Die Liebe braucht ein Gegenüber
01.05.2018 -Im antiken Griechenland war Eros die Liebe, die einem guten Geist gleich über einen Menschen kommt, die ihn ergreift, erfüllt und hinreißt. Während sich in der Jugend Eros als körperliche Anziehungskraft zwischen zwei Menschen zeigt, reift sie im Erwachsenwerden immer mehr zu einer Liebe zu allem was ist und lässt sich als erblühtes Menschsein beschreiben. In der Neuzeit glauben wir, dass Liebe willentlich erzeugt werden kann, aus mir selbst heraus, und verkennen damit das Du, an dem sich der Funken des Eros erst entzündet. Eine philosophische Betrachtung über die Liebe.
Ja! eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend, wenn er liebt, und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend Lämpchen brennt. (Friedrich Hölderlin)
Die Liebe ist kein Gegenstand der Ethik – zumindest nicht dessen, was heute an Hochschulen als philosophische Ethik unterrichtet wird. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Das Thema Liebe ist zwar in der Kultur des Abendlandes allgegenwärtig und wird von Poeten und Literaten in immer neuen Variationen zur Sprache gebracht, in den Schriften der Philosophen jedoch taucht es bestenfalls am Rande auf. Das gilt besonders für die neuzeitliche Ethik und für deren epochale Denker. In der Moralphilosophie Immanuel Kants etwa, der als führender Kopf der Philosophie der Aufklärung gilt, führt die Liebe ein Schattendasein. Und in der im angelsächsischen Sprachraum allgegenwärtigen utilitaristischen Ethik geht es wohl um das größtmögliche Glück für die größtmögliche Menge – das zu erlangen jedoch keine Sache der Liebe ist, sondern eines rationalen Kalküls. Wenn die neuzeitliche Ethik danach fragt, was man fürs gute Leben braucht, dann ist erstaunlich, wie selten sie bei ihren Antworten von Liebe spricht.
In der Antike war das anders. Vor allem bei den Griechen, namentlich bei Platon. In seinem Denken ist die Liebe nichts anderes als der Königsweg zu einem guten Leben. Wobei die Liebe, die er meint, den Namen Eros trägt. Das klar zu sehen, ist von großer Wichtigkeit. Denn dieser Name Eros verweist auf etwas, was der Mensch der Neuzeit meistens nicht im Sinn hat, wenn er von der Liebe spricht. Der Eros, dem Platon zwei seiner schönsten Dialoge – Symposium und Phaidros – widmete, galt den Griechen als ein Gott oder zumindest (so bei Platon) als ein guter Geist; auf jeden Fall als eine Wesenheit, die über einen Menschen kommt, die ihn ergreift, erfüllt und hinreißt – und die alles Leben dazu antreibt, die in ihm angelegten Potenziale zu entfalten: zu wachsen, zu reifen, zu erblühen, ganz dem eigenen Wesen zu entsprechen. Eros, so lässt sich die antike griechische Sicht der Liebe auf die Formel bringen, ist die Kraft des Lebens, mit der das Leben zu sich selber kommt – ganz lebendig wird; oder wie Platon sagte: die den Menschen dazu anhält, sich dem Göttlichen zu nähern.
Eines ist dabei entscheidend: Eros ist ein Geist, der weht, wo er und wann er will. Wir können ihn nicht zwingen und schon gar nicht selbst erzeugen. Er ist in jedem Fall Geschenk und niemals Menschenwerk. Die Liebe – wenn wir sie als Eros deuten – ist stets ein Widerfahrnis. Sie ist eine Begeisterung, die – so wie jede wirkliche Begeisterung – von einem Geist entfacht ist, der uns ganzheitlich mit Haut und Haar in Herz und Hirn erfüllt und uns dazu befähigt die zu werden, die zu sein, uns aufgetragen ist: erblühte, schöne, reife Menschen. Denn wenn der Mensch vom Eros erst ergriffen ist, dann lodert in ihm ein Feuer, das ihn von innen her erleuchtet und bewegt; dann waltet eine Energie in ihm, die ihn beherzt und kraftvoll durch sein Leben schreiten lässt.
Der Weg, den Eros einem Menschen dabei weist, ist stets der Weg zum anderen – zu dem Geliebten oder der Geliebten. Liebe, die wirklich Liebe ist, gilt immer einem Du, ist nie abstrakt. Das Du muss dabei nicht ein Mensch sein. In seinem Dialog Symposium lässt Platon eine weise Priesterin namens Diotima auftreten, die in einer als „Einweihung in die Mysterien des Eros“ betitelten Rede darlegt, dass Eros in der Menschenseele nach und nach erwachsen wird. Wohl sei es gut und göttlich, wenn ein junger Mensch in Liebesleidenschaft für einen schönen Leib entbrennt und sich mit ihm vereinen möchte; doch sei dies nur der erste Schritt im Lebensweg der Liebe.
Später weite sich der Horizont, der Eros wandle sich zur Freundschaft, er entdecke auch die Schönheit in Natur und Kunst, in Wissenschaft und in Kultur, zuletzt im Kosmos selbst. Je reifer Eros in uns werde, desto klarer reife in uns das Bewusstsein der Verbundenheit mit allem. Liebe, im Sinne des antiken Eros, ist bei näherer Betrachtung gar nichts anderes als die im Denken, Fühlen und Handeln entfaltete Wahrheit unseres Seins: Wer erotisch liebt, ist wahrhaft Mensch geworden, ein Wesen der Verbundenheit. Liebe ist erblühtes Menschsein. Menschsein erblüht in der Begegnung mit der bunten, mannigfaltigen Welt.
