Köln-Debatte

Der Niedergang des öffentlichen Raumes

15.01.2016 - Dr. Christoph Quarch

Oh, wie die Debatte zäh ist! Schuldzuweisungen von rechts nach links, von links nach rechts. Opfer werden Täter, Täter werden Opfer. Jeder redet mit und tischt die alten Dogmen auf: Feministen und Faschisten, Politiker und Pädagogen, Fremdenfreunde, Fremdenfeinde. Allen sehen sich bestätigt, alle kennen ihre Feinde. Alle wissen, wer an allem schuld ist. Und der Schwarze Peter wandert um den Kölner Dom herum.

Welch‘ bedrückendes Spektakel, das mehr als die Vorfälle selbst den beklagenswerten Zustand unserer Gesellschaft spiegelt!

Was in der Silvesternacht wirklich geschah, habe ich noch nicht erfahren. Zuwenig ist bekannt über die Vorfälle: die Täter und die Opfer, die Zeugen und die Einsatzkräfte. Kein Kommentar ist mir hier möglich. Wohl aber, was die Reaktionen und den Wirbel angeht, der nun in unserem Land entfacht ist. Und dort vermisse ich den wachen Blick, der weiter reicht als bis zu den üblichen Verdächtigen; der tiefer dringt als zu den alten Dogmen.

Mehr Kameras genügen nicht

Die Vorfälle von Köln zeigen zunächst eines: Der öffentliche Raum ist in Ge-fahr. Wenn es gefährlich wird, allein als Frau – oder als Mann, gleichviel – in der Silvesternacht den Bahnhofsvorplatz zu durchqueren, dann stimmt et-was nicht mehr: Dann stimmt etwas nicht mehr, das nicht allein durch mehr Kameras und mehr Einsatzkräfte repariert werden kann. Dann stimmt et-was in den Köpfen und Herzen derer nicht, die diesen öffentlichen Raum miteinander teilen. Dann ist das ein Indiz dafür, dass der politische Raum im Denken und Fühlen verkommen ist. Und das ist ein Problem, das von weither rührt und nicht erst seit gestern zu beobachten ist.

Was ist der öffentliche Raum? Was ist der Raum des Politischen? Er ist der Raum der Begegnung – ein Raum, in dem wir anderen begegnen. Begegnen,
das ist mehr als bloß Geschäfte machen. Der öffentliche Raum ist mehr als nur ein Marktplatz. Begegnen ist auch mehr als sich den anderen zeigen. Der öffentliche Raum ist mehr als eine Bühne für die Selbstdarstellung und Konsum. Er ist der Raum, worin sich Menschen frei bewegen können, wo sie sich als Personen treffen können, ohne damit rechnen zu müssen, als Kun-den, Zuschauer oder Verbraucher missbraucht zu werden. Der öffentliche Raum wird allenthalben missbraucht – ebenso wie die Menschen in ihm, „Täter“ und „Opfer“ gleichermaßen. In Wahrheit sind diese Kategorien gänzlich unangemessen für das, worum es hier tatsächlich geht: um ein gra-vierendes kulturelles Problem, um den Niedergang des Gemeinsinns.

Alles ist warenförmig

Wir haben eine Welt geschaffen, in der ein jeder um sich selber kreist und danach fragt, wie er für sich am meisten rausholen kann. „Das, was du willst, das kannst du haben“, so schreit es von den Werbeflächen, „du musst nur auf dem Markt bestehen, musst gut sein, musst dich zeigen! Mache dich zur Ware und dir steht die Welt der Waren offen.“ Alles wird warenförmig, wird verfügbar. Alles ist zu haben, alles ist zu wollen. So missverstehen wir das große Wort der „Freiheit“, das in diesen Tagen gern gesprochen wird.

