur kollektiven Selbstbeschimpfung verpflichtet zu sein, auch dazu, gedanklich um die Leiden anderer Gruppen zu kreisen — und zwar bis heute. Den Leiden der Opfer anderer Länder verweigere ich damit in keiner Weise meine Anerkennung.

Nur: Uns als spätgeborenen Einzelmenschen wurde das eigentlich simple Recht vorenthalten, uns als unschuldig zu verstehen, wo wir unschuldig waren. Es bestand und besteht ein Unbeschwertheitsverbot, das das Leben einiger Generationen zumindest vergällt hat. Bei den Jüngeren hat sich die Dosis dieses Gifts wenigstens schon etwas verdünnt, sie hatten keine primärtraumatisierten Eltern. Aber heute 50- oder 60-Jährige hat es schwer erwischt.

Der Fremde im eigenen Haus

Es erweitert den Horizont auf jeden Fall enorm, Kriegsschilderungen aus erster Hand, also Botschaften aus einer scheinbar fernen, dunklen Welt zuzuhören. Über die Verdrängung als psychische Überlebenstechnik schreibt mein Vater:

„Wenn man in bestimmten Situationen praktisch sekündlich vom Tode bedroht ist, setzt nach einer bestimmten Zeit eine innere Wandlung ein. Der Geist schirmt sich in gewisser Weise von der Wahrnehmung der Todesgefahr ab. Es tritt ein gewisser Selbstschutzmechanismus ein.“

Man kann die Autobiografie meines Vaters nicht lesen, ohne im äußersten Maß abgestoßen zu sein — nicht nur von den menschenverachtenden Taten der Nazis, sondern vom Militär insgesamt: von der Praxis, Menschen zu demütigen, ihren Willen zu brechen, sie in willfährige Werkzeuge zum Töten und Sterben zu verwandeln.

Ein Vater mit einem Kriegsschicksal bleibt mit einem Teil seines Wesens immer der große Unbekannte im eigenen Haus. Selbst wenn offene Kommunikation über die Kriegserlebnisse möglich ist — was der nicht immer erreichte Idealzustand ist —, liegt im Erinnerungsdepot des Vaters etwas Dunkles, das hineinragt in die hellere Lebenswelt, die Vater und Kind zusammen bewohnen. Eine Schwere und Tiefe, die den Charakter des Nachgeborenen unterschwellig mitprägt.

Gelegentlich beobachte ich an mir Eigenschaften, die meiner Lebenssituation gar nicht angemessen erscheinen, die aber Sinn machen, wenn man sie auf die Lebensgeschichte meines Vaters bezieht. Ich esse immer meinen Teller leer, auch wenn ich keinen Hunger mehr habe. So als sei es meine Pflicht, die Kostbarkeit von Lebensmitteln zu würdigen. So als könnte jede Mahlzeit die letzte sein. Ich bin oft in einer Weise verschlossen, als hinge von der strengen Geheimhaltung meines Innenlebens mein Leben ab. Zum Vergleich eine Stelle aus der Autobiografie meines Vaters:

„Zum Glück hatte ich von Anfang an verstanden, dass ich die Gefangenschaft nur mit äußerster Vorsicht und Verschwiegenheit überleben konnte.“

Ein schweres und lähmendes Land

Mein Verhältnis zu Obrigkeiten ist gestört, ohne dass ich selbst Schwerwiegendes erlebt hätte. Eine Mischung aus Ängstlichkeit und vorschneller gehässiger Verurteilung, dem leicht erhobenen Vorwurf des „Faschismus“, prägt meinen Umgang mit Behörden, Polizei und Militär. Dieses Verhalten setzte sich bis in jüngste Zeit fort und bewirkte, dass ich spontan sehr „allergisch“ auf die zunehmende Entrechtung und Freiheitsberaubung der Bürger in der Coronazeit reagierte.

Trotz meiner reichlich ausagierten, meist auf das Schriftliche begrenzten Rebellionsversuche, ergreift mich andererseits oft ein philosophisch untermauerter Fatalismus. Ich gehe unbewusst davon aus, ich müsste schlechte Behandlung durch andere wie ein Schicksal hinnehmen, das ungleich größer und mächtiger ist als ich, das mein Leben überrollt, und dem ich nur in einer Haltung unauffälliger, abwartender Vorsicht entrinnen kann.

