Liebe

Die Illusion der Romantik

14.09.2013 - Tahir Chaudhry

Mann und Frau flirten, daten und verlieben sich was das Zeug hält. Meist bleiben sie nur solange zusammen, bis sich die “blinde” Verliebtheitsphase von bis zu sechs Monaten zum Ende neigt. Aller Erfahrungen zu trotz, suchen sie die ewige Liebe, das passende Gegenstück, das Funkeln in den Augen und den Einzug in eine fremde Welt, die etwas Märchenhaftes, Rosarotes hat. Aber ist es wirklich Liebe oder nur eine trügerische Idealvorstellung davon?

Mit dem Konzept der romantischen Liebe wollen wir alles unter einen Hut bringen: prickelnde Leidenschaft, vertrauliche Geborgenheit und Harmonie. Und das am besten bis ans Lebensende. Von ihr erwarten wir das, was die Religion offenbar schon lange nicht mehr leisten kann. Trotz des ständigen Scheiterns bleiben wir hartnäckig und streben unbeirrt nach der einen großen Liebe. Die Erwartungen an die romantische Liebe sind enorm. Ihre Nichterfüllung ist das Produkt einer verhängnisvollen Affäre zwischen dem Geldhunger der Ökonomie und einem romantischen Liebesideal der Unterhaltungswelt.

 

Phänomen der Moderne

Dabei hat unser Konzept der romantischen Liebe rein gar nichts mit der Realität zu tun. Denn es wurde in den Romanen des 18. Jahrhunderts zum Zwecke der Unterhaltung erfunden. Der Idealvorstellung nach sollte ein Mensch, den wir lieben, all unsere Sehnsüchte und Träume erfüllen können. Ein einziges Wesen sollte das Übermenschliche leisten und Leidenschaft, Eros und Geborgenheit zugleich abdecken. In den Jahrhunderten zuvor gingen Menschen aufgrund des sozialen Status oder aus ökonomischen Interessen eine Partnerschaft für das Leben ein. Stattdessen brauchen heute Liebespartner einander nicht mehr zum Überleben. Daher stellen sich immer mehr Menschen die Frage - warum also bei jemandem verweilen, der nervige Angewohnheiten hat und sich immer wieder mit mir streitet? Doch die Sehnsucht nach ewiger Liebe besteht und auch das Bedürfnis nach Treue ist da. Je seltener die Treue wird, desto kostbarer wird sie. Nichtsdestotrotz nimmt die Lebensdauer der Beziehungen ständig ab. Mehr als jede dritte Ehe wird inzwischen in Deutschland geschieden und immer mehr Menschen möchten erst gar nicht heiraten. Heißt es, dass unsere Vernunft über unsere Emotionen gesiegt hat? Ist das Konzept des Lebensabschnittsgefährten für das kurzfristige Kuschelbedürfnis inzwischen einfach zeitgemäßer?

 

Nein, vielmehr zeigt dies sehr deutlich, wie ungeduldig und unruhig unsere Gesellschaft geworden ist. Denn der Gedanke einer permanenten Optimierung in der Partnerwahl tyrannisiert uns jederzeit. Und jedes Mal, wenn wir uns auf einen Partner festlegen, haben wir die Angst, ins falsche Regal gegriffen zu haben. Wir drehen uns um, damit wir einen zweiten Blick auf die gigantische Auswahl werfen können. Es entsteht ein Teufelskreis mit der Flucht aus einer Beziehung in die andere, die wir in der westlichen Neuzeit als “serielle Monogamie” titulieren. Das ist die Mentalität des Rosinenpickens unseres egoistischen Zeitalters, durch die wir in bestimmten Kulissen und emotional-aufgeladenen Momenten rasch in Versuchung gebracht werden können. Gemäß Eva Illouz, einer Kultursoziologin, ist ein Mechanismus der Ökonomie schuld an der Rastlosigkeit unserer Gesellschaft, denn “die westliche Literatur denkt Begehren immer nur vom Hindernis aus. Begehrt wird das Objekt, das eifersüchtig macht, das sich verweigert, das erobert werden muss. Und es sind immer die Männer, die begehren und die Frauen, die alles dafür tun müssen, begehrenswert zu erscheinen.”

