Neujahrsgedanken

Die angsteinflößende Aussicht auf ein Rennen in die Freiheit

01.01.2022 - Marianne Williamson

Wenn wir in dysfunktionalen Komfortzonen bleiben, anstatt Veränderungen vorzunehmen

Die Probleme, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind von der Umweltzerstörung über psychische und physische Gesundheitsprobleme bis hin zu systemischen wirtschaftlichen, rassischen und sozialen Ungerechtigkeiten spiegeln einen grundlegenden Fehler in der Art und Weise wider, wie wir als menschliche Wesen kollektiv funktionieren.

Viele Personen haben inzwischen argumentiert, dass jedes Problem ein spirituelles Problem ist, und so ist es auch. Es läuft etwas grundlegend schief in der Art und Weise, wie wir uns selbst und den Sinn unseres Lebens auf den fundamentalsten Ebenen wahrnehmen und das ist die Wurzel all unserer Probleme. Der spirituelle Weg ist der Weg des Herzens. Jeder andere Weg ist ein Umweg und dieser Umweg ohne Ehrfurcht, Hingabe, Barmherzigkeit und Liebe hat uns als Spezies an einen so gefährlichen Punkt geführt, dass wir uns buchstäblich selbst zerstören könnten, wenn wir nicht die Richtung wechseln.

Doch wie es in Ein Kurs in Wundern heißt: "Manche Menschen würden lieber sterben, als ihre Meinung zu ändern." Das Problem ist nicht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, auf diesem Planeten zu leben; das Problem ist, dass wir diese Möglichkeiten vermeiden. Von der Energieproduktion über den Umweltschutz und den Anbau von Nahrungsmitteln bis hin zur Art und Weise, wie wir die Wirtschaft führen und mit anderen Nationen umgehen es gibt einen anderen Weg. Aber unsere Komfortzonen, so pervers dysfunktional sie manchmal auch sind, sind immer noch das, was uns am vertrautesten ist. Oft ziehen wir es vor, bei dem zu bleiben, von dem wir wissen, dass es schlecht für uns ist, anstatt uns auf etwas zu stürzen, von dem wir wissen, dass es besser sein könnte.

Ein gutes Beispiel für einen solchen Widerstand ist die Reaktion der Israeliten, als Mose ihnen mitteilte, dass sie befreit worden waren. Der Pharao hatte endlich aufgrund einiger schwerwiegender Aufforderungen durch Plagen, Heuschreckenschwärme usw. Moses Forderung "Lasst mein Volk ziehen" nachgegeben.

Waren die Israeliten vor Freude aufgesprungen, mit dem Ausruf: "DANKE, MOSES! Wir haben so lange in Sklaverei gelebt, und jetzt werden wir frei sein! Wir können dir nicht genug danken!"

Nein, das waren sie nicht.

Vielmehr schrien sie: "Was zum Teufel hast du getan? Ja, wir sind hier Sklaven, aber wir bekommen genug zu essen, und er lässt uns leben, also was sollen wir tun?! Einfach in die Wüste gehen?? Welcher Weg? Wohin? Es gibt keine Straße! Wohin sollen wir denn gehen? Welches gelobte Land?!? Bist du verrückt?"

Und wie in den meisten biblischen Geschichten kommt darin eine tiefe, archetypische Wahrheit zum Ausdruck, die heute so wahr ist wie sie es vor Tausenden von Jahren war. Die Menschen widerstehen der Freiheit, derer sie sich nicht sicher sein können, und haften sich an die Gefangenschaft, die sie sehr gut kennen. Das Unbekannte kann beängstigend sein.

Wir leben also auf eine Weise, die fast zwangsläufig auf eine planetarische Katastrophe zusteuert sei es eine ökologische, nukleare, biochemische oder irgendeine andere Form von Katastrophe, und doch scheinen die Hauptakteure, die Antreiber des Weltgeschehens, darauf bedacht zu sein, sich jeder grundlegenden Richtungsänderung zu widersetzen. Denn für diese Antreiber würde ein solcher Wandel eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation bedeuten so glauben sie zumindest. (Jemand sollte sie vielleicht fragen, wer nach einem Atomkrieg, einem Umwelt-Holocaust usw. reich sein wird, aber das ist ein anderes Thema. Warum scheint es manchen Menschen mehr Angst zu machen, die Antreiber herauszufordern, als ihnen in den kollektiven Untergang zu folgen?