Neben diesen Charakteraspekten, die wie Nachahmungen der Eigenschaften meines Vaters erscheinen, gibt es andere, die offenbar der Kompensation dessen dienen, was ich am Charakter meines Vaters vermisste. Ich fühle mich quasi verpflichtet, seine — von mir so empfundenen — blinden Flecken auszufüllen. So habe ich lange Zeit mit geradezu selbstquälerischem Eifer alle Filme, Bücher und Dokumente aus der Nazizeit studiert. In diesem Aspekt bin ich quasi noch ein Spät-68er.

Mehr noch als die thematische Beschäftigung mit dem Dritten Reich ist für mich eine atmosphärische Düsternis charakteristisch, die nicht zu meinem Lebensweg zu passen scheint. Denn es ging mir ja immer gut. Mit Blick auf die von der Kriegsenkelliteratur zutage geförderten Erkenntnisse erfüllt mich dieses „Gutgehen“ jedoch teilweise auch mit bitteren Gefühlen.

Es ist ja spannend, sich mit diesen dunklen Themen auseinanderzusetzen — Krieg, Tod, Schuld und Diktatur. Es verschafft einem die Befriedigung, seine Kräfte rast- und freudlos, jedoch tapfer für die Sache des Guten zu verschleißen. Aber wie gern hätte ich oft auf diesen Aufarbeitungsheroismus verzichtet, hätte mich unbeschwert gefühlt und im Einklang mit mir — und, ja: auch mit diesem oft schweren und lähmenden Land, meiner so dunklen wie im Grunde auch schönen Heimat.

Die nicht erbrachte Leidensleistung

Wer als Jugendlicher im Krieg und in Kriegsgefangenschaft war, wurde — sofern er überlebt hat — auf die brutalste mögliche Weise „initiiert“, also ins Erwachsenenleben eingeführt. Alle noch weichen, kindlichen Seelenanteile mussten um jeden Preis niedergerungen und dem Kampf ums nackte Überleben untergeordnet werden. Verglichen mit den Vätern sind wir Söhne ungenügend initiiert, blieben mangels ernsthafter Herausforderungen lange „jugendlich“, unreif.

Merkwürdigerweise hat sich bei mir ein schlechtes Gewissen deswegen eingeschlichen, weil ich zu wenig gelitten, zu wenig gekämpft hatte. So als hätte mein Versagen weniger in einer zu geringen Lebensleistung, sondern vielmehr in einer nicht erbrachten „Leidensleistung“ bestanden, die mein Vater reichlich vorweisen konnte.

Als Ausgleich entwickelte ich eine fast absurde Begabung dafür, mir selbst Probleme zu erschaffen, die eigentlich unnötig waren — oder mir wegen relativ geringfügiger Schwierigkeiten übermäßig „einen Kopf zu machen“. So als sei ich mit einer dünneren Haut geboren. All das schreibe ich hauptsächlich, weil ich annehme, dass es sich nicht ausschließlich um ein privates Phänomen handelt, vielmehr um ein „Kriegsenkelsyndrom“, das sich bei verschiedenen Betroffenen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigt.

Vor dem Hintergrund meiner Familiengeschichte neige ich dazu, auch heutige russische Soldaten nicht vorschnell zu verurteilen, die von einer übermächtigen Staatsführung in ein furchtbares, von ihnen eigentlich nicht gewolltes Schicksal hineingezwungen wurden — zurechtgeschliffen in einer erbarmungslosen Militärausbildung, an die Front getrieben, um Lebensgefahr und mitunter schwere Schuld zu erfahren.

In vieler Hinsicht „sind“ diese Soldaten auch mein Vater. Und die ukrainischen Vertriebenen, die mit wenig Sack und Pack in den Westen ziehen müssen, „sind“ meine Mutter, denn diese musste als Kind nach dem Krieg aus Schlesien nach Westdeutschland übersiedeln. Die Menschen, die die Nächte unter Beschuss erlebt haben — in Kiew und jetzt in Mariupol — „sind“ meine Verwandten. All das kann einem sehr nahe gehen, wenn man es an sich herankommen lässt.

Man kann darüber streiten, wie viel Schuld die ausführenden Soldaten tragen, ob etwa Flucht, radikaler Pazifismus, Befehlsverweigerung realistische Option gewesen wären. Nur erzähle mir bitte niemand, ausgerechnet die Menschen, die an der Spitze dieser furchtbaren Befehlskette stehen, seien unschuldig!

