Islam-Debatte

Die Mär vom rückständigen Islam

01.12.2019 - Mohammad Saboor Nadeem

Anlass für diesen Kommentar ist eine Veranstaltung in Hamburg über die politische Situation von (bedrohten) Minderheiten im Nahen Osten, die hier als ein sehr anschauliches Beispiel für viele Vorträge über die muslimische Welt dienen soll, zu denen ich als Islamwissenschaftler bundesweit eingeladen werde und die ich regelmäßig besuche. An jenem Abend hatte die evangelische Nordkirche, Hauptveranstalterin, Kamal Sido, Leiter des Nahost-Referats der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ extra aus Göttingen, eingeladen. Schon am Anfang seines Vortrages betitelte er sich selber als betroffener und zeigte im Laufe seines fast einstündigen Vortrags Folien mit Einwohner- und Prozentzahlen zu den Bevölkerungsgruppen von Ägypten bis Iran, seine Quelle Wikipedia. So weit so gut.

Doch die Veränderungen, also Zu- oder Abnahmen, in den Zahlen über mehrere Zeiträume fehlten. Vielleicht auch deshalb blieben eine ausführliche Analyse und Diskussion dem Publikum verwehrt. Eher das Gegenteil war der Fall, denn der Referent bemühte sich, dem Publikum sehr emotional und wenig sachlich zu erklären, dass der Islam doch die Ursache für das Leid und die Probleme im Nahen Osten sei. Ohne näher zu definieren, benutzte der Referent Begriffe wie Islam und Islamismus, Religion und Kultur oft synonym und hintereinander weg. Nicht nur, dass er Konzepte und Begriffe, die unterschiedliches meinen, in den Raum warf, er holte im Verlauf seines Vortrags auch noch ganz schön weit aus, fast schon verschwörerisch sprach er von „Erdogans Männern“ die Minderheiten ermordeten und leitete damit über zur Bundeskanzlerin „Frau Merkel“, die das von ihrem Büro in Berlin aus „mitverantworten“ würde. Zum Ende erklärte er uns, dem anwesenden Publikum, das aus hauptsächlich gebildeten und interessierten Bürgern bestand, dass er davon wüsste, dass er von Konferenzen auf Bundesebene ausgeladen würde, weil er die Wahrheit sage, aber auch, dass die (Staats-)Minister im Auswärtigen Amt ihn generell anlügen würden, wenn sie ihm erzählen, dass sie die Situation der Minderheiten im Nahen Osten (besser) kennen und ebenfalls um diese besorgt sind.

Ich war sehr erstaunt darüber, dass dieser Referent für solch eine Art des Vortrags auch noch heftigen Beifall erntet. Die Situation der Minderheiten schien am Ende fast vergessen, in den Nachgesprächen wurde deutlich, dass „Merkel“ und „der Islam“ in aller Munde waren.

Daran wird meiner Meinung nach ein tiefsitzendes gesellschaftliches Problem deutlich. Ein vernünftiger Diskurs nach Michel Foucault entsteht nämlich nur dann, wenn bestehende Paradigmen hinterfragt und ordentlich analysiert werden (können). Solche Vorträge aber, die bundesweit von vielen etablierten Institutionen wie in diesem Fall von der Nordkirche veranstaltet werden, bieten aber leider viel zu oft keine guten Einblicke in die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse, die an den Hochschulen und Denkfabriken (fort)geführt und hinterfragt werden. Das führt unweigerlich aber schleichend auch dazu, dass steile Thesen, die sich verschwörungstheoretischer Argumentationsmustern bedienen, auch vom gebildeten Publikum toleriert werden. So dass vernünftige Einwände wie, dass nicht unbedingt die Bundesregierung oder „der Islam“ direkt an den Problemen im Nahen Osten, sondern im Gegenteil das Hinterfragen der emotionalen und unvernünftigen Art der Selbstviktimisierung und verschwörungstheoretischer Argumentationsmuster, vom Publikum teilweise ignorant belächtet wird.

Es sind nämlich eben diese fachlich und sachlich falschen Auffassungen, die am Ende durch solche wiederholten Eindrücke, wie die eines rückschrittlichen oder monolithischen Islams, die dem Publikum noch lange im Gedächtnis bleiben. Dies ist fatal und auch aus wissenschaftlicher Sicht unverantwortlich, weil diese Paradigmen weder den Diskurs befruchten, noch konkrete Lösungen für komplexe Probleme bieten.
Die Bitte des Referenten an jenem Abend war, dass die Mehrheitsgesellschaft die Muslime hier in Deutschland öffentlich anklagen und fragen solle, warum sie sich nicht reformierten, damit das Elend im Nahen Osten aufhöre. Vermeintliche Authentizität verleihe er dieser Aussage, indem er sagte, da er aus Erfahrung wisse, wovon er spreche. Doch diese merkwürdige Erkenntnis bleibt dem Publikum schlussendlich verwehrt.