Der Preis, den wir dafür bezahlen, sind Verbindlichkeit und Zugehörigkeit; ist das Politische. Wo es nur darum geht, als Ware unter Waren zu bestehen und konkurrenzfähig zu bleiben, erscheint uns niemand mehr als „Du“, wie Martin Buber sagte. Wir sehen uns umgeben von Objekten, die wir nutzen und gebrauchen können, wie es uns gefällt. Wir selber machen uns zu Ob-jekten, die ihre Erfüllung darin finden, bei hohem Profit gebraucht und kon-sumiert zu werden – oder möglichst günstig andere Objekte zu konsumie-ren und zu verbrauchen: egal ob vegane Kost oder Pornos, egal ob Men-schen oder Informationen. Wir sind Verbraucher – und wir machen Selfies.

Was geht mich das an?

Ein solches „Leben“ aber kann nur führen, wer sich verkapselt: wer sich ab-koppelt von der Gemeinschaft, keine Verbindungen mehr eingeht, keine
Verbindlichkeiten mehr zulässt, unberührbar wird und dessen Mantra lau-tet „Was geht mich das an?“ Wenn aber andere und anderes einen nichts mehr angehen, verfällt der öffentliche Raum zu Markt und Bühne, die man nutzen kann – dann hört er auf, der Ort zu sein an dem einem Personen als ein Du begegnen. In einem solchen Raum kann nur bestehen, wer schon durch Konsumismus und Egozentrismus vorformatiert und besser defor-miert ist. Hier kann man nur noch leben, wenn einen der Rest nichts angeht; wenn man seine Selfies macht und sich auch sonst in „Freiheit“ selbst be-sorgt, was man gern haben und verbrauchen will.

Wie aber geht es Menschen, die die Spielregeln nicht kennen? Wie geht es solchen, die es nicht gelernt haben, das bindungslose Spiel der Elementar-teilchen mitzuspielen? Die Ernst machen mit der allgegenwärtigen Verhei-ßung, der öffentliche Raum sei ein Marktplatz, auf dem man Waren konsu-mieren kann – und die sich diese Waren rauben, wenn sie sonst nicht an sie kommen? Sind diese Menschen nicht ein Spiegel, der uns vorgehalten wird – ein Spiegel der uns zeigen kann, wozu wir uns und unseren öffentlichen Raum gemacht haben?

Es gibt kein Wir mehr

Die Vorgänge von Köln lehren vor allem eines: Wir haben es versäumt, unsere Kultur zu pflegen. Wir haben es versäumt, uns als Teile eines Gemein-wesens zu betrachten, die für den Bestand des öffentlichen Raumes und der Kultur echter Begegnung von Ich zu Du verantwortlich sind. Anstelle einer Gesellschaft, der man dienen könnte und müsste, ist da ein Heer von Ele-mentarteilchen, die sich bedienen und derer man glaubt, sich bedienen zu können. Wir haben es zugelassen, das unsere Gesellschaft auseinanderfällt – so dass da kein in sich stimmiges Ganzes mehr ist, das eine Million Flücht-linge in sich aufnehmen könnte. Das Drama lässt sich auf die Formel brin-gen: Es gibt kein Wir mehr, das das schaffen könnte.

Das ist die eigentliche Pathologie, deren Symptome in der Silvesternacht erkennbar wurden. Sie zu kurieren, ist die Aufgabe, vor der wir alle stehen. Sie zu bewältigen, erfordert viel Geduld und ein radikales Umdenken. Wir
müssen wieder lernen, das Politische zu pflegen. Und da die wenigsten noch wissen, was das ist, ist es die Pflicht des Staates, seine Bürger darin auszu-bilden. Nur eine solche Pflicht wird unsere Freiheit retten: die wahre Frei-heit, die aus mehr besteht als aus dem faulen Spiel, mit nichts und nieman-dem verbunden zu sein und nichts Verbindliches zu akzeptieren. Das Ge-meinwesen ist das Verbindliche und es steht ihm zu, das darin zu bekunden, dass es seine Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt. Wir brauchen einen Bürgerdienst für alle – für Einwohner und Zuwanderer – bei dem wir wieder praktisch einüben und lernen, was wir wirklich sind: Wesen der Verbundenheit, zoon politikon, wie Aristoteles schon wusste.

 

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