Ukraine: Es geht alles von vorne los

Nicht jeder „muss“ sich mit düsteren und belastenden Kriegsgeschichten auseinandersetzen. Wer allerdings für den derzeitigen russischen Angriff auf die Ukraine sehr viel Verständnis hat, der sollte zumindest wissen, wovon er spricht, wenn er „Krieg“ sagt. Dasselbe gilt für Menschen, die den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, den Irakkrieg der USA und andere Großtaten der „freien Welt“ gutgeheißen haben oder Deutschland partout jetzt wieder zur Kriegspartei machen wollen.

Jemand kann sich, von den Medien angestachelt, leicht in einen Heroismus hineinsteigern, kann Opfer und Durchhaltewillen beschwören, vor allem wenn es um die Leben anderer — meist junger Männer — geht. Aber man sollte sich zumindest nicht darüber täuschen, mit wie viel Leid es für Menschen verbunden sein kann, wenn Hobbygeneräle vom Fernsehsessel aus Anfeuerungsrufe in Richtung Front ausstoßen.

Und das Schlimmste ist: Es geht jetzt alles wieder von vorne los. Einmal angenommen, der Ukrainekrieg wäre vorbei — unabhängig davon, wer Sieger oder Verlierer ist: Es wäre nur der Beginn einer vielleicht weniger blutigen, dafür umso trübsinnigeren Geschichte. Einer Geschichte traumatisierter, seelisch — und oft auch körperlich — verkrüppelter Menschen, die mühsam versuchen, in einer Trümmerlandschaft wieder Fuß zu fassen und mehr schlecht als recht „nach vorne zu schauen“.

Eine Geschichte von empfundener, oft auch verdrängter, verleugneter und projizierter Schuld, die die Atmosphäre in den betroffenen Ländern noch für Generationen vergiften wird. Eine Geschichte von dunklen, über ihren inneren Abgründen brütenden Vätern. Von Kindern, denen es „eigentlich gut geht“ und die nicht verstehen, warum sie sich eher mühsam durch ihr Leben bewegen wie durch graue und klebrige Spinnweben. Von Müttern, die ihnen einschärfen, dass sie gegen die Obrigkeit „sowieso nichts machen können.“ Geschichten von eingetrübter Hoffnung und verratenem Lebensglück.

Kein Krieg ist je gerecht

Immer trifft es mindestens drei Generationen. In diesem Fall: ukrainische und russische Kriegsbeteiligte, deren Kinder, die Nächte unter Todesangst in Kellern und U-Bahn-Schächten verbringen müssen — und deren Enkel, die daran noch in 50 Jahren zu knabbern haben. Diese Morgigen werden an die heutige Politikergeneration in Ost und West und deren Unterstützer in der Bevölkerung noch oft denken — und ihre Gedanken werden keine freundlichen sein. Jene, die unter einem Krieg leiden, sind fast nie diejenigen, die ihn begonnen und befürwortet haben. So schreibt Reinhard Mey in seinem Lied „Die Waffen nieder“, angelehnt an den berühmten Sachbuchtitel der Pazifistin Bertha von Suttner:

„Und Krieg ist ein Verbrechen, kein Krieg ist je gerecht.
Und ihr, die ihn uns schönredet und das Gelübde brecht,
euch fromme Beter hör ich nun eifrig die Trommel rühr‘n,
um andere Leute Kinder in eure Schlachten zu führ‘n.“

Und wieder zeigt Reinhard Mey seine große Stärke, indem er eine Situation nahe heranzoomt und menschliches Schicksal in seinen furchtbaren Details beleuchtet:

„Manchmal seh ich unter dem Helm ein Kindsgesicht,
aus dem blankes Entsetzen, die schiere Verzweiflung spricht,
wenn es erschüttert sehen muss, für welch schändliche Tat,
für welch schmutziges Verbrechen es sich hergegeben hat
und ahnt: Die Schuld wirst du nicht los, nie wieder. Nie wieder Krieg.
Die Waffen nieder!“


Roland Rottenfußer, Jahrgang 1963, war nach dem Germanistikstudium als Buchlektor und Journalist für verschiedene Verlage tätig. Von 2001 bis 2005 Redakteur beim spirituellen Magazin "connection", später für den „Zeitpunkt“. Aktuell arbeitet er als Lektor, Buch-Werbetexter und Autorenscout für den Goldmann Verlag. Seit 2006 ist er Chefredakteur von Hinter den Schlagzeilen.


Erstveröffentlichung: https://rubikon.news

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