Rezension

Die Eisenbahn in der Kunst

01.04.2022 - Dr. Burkhard Luber

Der Umfang des 1878 veröffentlichten “Amtlichen Reichskursbuches”: 1650 Seiten!

Man weiß nicht, über was man sich bei diesem Buch und seinem Autor mehr freuen kann: Über den Eisenbahn-Enthusiasmus von Hugbert Flitner oder seine Liebe zu den vielfältigen Illustrationen, mit dem er das Thema Eisenbahn vorstellt. Jedenfalls kann man dem Verlag Ellert und Richter für die Mühe gratulieren, dass er diesen so hervorragend gestalteten Band herausgegeben hat.

Flitner nimmt die/den LeserIn auf eine grandiose Zeitreise mit, die nicht nur im engeren Sinne die Eisenbahngeschichte seit ihrem Beginn betrifft, sondern auch den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem diese Revolution des Verkehrs Land und Leute prägte. Und diese Zeitreise illustriert der Autor mit entsprechenden sorgfältig ausgewählten Illustrationen. So ist es sowohl für technikaffine Menschen wie auch Kunstliebhaber grandios, diese Sammlung von die Eisenbahn thematisierenden Bilder präsentiert zu bekommen. Nur eine Auswahl der im Buch vertretenen KünstlerInnen:

William Turner, Adolph Menzel, Paul Cézanne, Édouard Manet, Claude Monet, Vincent van Gogh, Käthe Kollwitz, Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Max Beckmann. Allen Bilder merkt man den nachhaltigen Eindruck an, den das neuartige Fortbewegungsmittel auf die Künstler gemacht hat: Die Wucht der Technik und die Bewunderung menschlicher Ingenieurskunst, aber auch welche Veränderungen Natur und Menschen durch die Eisenbahn-Revolution und ihren zigtausend neu gebauten Schienen in Europa erfuhren.

Flitner führt uns mit eindrucksvoller Mühe und mitunter akribischen Details durch die Galerie seiner Eisenbahn-Kunstbilder. Jede Abbildung ist mit einem eigenen ausführlichen Text versehen, in dem der Autor auf die unterschiedlichen Akzente hinweist, die die Künstlerinnen und Künstler in ihren Eisenbahn-Präsentationen verewigt haben: Landschaft und Himmel, reisende Menschen und Blicke auf den Eisenbahnstrang, die volle Kraft des Dampfes aber auch die Einschnitte, mit der Planer ihre Vision eines immer längeren und weitverzweigteren Netzes in die Tat umgesetzt haben. Und speziell in den drei Bildern von Hans Baluschek (“Arbeiterstadt”, “Die Auswandernden” und “Bahnhofshalle” (Lehrter Bahnhof) werden auch sozialkritische Momente erfasst.

Flitner hat es in seiner mit so viel Fleiß hergestellten und vom Verlag so grandios layouteten Publikation dankenswerter nicht nur bei Bildern und sie erläuternden Text belassen, sondern stellt seiner Sammlung ein höchst instruktives einleitendes Kapitel “Die Eisenbahn in der Kunst” mit den drei Untertiteln Die Technik - Der Mensch - Die Maler voran.

Einige kleinere Defizite und Ungenauigkeiten, die für so einen Eisenbahnkenner wie Flitner eher erstaunlich sind, vermögen den großartigen Gesamteindruck des Werkes nicht ernsthaft zu trüben, sollen aber auch nicht unerwähnt bleiben. So erstaunt, dass bei dem Loblied des Autors auf die Sicherheit der Eisenbahn (Seite 29) das verheerende ICE-Unglück 1998 bei Eschede  mit über 100 Toten unerwähnt bleibt. Umgekehrt ist Flitner auf Seite 15 der DB-Zeit erheblich voraus (oder er hat im Eifer die Zuggattungen ICE und IC verwechselt): erst fünf Jahre nach (!) Erscheinen seines jetzigen Buches plant die Deutsche Bahn mit dem Zugtyp ICE 4 erstmalig IntercityExpress Züge mit zwei Stockwerken fahren zu lassen. Und in dem Abschnitt “Uhrzeit” (S. 27) hätte vielleicht die Skurrilität Eingang finden können, in der sich die Schweizer Bundesbahn 1980 befand, nachdem sich die Schweiz bei der Einführung der Sommerzeit in ganz Europa auf Initiative speziell der Schweizer Bauernbevölkerung (Slogan: “Kühe kennen keine Sommerzeit”) geweigert hatte die MESZ auch in der Schweiz einzuführen. Folgerichtig mussten nämlich deswegen alle internationalen Züge, die an Grenzbahnhöfen wie zum Beispiel Basel oder Chiasso mit der in Deutschland und Italien gültigen MESZ ankamen, zwangsweise eine Stunde Stopp einlegen, um anschließend mit der in der Schweiz konformen MEZ weiterfahren zu können. Allerdings hielt die Schweiz diese singuläre “Schweiz-Zeit” nur einen Fahrplanperiode durch, bis das Parlament auf Druck der Schweizer Geschäftswelt ihre Zeit wieder mit der des übrigen Europas harmonisierte. - Nostalgische Bahnfans werden sich vielleicht auch besonders wehmütig an die Abschaffung des gedruckten DB-Kursbuches im Jahr 2008 erinnern, wenn sie auf Seite 19 lesen, dass just exakt 130 Jahr früher das damalige Reichspostministerium das “Amtliche Reichskursbuch” mit immerhin 1650 Seiten veröffentlichte. Verwunderlich auch, dass Flitner trotz seiner mitunter sehr instruktiven soziologischen Perspektive auf das moderne Eisenbahnwesen die immensen Kommerzialisierung der großen heutigen Bahnhöfe unterschlägt, wo doch das Bonmot “Bahnhöfe sind Kaufhäuser mit Gleisanschluss” sehr treffend geworden ist.

Aber wohlgemerkt: Die hier oben annotierten Punkten sollen in keiner Weise das exzellente Werk von Flitner schmälern und den Dank an den Verlag, diese großartige Publikation herausgegeben zu haben. Jedem Freund der Eisenbahn und auch jedem Kunstbefflissenen ist diese Buch sehr zu empfehlen, sei es lesend oder sich in die zahlreichen Abbildungen vertiefend. Sie/er wird seinen großen Gewinn daraus ziehen.

 Die Eisenbahn in der Kunst - Buch (gebunden) von Hugbert Flitner - Ellert & Richter Verlag G - 9783831907847

Hugbert Flitner: Die Eisenbahn in der Kunst. Ellert und Richter Verlag. 2020. 376 Seiten mit zahlreichen, meist farbigen Abbildungen. 24.95 Euro 

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