Die jungen Leute verstehen das natürlich und sind trotzdem bereit, etwas zu verändern. Das Schöne an der Jugend ist, dass man den Tod nicht wirklich fürchtet, weil man noch nicht ganz akzeptiert hat, dass man tatsächlich sterben wird. Wie David Bowie so schön sagte: “And these children that you spit on/ as they try to change their world/ are immune to your consultations/They are well aware of what they’re going through.” ("Und diese Kinder, auf die ihr spuckt/ wenn sie versuchen, ihre Welt zu verändern/ sind immun gegen eure Ratschläge/ sie wissen sehr wohl, was sie durchmachen.")

Sowohl bei jungen als auch bei älteren Menschen gibt es ein wachsendes Crescendo beim Engagement für gesellschaftliche Veränderungen. Bei den jungen Menschen liegt es daran, dass sie nicht bereit sind, ihr Leben auf einem Crashkurs in die Katastrophe zu leben. Bei den Älteren liegt es daran, dass wir nicht in dem Wissen sterben wollen, vor unserem Lebensende nicht alles uns menschenmögliche für die Verbesserung der Welt getan zu haben. Und das ist in der Tat eine gesunde Sache. Diejenigen, die vor dem Aufbruch in das Unbekannte Angst haben, werden denjenigen, die den Aufbruch versuchen wollen, bald zahlenmäßig unterlegen sein. Als ich jung war, lautete der Anti-Kriegs-Spruch zum Vietnam-Krieg: "Hell no, we won't go!" Heutzutage ist es ein unausgesprochenes, aber ebenso leidenschaftliches "Hell no, we won't go along!" Zu viele von denen, die das Gemeinwohl schützen sollten, haben es stattdessen in Stücke gerissen. Das haben wir jetzt verstanden, und die Welt wird nicht mehr dieselbe sein.

Ich glaube, 2022 wird ein dramatisches Jahr. Jene, die sich weiterhin für den altbekannten Umgang mit dem Weltgeschehen einsetzen, werden weiterhin darauf festgelegt sein, und jene, die sich für die Veränderung der Lauf der Dinge einsetzen, werden sich erheben und zurückdrängen. Wir befinden uns in revolutionären Zeiten. Es wird diese Revolution geben, ob wir es wollen oder nicht. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungen sind untragbar, so wie Energie, die unter einem Vulkan aufsteigt. Die Spannungen werden zu Explosion führen. Die einzige Entscheidung, die wir zu treffen haben, ist die, ob wir uns einem gewalttätigen oder einem gewaltlosen Wandel stellen; einer Explosion der Angst oder einer Explosion der Liebe.

Ich glaube, dass Mose einen Bewusstseinszustand symbolisiert, ebenso wie der Pharao. Der Pharao symbolisiert das auf Angst basierende Ego, das den Geist versklavt. Seine Grausamkeit nimmt sowohl die Form von persönlichem Leid als auch gesellschaftlicher Ungerechtigkeit an. Mose ist der Teil von uns, der sagt: "Schluss damit. Das muss aufhören. Ich bin bereit, Gottes Weg der Erlösung zu nachzufolgen".

Nächstes Jahr werden wir uns entscheiden müssen. Wir werden gemeinsam auswählen, ob wir in der Sklaverei des Pharaos bleiben oder uns für den Exodus ins Gelobte Land entscheiden. Neutralität wird keine Option sein. Und wie man zu meiner Jugendzeit zu sagen pflegte: "Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems." Die Lösung besteht nicht in einer neuen Form von "more of the same" denn das ist im Grunde das Problem. Ein schrittweiser Wandel ist eine unzureichende Antwort auf die Gefahren dieser Zeit. Wir brauchen eine unabdingbare Hinwendung zu wahrer Liebe, und alles, was die Erde ohne Liebe, die Wirtschaft ohne Liebe, die Tiere ohne Liebe oder unsere Mitmenschen ohne Liebe behandelt, muss auf den Prüfstand gestellt und, im Grunde genommen, fallengelassen werden. Andernfalls müssen wir mit Heuschrecken rechnen (sind sie nicht schon da?). Wir müssen mit Plagen rechnen (sind sie nicht schon da?) und wir müssen auch allem voran mit Mose rechnen.

Er ist auch schon da. Er ist eine Geisteshaltung, die sich bereits in so vielen Menschen auf der ganzen Welt, die einen anderen Weg aufzeigen, erhebt. Lasst uns ihm folgen. Lasst uns ihm jetzt folgen.

 


Marianne Williamson ist US-amerikanische Autorin, politische Aktivistin und war Kandidatin zur Präsidentschaftswahl 2020 für die Demokratische Partei. Mehrere ihrer Bücher wurden bisher ins Deutsche übersetzt.

(Deutsche Übersetzung des Artikels von Olivia Haese)

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