 

Auch wenn wir schon lange durchschaut haben, dass die romantische Liebe auf Dauer nicht so ganz funktioniert, fasziniert sie uns nach wie vor. Aber da das Scheitern in der Liebe so naheliegend ist, haben wir uns daran gewöhnt, immer wieder neu zu scheitern. Sie ist wie ein Theater, das wir mit dem Wunsch betreten, uns an einem Bühnenspiel der Liebe zu ergötzen. Und dies so lange, bis die Lichter aus gehen und wir hinausgeworfen werden. Ihr Wirken ist ein Konsumverhalten geworden, ihr Wesen ist zu einem einzigen Schauspiel verkommen. Somit ist es für viele Liebende schwierig herauszufinden, welche Gefühle wirklich ehrlich gemeint sind. Daher verliert diese Art der Liebe gleichzeitig zum Bund der Ehe erheblich an Wert. Auch wenn die Ehe noch immer überwiegend in Kirchen vollzogen wird, stellt sie schon lange keinen religiösen Akt mehr da. Und sitzen die Ringe erst einmal an beiden Fingern, geht es mit der Liebe bergab. Was bleibt, sind nur Erinnerungen an eine Maskerade, bei der Mann und Frau für gewisse Zeit Prinz und Prinzessin spielen durften.

 

Drehbuchschreiber der Liebe

Heutzutage hat die Liebe einen solchen Stellenwert in unserer Gesellschaft eingenommen, den sie in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht hatte. Unsere neuzeitlichen kulturellen Erzeugnisse schäumen vor romantischer Liebe über. Sie machen die Begegnungen zwischen Männern und Frauen so kompliziert, wie nie zuvor. Die Ökonomie hat den Wert der “modernen” Romantik erkannt, die Gesellschaft jedoch nicht ihren Gehalt. Liebesromane und -ratgeber sind Bestseller und befeuern den Wettbewerb der Liebhaber und Romantiker. Sie eignen sich weniger als Anleitung, da sie die Ansprüche an sich selbst und den geliebten Partner ins Unermessliche steigern und meist nicht praktikabel sind. Singlebörsen und Datingagenturen boomen. Doch je einfacher es wird, einen Partner zu finden, umso schwerer wird es ihn zu behalten. 

 

Begleitend dazu schreibt uns auch die Musikindustrie das Drehbuch der Liebe vor. Zahlreiche Popsongs verarbeiten und generieren Liebeserfahrungen. Das die Liebe dem Konsum ganzheitlich unterworfen wurde, zeigt sich in Rapper Cro’s Wunsch: “Gib mir nur deine Hand, ich kauf dir Morgen die Welt.” Das die Liebe die sinnstiftende Funktion übernommen hat, trällert Frida Gold voller Stolz in: “Liebe ist meine Religion”, und dass sie damit der Religion ihren Rang abgelaufen hat, offenbart Bruno Mars mit: “There no religion that could save me!”, seinen Liebesschmerz ansprechend. Zu guter Letzt verweiblicht auch noch Rea Garvey sein Gottesbild: “I know there’?s a God above and she won't mind.”?

 

Kaum eine Vorabendserie im deutschen Fernsehen handelt nicht von der Liebe in all ihren Facetten. Zudem produziert die “qouten-geile” TV-Industrie massenhaft Kuppelshows für jedermann. Egal, ob hässliches Entlein, ein einsamer Bauer oder der attraktive Junggeselle, für jeden lässt sich wohl die Traumfrau finden. Zudem schaffen Filme Sehnsüchte und definieren die Albträume der Konsumenten. Fantasierte Taten zieren vollkommen überzeichnete Figuren, also Vorbilder, an denen wir unsere Partner messen. Es wird ganz genau bestimmt, welche Bilder wir im Kopf haben sollen, wenn wir über die Liebe nachdenken. Folglich entsteht eine fiktionale Imagewelt der partnerschaftlichen Liebe, die den Konsumenten an eine Erwartungshaltung gewöhnt, die im realen Leben nicht existent ist. Wo früher noch Liebesromane als federführend galten, ist es heute hauptsächlich Hollywood. Doch die Idee der modernen Romantik beschränkt sich nicht nur auf die westliche Welt, sondern wird aus dem amerikanischen Hollywood über das indische Bollywood bis ins nigerianische Nollywood transportiert. Weder säkulare, christliche noch islamische Gesellschaften können sich von dieser Einflussnahme auf ihre Gedankenwelt befreien. 