Wen der Eros ergreift, der ist von Liebe erfüllt. Und diese Liebe bewährt sich an der Fülle der Welt: der Menschen, der Tiere, der Pflanzen, der Dinge. Sie ist immer konkret und deshalb immer tätig. Liebe als Eros ist viel mehr als Mitgefühl, als Nächstenliebe oder Solidarität. Er ist gelebte Wirklichkeit, die immer die Begegnung sucht. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagte der Philosoph Martin Buber und brachte damit nicht allein zur Sprache, worin sich Eros bekundet, sondern auch, woran er sich nährt und entzündet: am Du unserer Begegnung.
Nun wird erkennbar, wie der Eros in des Menschen Leben tritt; und was wir dafür tun können, dass die Liebe in uns Raum greift. Machen oder herstellen können wir sie nicht, aber wir können uns auf die Welt einlassen, uns den Menschen und Dingen öffnen, empfänglich für sie sein. Wir können die Bereitschaft aufbringen, die Panzer und Schutzschilde unseres Egos abzulegen und unsere Selbstliebe fahren zu lassen. Wer nur um sich selbst kreist und meint, aus eigener Kraft sich und andere lieben zu können, wird nie erfahren, was Liebe wirklich ist. Denn die Liebe braucht den anderen oder die anderen. Sie zündet in der Begegnung, so wie beim Feuer machen nur dann ein Funken springt, wenn man zwei Steine aufeinander treffen lässt. So kommt es heraus, wenn wir im Anschluss an die alten Griechen die Liebe im Sinne des göttlichen Eros deuten. So kommt es aber nicht heraus, wenn wir die Liebe so denken, wie es sich der neuzeitliche Mensch angewöhnt hat: als Menschenwerk.
Denn ist es nicht so: Der Mensch von heute neigt dazu zu glauben, er könne Liebe machen? Nicht nur im Sinne der körperlichen Vereinung, sondern auch im Sinne des Sich-Verliebens. Er glaubt, es gebe Techniken, Methoden, spirituelle Übungen, die ihn treffsicher zu einem Liebenden machen: wenn er denn nur will. Dass Liebe willentlich erzeugt werden kann, wäre den alten Griechen niemals eingefallen. Dafür musste erst eine andere geistige Formation entstehen: das Christentum, genauer: die christliche Moralphilosophie, denn eben diese ist es, die seit Augustinus predigt, ein guter Christenmensch sei nur, wer willentlich die Werke der Nächstenliebe – lateinisch Caritas – verrichte. Hier liegt die Wurzel eines folgenschweren Missverständnisses, dass man als Moralisierung der Liebe beschreiben könnte: Mit der christlichen Moral wird die Liebe zu einer Sache unseres Wollens. Vom alten Eros bleibt dabei nichts übrig.
In der Moral des Christentums gerät Liebe zu einer Tugend. „Liebe – und tue was du willst“, sagte Augustinus – und das klingt gut. In Wahrheit ist es äußerst problematisch, weil die Engführung von Liebe und Wille verkennt, dass Liebe ein Widerfahrnis ist, dass aus der Begegnung erwächst. Die christliche Ethik macht sie zu einem Werk, dass wir selbst machen können. Dieser Schritt war verhängnisvoll, denn er bereitete dem neuzeitlichen Denken den Weg, dass glaubt, wir könnten stolz darauf sein, Liebende zu sein. Denn wo der antike Grieche Dankbarkeit verspürte, sonnt sich der moralisch Liebende im Wohlgefühl, ein guter Mensch zu sein. Und das ist gerade dort der Fall, wo das Christentum längst in Vergessenheit geriet, aber die an seine Stelle getretenen spirituellen Schulen weiterhin predigen, der Mensch sei aufgerufen, sich zum Liebenden zu machen. Was dabei herauskommt, ist fast immer eine Selbstliebe, die nicht mehr in der Lage ist, den anderen als ihrem Du zu begegnen.
Die philosophische Ethik der Neuzeit war an diesem Punkt zurückhaltender. Wohl machte auch sie den Willen zu ihrem Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die moralische Integrität eines Menschen erweise. So lehrte Kant, es gebe nichts in der Welt, was „gut“ geheißen werden könne, als allein ein guter Wille. Doch die Meisterdenker des Abendlandes erlagen nicht der Versuchung, die Liebe zu einer Sache des Willens zu machen. Der Wille sollte den Geboten der Vernunft folgen – aber nicht in die Liebe fallen. Letzteres überließ man den Dichtern und Poeten. Und das war wohl auch ganz gut so. Es ist also kein Makel, dass die Liebe in der neuzeitlichen abendländischen Ethik nicht auftaucht. Es ist die konsequente Folge daraus, dass diese Ethik um den Willen kreist – und eben nicht um den Eros.
Letzteres freilich darf, ja sollte man, bedauerlich finden. Denn wenn es stimmt, dass die erotische Liebe (also die Liebe im Sinne des antiken Eros) uns Menschen beflügelt, in die Wahrheit unseres Seins zu finden und unsere Menschlichkeits- oder auch Lebendigkeitspotenziale zu entfalten, dann ist der Verlust des Eros ein zu hoher Preis für die Inthronisation des wollenden Egos; dann sollten wir ernstlich darüber nachdenken, ob es nicht an der Zeit ist, dem alten Eros neuerlich die Ehre zu erweisen und eine philosophische Lebenskunst der Liebe zu entwerfen, die das wollende Ich vom Thron stößt und ihren Fokus neuerlich in der Begegnung mit einem anderen, vielleicht sogar fremden Du erkennt. Die Signaturen einer solchen Lebenskunst wären die Ethik eines Abendlandes, dass endlich zu sich selbst gekommen ist: als die Kultur der Liebe.