Dies erinnerte schon stark an die Tradition der europäischen Orientalisten der ersten und zweiten Generation, wie z.B. an die Rede von Ernest Renan 1883 an der Sorbonne zum Thema „Islam und Wissenschaft“. Der moderne Nahost-Diskurs aber sollte sich auf gar keinen Fall an dem öffentlichen Diskurs in Europa des 18. und 19. Jahrhunderts über den Islam bedienen, sondern sollte im Kontext eines längst globalisierten Nahen Osten eben diese veralteten Muster stark in Frage stellen. Dabei ergibt sich dann auch zurecht die Frage, ob es berechtigt ist, wenn Islam- und Nahostwissenschaftler ihren muslimischen Fachkollegen auch einmal unterstellen, nicht objektiv genug zu sein, um einen Diskurs auf Augenhöhe führen zu können.

Die Nahost-, Politik- und Sozialwissenschaften haben längst kluge Deutungs- und Erklärungsmuster, die das Zusammenspiel politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren beschreiben, für die komplexen Probleme im Nahen Osten entwickelt und oft genug vorgetragen.

Nicht nur, dass Renten durch Öl-Exporte bestimmte Gesellschaftsverträge und -formen und die Wirtschaft im Nahen Osten Mitte des letzten Jahrhunderts geprägt bzw. gefestigt haben; aber auch die globalisierten Gesellschaften im Nahen Osten, die eben diese veralteten Strukturen in ihren Gesellschaften, mit all ihren korrupten Bestandteilen, nicht mehr ertragen können und es deshalb schon zu mehreren Revolutionsversuchen gekommen ist, ausgelöst z.B. durch frustrierte und gescholtene Langzeitarbeitslose, die mit drastischen Maßnahmen auf ihre Situation aufmerksam gemacht haben; und die vereinzelten Militärputschs, durch Generäle die eher dem Laizismus zugeneigt sind, können weder aus akademischer noch aus logischer Sicht generalisierend mit dem Islam als Ursache für die komplexen Probleme erklärt werden, sondern müssen in den Erklärungen und Analysen über den Nahen Osten häufiger und stärker bedacht werden.

Kein vernünftiger Wissenschaftler sollte behaupten, dass der Islam schuld an der Misere oder Rückschrittlichkeit des Nahen Osten sei. Denn der Islam ist schlichtweg kein sozialer Akteur, auch wenn er leider viel zu oft als solcher beschrieben wird.

Natürlich bin ich mir bewusst, dass gewisse Erklärungsversuche in einem Land von historischen und politischen Faktoren geprägt sind. Und genau darum geht es mir, eben diese zu hinterfragen. Ich habe den Eindruck es geistern immer noch viel zu oft altkluge Ansichten in den Köpfen herum, sogar einiger Professoren. Wenn es z.B. um die Moderne geht, so begegnen einem aufmerksamen Leser viel zu oft Verweise in wissenschaftlichen Artikeln über den Nahen Osten auf Definitionen und Erklärungsversuche von Émile Durkheim, oder auf die protestantische Arbeitsmoral klassisch nach Max Weber, der auch im Islam, z.B. in häufigen Unterbrechungen durch das fünfmalige Pflichtgebet, die Ursache dafür sieht, warum muslimische Arbeiter weniger produktiv seien und stellt ihnen die protestantischen Arbeiter als bessere gegenüber. Mit solchen Modellen mögen jene Gelehrten das Europa, die Gesellschaft und die Moderne ihrer Zeit versucht haben, zu begreifen oder gar zu erklären, sie passen aber nicht mehr als Erklärungsversuch für zeitgenössische Phänomene. Sie tragen nicht zu einem sachlichen Diskurs bei, ganz im Gegenteil befeuern sie eher islamophobe Debatten und dienen als Schablonen, derer sich auch Rechtspopulisten sehr erfolgreich bedienen, obwohl die Fachwelt mit ihren Erklärungen deutlich weiter ist.

Wir sind, wenn es um den Nahen Osten oder den Islam geht, so sehr emotional von Denkmustern aus vergangenen Jahrhunderten voreingenommen, dass sachliche Debatten im öffentlichen Raum schwer möglich sind bzw. auch durch das Einladen fragwürdiger Experten zu Vortragsreihen kaum möglich gemacht werden. Ich sehe aber eben die bürgerlichen Institutionen, wie in diesem Beispiel die evangelische Nordkirche, bei diesem Thema auch deshalb in einer gesellschaftspolitischen Mitverantwortung, weil sie über eigene Ressourcen und Netzwerke, Fachreferate und gut ausgebildete Akademiker verfügen, von denen ich erwarte, dass sie von den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen Ahnung haben und die Auswahl ihrer Gäste bedacht vornehmen.

Hierbei sollte es auch um Fragen gehen, wie viel öffentliche Gelder in die Arbeit solcher Experten und Veranstaltungen fließen und wie sehr sie dem öffentlichen Interesse tatsächlich dienen bzw. ob sie den öffentlichen Diskurs tatsächlich fördern? Denn der Sinn und die Ernsthaftigkeit solcher Abendveranstaltungen, aber auch die Integrität und Autorität solcher Redner, sollte am Ende des Tages zum Schutze einer offenen und freiheitlich-demokratischen Gesellschaft von jedem aufmerksamen Publikum hinterfragt werden, bevor es Beifall klatscht.

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