 

Fiktion der Autonomie

“Liebe ist die einzige Sklaverei, die als Vergnügen empfunden wird”, sagte der irischer Dramatiker George Bernard Shaw. Heute könnte man besser von einer Liebe sprechen, die schon längst auf dem Altar des Kapitalismus geopfert wurde. Sie hat sich bestimmte Rituale zu Eigen gemacht, die sicherlich mit religiösen Ritualen verglichen werden können. Einerseits wähnen sich die Menschen jenseits von Klischees, da sie sich als originell und kreativ betrachten, und zugleich wiederholen sie vorgegebene Muster der Konsumkultur. Jegliches Inszenierungsmittel wird eingekauft, um Situationen einzurichten, in denen das, was gefühlt werden soll, überhaupt gefühlt werden kann und letztendlich auch gefühlt wird. 

 

Die Akteure in der Darbietung stehen unter ständigem Druck möglichst attraktiv sein zu müssen. Entsprechende Gesundheits- und Kosmetikprodukte sollen dabei helfen, den Körper regelrecht aufzutunen. Um Leidenschaft aufrecht zu erhalten, muss für Kicks und Aufregung gesorgt werden. Um der Forderung nach Abenteuer, Überraschung, Geschwindigkeit und Erregung zu entsprechen, muss man über finanzielle Ressourcen verfügen. Wird dann ein Szenenwechsel für romantische Augenblicke nötig, winkt der äußerst lukrative Romantik-Tourismus mit passenden Angeboten. 

 

Durch die emotionale Aufladung von Alltagsgegenständen soll das “einzigartige” Gefühl entstehen. Intensiviert wird dieser besondere Augenblick durch die Auswahl spezieller Musik, von Speisen oder von besonderer Beleuchtung. Doch so wie in vielen Beziehungen mangelt es selbst einer Massenkultur an der nötigen Abwechslung. Denn die Zeit der Provokation ist vorbei. Dem Sexualforscher Peter Fiedler zufolge habe “die kontinuierliche Enttabuisierung von Sex seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, seine Allgegenwart in der Öffentlichkeit” dazu beigetragen, “dass den Menschen die Lust darauf offensichtlich mehr und mehr” vergehe. Dementsprechend sind auch die Ansprüche an der Erotik maßlos gestiegen und haben viele Menschen in extreme Perversionen abdriften lassen.

 

Einbeziehung der Vernunft

“Aber freilich wird durch theatralische Erfahrungen Glauben, Liebe und Hoffnung nicht vermehrt”, schrieb einst Goethe. Liebesbeziehungen sind dadurch gefährdet, aber nicht unmöglich. Ihre Form ist letztlich bedeutungslos, denn die Liebe “besitzt nicht, noch lässt sie sich besitzen”, schrieb der libanesische Dichter Khalil Gibran. Aus einer arrangierten Ehe in Neu Delhi kann eine große Liebe wachsen, eine Zweckehe in Nairobi ein Leben lang halten und eine Liebesheirat in Paris kläglich scheitern. Wenn wir wissen, was möglich ist, dann sehen wir Dinge gelassener. Wenn wir die Realität mit in die Liebe einbeziehen, nur dann kann sie Bestand haben.

 

Wahre Liebe entflammt sich nicht wie ein Strohfeuer, um binnen kurzer Zeit wieder zu ersticken. Sie muss authentisch sein, indem sie sich von Klischees und vorgegebenen Mustern losreißt. Sie muss sich beweisen und erfordert Hingabe, Geduld, Standhaftigkeit, Treue und Opferbereitschaft. Liebe steht jenseits von statischen Verfahren der Relation zwischen Investition und Rentabilität. Insofern müssen wir verstehen, dass beim Streben danach, selbst geliebt zu werden, das Liebe geben nicht außer Acht gelassen wird.

 

 

 

Foto ©: Thomas R. Stegelmann

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